ONF reagiert auf soziale Probleme
Mitte September 2013 begann eine Gruppe von Müttern aus Wolgograd und Umgebung, deren Kinder mit Behinderungen leben, einen Hungerstreik als Protest gegen die Behörden der Stadt, die anscheinend nicht in der Lage waren, eine Antwort auf die Wut und die Verzweiflung der Mütter zu finden. Rund zwei Wochen später schloss sich eine Gruppe von Müttern kinderreicher Familien dem Protest an, so dass sich nun 39 Personen im Hungerstreik befanden. Die extremen Mittel der Gruppe zur Erlangung öffentlicher Aufmerksamkeit für ihre Probleme wurden durch die Forderung der Kremlpartei »Einiges Russland« nach einem Rücktritt des Wolgograder Gouverneurs Sergej Boshenow kanalisiert. Rund eine Woche nach der Ausweitung des Hungerstreiks informierte der Sender »Fünfter Kanal« in einer Meldung mit der Überschrift »Sozialer Hunger«, dass es gelungen sei, den Hungerstreik zu unterbrechen; allerdings wurde auch gesagt, dass »weitere Entscheidungen getroffen werden müssten, um die Situation zu bereinigen«. Über das Anliegen der Mütter wurde ausführlich berichtet, wobei auch erwähnt wurde, dass Tausende kinderreicher Familien in der Region die Protestierenden unterstützen würden. Die Schuld wurde eindeutig bei den Behörden vor Ort gesehen, die es nicht vermocht hatten, föderale Gesetze zu befolgen. Es wurde berichtet, dass die Allrussische Volksfront (ONF) die Instanz sei, die zur vorläufigen Lösung beigetragen habe. Sie habe »bereits bei ihrem Treffen im März ein föderales System zur Rehabilitierung behinderter Kinder gefordert«.
Erzeugung autoritärer Legitimität
Die Ereignisse in Wolgograd und die Art und Weise, in der die breitere Öffentlichkeit darüber informiert wurde, ist ein greifbares Beispiel für hybride Regierungsführung. Während hinsichtlich autoritärer Herrschaft und Demokratie weltweit alle Gemeinwesen in einem gewissen Maße hybrid sind, stellt Russland unter Putin einen paradigmatischen Fall für diese Art Hybridität dar. In Putins Herrschaftssystem wird im Grunde versucht, autoritäre Legitimität mit Hilfe von demokratisch verbrämten Institutionen und verstecktem Zwang zu erreichen, und nicht durch offene Repression. Dieses Prinzip bringt das Dilemma mit sich, dass demokratische Institutionen (zum Beispiel Wahlen, halbfreie Medien, Bürgerrechte, ein selektives Recht auf Demonstrationen) neben ihrem Legitimierungspotential auch ein ständiges »demokratisches Risiko« für das autoritäre Regime bedeuten. Die massiven Proteste nach den Parlamentswahlen im Dezember 2011 sind ein plastisches Beispiel für diese Risiken. Im Falle Russlands ist eine der entscheidenden Fragen, wie die politischen Prozesse gestaltet werden, mit denen der Kreml dieses Dilemma zu lösen sucht. Nikolaj Petrow, Maria Lipman und Henry Hale zufolge (s. Lesetipps) bestanden hierbei die zentralen Mittel des Kreml in der Tendenz, »die formalen Institutionen auszuhöhlen, […] ›Substitute‹ einzuführen und die zunehmende Kontrolle – selbst bei Entscheidungen von anscheinend geringer Bedeutung – immer stärker zu zentralisieren und zu personalisieren, und zwar in der Hand und der Person des obersten Anführers«. Gleichzeitig sollten diese Prozesse nicht zu repressiv geraten, da sie bei den Bürgern sonst Unzufriedenheit auslösen können. So gesehen demonstriert die eklatante und intensive antiwestliche Propaganda während der Ukraine-Krise seit 2014 einen mehr oder weniger »klassischen Trick« eines autoritären Führers, der sich zunehmenden inneren Problemen und schwindender Unterstützung gegenüber gestellt sieht und die öffentliche Aufmerksamkeit auf externe Bedrohungen lenkt. Betrachtet man, wie sich die Unterstützung für Putin im Laufe des Jahres 2014 erholt hat, war dieses Manöver erfolgreich. Der folgende kurze Überblick über die Position der ONF als arrangierte unabhängige Volksbewegung illustriert jedoch, dass Putins Russland trotz der repressiven, autoritären Tendenzen, keine diskursive Hegemonie über die Gesellschaft ausübt.
Putins Vision der Volksfront
Am 6. Mai 2011 verkündet Wladimir Putin, Ministerpräsident Russlands und Anführer – wenn auch nicht Mitglied – von »Einiges Russland«, die Idee zur Gründung einer Volksfront im Umfeld der Partei. Die Ankündigung erfolgte in Wolgograd, wo »Einiges Russland« eine interregionale Konferenz abhielt, und zwar, so Putin, nicht zufällig in Wolgograd: »Wie hätten wir ohne Stalingrad siegen können?« Neben der patriotischen Symbolik der Kampagne wurde die Idee einer Volksfront mit den bevorstehenden Dumawahlen im Dezember 2011 verbunden. Aus Sicht des Kreml erfolgte im Januar 2011 im bestehenden pseudo-parlamentarischen System eine beunruhigende Veränderung, als die Umfragewerte von »Einiges Russland« innerhalb eines Monats auf 35 Prozent fielen; im Dezember 2010 hatten sie noch bei 45 Prozent gelegen. Mit Blick hierauf war es Putins Ziel, bei den bevorstehenden Wahlen durch Gründung der Volksfront einen eindeutigen Sieg für die Partei [»Einiges Russland«] sicherzustellen. Laut Putin sollten »auch Nichtmitglieder, Mitglieder von Gewerkschaften, Frauenorganisationen, Jugendbewegungen und anderen gesellschaftlicher Organisationen sowie engagierte und nicht gleichgültige Bürger zu den Kandidaten der Partei gehören«. Als politische Vision griffen Putins Ansichten jene Ideen wieder auf, die der Kreml bereits 2005 bei der Umsetzung regierungsfreundlicher zivilgesellschaftlicher Initiativen wie der Gesellschaftskammer oder der Jugendbewegung »Naschi« präsentiert hatte; diese Initiativen sollten scheinbar progressive Bürger in eine Linie mit dem Staat bringen. Insgesamt spiegelt Putins Vision von einer Volksfront innerhalb der herrschenden Partei eine generelle Sorge der Machthaber in hybriden Systemen wider, nämlich das ständige Bedürfnis, die Unterstützung in der Bevölkerung für das Regime zu maximieren, mit dem Ziel die hegemoniale Machtposition sicherzustellen, ohne dabei die Fassade von politischem Wettbewerb (also von Demokratie) aufgeben zu müssen.
Parallel zur Legitimitätskrise von »Einiges Russland« nach den Dezemberwahlen 2011 war auch das Image der ONF in der Öffentlichkeit miserabel. Das erste Jubiläum der Volksfront im Mai 2012 geriet zu einem Fiasko, als nur einige Hundert statt der erwarteten Zehntausenden Teilnehmern kamen. Der zweite Jahrestag der Volksfront im Mai 2013 brachte keine merklichen Veränderungen, auch wenn Putin zum Anführer der ONF gewählt wurde. Einer Umfrage des Lewada-Zentrums zufolge schätzten im Juli 2013 nur 26 Prozent der Befragten die Ideen der ONF als »frisch« ein (33 Prozent waren der entgegengesetzten Ansicht, und 38 Prozent wollten oder konnten nicht antworten).
Von der Interaktion mit dem Volk zur personalisierten Kontrolle
Am 6. Mai 2013 verkündete die ONF über RIA Nowosti, dass »die ONF aus Anlass des [zweiten] Jubiläums eine neue Website zur Diskussion mit den Bürgern schalten« werde (<http://onf.ru>). Andrej Botscharow, einem Mitglied der Volksfront zufolge, »wird die Front mit der neuen Website zu einem offenen und direkten Kanal zwischen Volk und Präsidenten werden« (ebenfalls auf RIA Nowosti). Auf der Website wurde im Juni 2013 ein sichtbarer Appell platziert, zusammen mit einem Aufruf, einen »Brief an die Front« zu schreiben, »über Themen aus ihrer Region« (s. Abb. 1 auf S. 5), was eine Art umgedrehte Anspielung auf ein bekanntes Phänomen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges war. Zusätzlich bot die Website in jener Zeit eine Plattform für Videogrüße an die Front, einen Aufruf, Themen zur Diskussion vorzuschlagen, und eine Umfrage, die die Besucher aufforderte, ihre Meinung zu Tätigkeiten zu äußern, die die ONF idealerweise angehen solle. Bis zum Mai 2014 hat es diese Elemente einer mehr oder weniger direkten Interaktion gegeben, doch bereits im Oktober 2014 waren sie wieder entfernt worden.
Wie es aussieht, hat die Volksfront in der zweiten Jahreshälfte 2014 Abstand von dem Versuch einer offenen Interaktion mit den Bürgern genommen und dies durch einen Mix ersetzt, bei der die von der ONF vorgenommene soziale Steuerung gewissermaßen »den wahren Willen von Volkes und Präsidenten« demonstrieren soll. Dieser Wandel ist ein konkreter Beleg für die These von Petrow, Lipman und Hale über die politische Tendenz »die zunehmende Kontrolle […] immer stärker zu zentralisieren und zu personalisieren, in der Hand und Person des obersten Anführers« (s. Abb. 2 auf S. 6). Während in Abbildung 1 Putin nicht in Erscheinung tritt, ist dessen Präsenz in Abbildung 2 nicht zu übersehen.
Absorption von Oppositionsdiskursen
Andererseits weist das am aktivsten betrieben Projekt der ONF, die Antikorruptionskampagne »Für faire [öffentliche] Anschaffungen« (ein Bericht hierzu ist in der Mitte von Abbildung 2 zu sehen) erstaunliche Übereinstimmungen mit dem Diskurs der Opposition über Korruption auf. Bemerkenswert ist auch, dass die ONF die Korruption in den staatlichen Unternehmen nicht leugnet, sondern – wichtiger noch – deren Existenz in einer Weise eingesteht, die mit der von der Opposition vorgetragenen übereinstimmt. Ebenso hält die ONF paradoxerweise ein für das Regime höchst akutes und diffiziles Risiko, nämlich das Problem der Korruption in den Eliten, in der öffentlichen Wahrnehmung aufrecht
Angesichts ihrer reaktiven Haltung gegenüber den vom Regime unabhängigen politischen Diskursen hat die ONF merkliche Schwierigkeiten, eine politische Initiative zu entwickeln, die die Diskurse außerhalb ihrer Kontrolle angehen könnten. So brachte das halb-unabhängige Portal »Gazeta.ru« im Dezember die Meldung, dass die jüngsten Gesetze zur Erhöhung der Transparenz bei öffentlichen Anschaffungen ineffizient seien. Deshalb seien dem Staat durch dubiose Anschaffungen Schäden entstanden, die im Laufe des Jahres 2014 auf 278 Millionen Rubel angewachsen seien. Am selben Tag, wenige Stunden vor der Meldung von »Gazeta.ru« veröffentlichte die ONF auf ihrer Website einen Bericht, dem zufolge »hinsichtlich der Verbesserung der Transparenz bei öffentlichen Anschaffungen es nicht hinnehmbar ist, dass Auftraggeber ›ihre eigenen‹ Lieferanten bevorzugen« (die Umstände legen nahe, dass die ONF über den bevorstehenden Bericht auf »Gazeta.ru« im Bilde war). Somit stimmte die ONF offen in diese Kritik ein, anstatt irgendeine Form von Kritik oder Verteidigung gegen die Sichtweise von Gazeta.ru vorzubringen. Darüber hinaus hatte im März 2014 Alexander Bretschalow, ein Vertreter der ONF, diese Gesetze kritisiert, indem er deren offensichtliche Wirkungslosigkeit prognostizierte. Jetzt, wo sich seine Prognose als richtig herausgestellt hat, bezieht sich die ONF nicht auf Bretschalows frühere Einschätzungen, sondern schließt sich einfach der Kritik von Gazeta.ru an. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der Grund hierfür in dem Umstand zu sehen, dass der Anführer der Volksfront, der Präsident Russlands, derjenige ist, der als letzte Instanz die Gesetze unterzeichnet (auch die, um die es hier ging).
Schlussfolgerung
In einer Zeit, in der in Russland die Aussichten für die Zivilgesellschaft und für demokratische Freiheiten schwinden, stellt die ONF als zentrale gesellschaftliche Organisation keine im Trend liegende explizit autoritäre Alternative dar. Es ließe sich im Gegenteil argumentieren, dass insofern, als der Kreml zur Legitimierung seiner Herrschaft eine demokratische Fassade aufrecht erhält, die ONF verdeutlicht, dass der Umgang mit Oppositionsthemen oder Fragen, die letztlich für das Regime riskant werden können, als weniger belastend betrachtet werden, als ein systematischer Übergang zu autoritärer Repression. Gleichzeitig demonstriert allein die Existenz eines Gebildes wie der ONF, dass das Regime weiterhin daran glaubt, dass eine Investition in solche, auf den Kampf um den politischen Diskurs ausgerichtete Strukturen sinnvoll ist. Die ONF kann als eine ad hoc gebildete Struktur bezeichnet werden, die die Modernisierungsinitiative des Regimes in Russland aufrechterhalten sollte. In Bezug auf das drängende Problem der Korruption kommt eine Leugnung dieses Problem nicht in Frage, wenn politische Legitimität gewonnen werden soll. Daraus folgt, dass für die ONF der einzige Weg darin besteht, als jemand dazustehen, der Kritik von Seiten der Bürger oder der Opposition schnell aufgreift. Das ist wohl kaum die ursprüngliche Idee bei der Gründung der Volksfront gewesen. Wenn es unter den gegenwärtigen Bedingungen in Russland irgendeine Aussicht auf weitere Demokratisierung gibt, dann kann die in dem Dilemma gefunden werden, das sich das Regime durch die demokratische Fassade selbst geschaffen hat.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder