Einleitung
Im Schatten der Ukraine-Krise und gesetzgeberischer Entscheidungen in Moskau, die den gemeinwohlorientierten Sektor in Russland zunehmend auf die Formel »Sozial vs. politisch« bringen, wird im Westen wieder viel über die Rolle und die Entwicklungspotenziale der russischen Zivilgesellschaft diskutiert. Nach dem Agentengesetz von 2012 wurden erst im vergangenen Jahr neuerliche Regelungen verabschiedet, die der Unterscheidung von »sozial orientierten« und »politischen« Organisationen dienen sowie die Feststellung von »Agententätigkeiten« erleichtern sollen. All dies kann als Versuch der Differenzierung zwischen einer »guten« und einer »schlechten« Zivilgesellschaft interpretiert werden. Für manche Beobachter der aktuellen Entwicklungen ist es deshalb naheliegend, dass Initiativen und Organisationen im Umfeld der Oppositionsbewegung unterstützt werden müssen. Fragt man Vertreter von Organisationen, die vor Ort karitative Arbeit leisten oder anderweitig zur Lösung sozialer Probleme beitragen, wie ihnen geholfen werden kann, erschließen sich jedoch durchaus alternative Strategien (die auch von sachkundigen Kennern der russischen Zivilgesellschaft vorgebracht werden). Diese Strategien setzen im Grundsatz darauf, entlang der Unterscheidung zwischen (sozialen) Dienstleistungsorganisationen und im weiteren Sinne politischen Akteuren die professionellen Handlungskapazitäten der ersteren zu erhöhen.
Zivilgesellschaft und Dritter Sektor in Russland
Die Begriffe Zivilgesellschaft und Dritter Sektor werden oft synonym verwendet, obwohl sie zwei unterschiedliche Facetten bürgerschaftlicher Selbstorganisation und zwei organisationale Handlungsorientierungen beschreiben: Das Konzept des Dritten Sektors im Sinne sozialer Dienstleistungserstellung fokussiert auf nicht-staatliche und nicht-marktorientierte (Non-Profit-) Organisationen, die mit sozialen und karitativen Diensten zum Gemeinwohl beitragen, ohne primär auf wirtschaftliche Erträge ausgerichtet zu sein. Der Terminus Zivilgesellschaft verweist hingegen stärker auf ein politisches Verständnis, das die Rechte und die Möglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger – individuell, aber auch in organisierter Form – betont, sich für ihr Gemeinwesen und ihre Interessen und Werte zu engagieren. Dieser Handlungstypus von »Non-Governmental Organisations« (NGOs) kann in allererster Linie von staatlichen Hierarchien abgegrenzt werden.
Die beiden Konzepte verweisen auf die Pole eines idealtypischen Kontinuums, zwischen denen sich gemeinwohlorientierte Organisation ausbildet. Während der Dritte Sektor »systemfunktional« auf die Sektor-Koordinaten zwischen Staat, Markt und Familie verweist, bezieht sich das Zivilgesellschaftskonzept – eher handlungs- und interaktionsorientiert – auf Fragen der Selbstorganisation, Mitbestimmung und Themenanwaltschaft. Dabei stehen die beiden Deutungsweisen nicht in Konflikt zueinander, sondern betonen das jeweils prägende Leitbild im öffentlichen Diskurs. Einzelne Organisationen entsprechen deshalb in der Regel nicht ausschließlich einem Typus, sondern kombinieren in ihren Handlungsweisen und Satzungszielen Elemente beider Konzepte in unterschiedlichen Mischungen. Zum Zwecke der Komplexitätsreduktion können sie jedoch dem einen oder anderen handlungsleitenden Prinzip zugeordnet werden.
Wir nutzen diese Differenzierung, um eine analytische Schneise durch die Größe und Heterogenität der Zivilgesellschaft und des Dritten Sektors in Russland zu schlagen. Wir nehmen also an, dass ein großer Teil gemeinwohlorientierter Organisationen in Russland dadurch gefasst werden kann, dass zwischen zwei Organisationstypen unterschieden wird:
Organisationen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie soziale Dienstleistungen z. B. in der Altenhilfe, Armenfürsorge oder Suchtprävention erbringen, die alternativ von wohlfahrtsstaatlichen Institutionen, marktförmigen Unternehmungen und auch informell von Privatpersonen bereitgestellt werden (s. Anheier: Nonprofit Organizations… in den Lesetipps).Organisationen, die im weiteren Sinne als politisch bezeichnet werden können, da sie sich in der öffentlichen Debatte und in konkreten Entscheidungsfindungsprozessen entweder direkt für bestimmte Anliegen, Interessen, soziale Gruppen usw. einsetzen oder indirekt auf eine Veränderung von Problemwahrnehmungen und -deutungen hinwirken, indem sie öffentliche Räume für den gemeinschaftlichen Vollzug von Lebensstilen und das Ausleben von persönlichen Neigungen, Überzeugungen und Weltanschauungen – d. h. letztlich Voraussetzungen für die Akkumulation von sozialem und kulturellem Kapital – schaffen. Solche Organisationen verhelfen einem Zivilgesellschafts-Verständnis zu seinem Recht, dem es darum geht, politisch-öffentliche Interaktion für das Private zu öffnen (s. Offe: Civil society and social order…. in den Lesetipps).
In Russland hat sich über die vergangenen zwei Jahrzehnte ein breites Spektrum von Organisationen herausgebildet, die sich mit den unterschiedlichsten Fragen des Gemeinwohls beschäftigen. Im Gegensatz zu den primär sozial und karitativ tätigen Organisationen des Dritten Sektors, die von Staatsseite mittlerweile wohlwollend gefördert werden, haben es genuin zivilgesellschaftliche Akteure aufgrund von historisch-kulturellen Mustern (insbesondere als Folge der Sowjetzeit) wie auch der aktuellen politischen Großwetterlage schwer, sich zu behaupten. Beobachter im Westen stellen sich deshalb die Frage, wie die russische Zivilgesellschaft gefördert werden kann, ohne die sozialen und politischen Gegebenheiten im Land zu ignorieren und eine normativ aufgeladene (westliche) Vorstellung von Gemeinsinn und Zivilgesellschaft importieren zu wollen.
Es wäre zu kurz gegriffen, angesichts der Probleme mancher Organisationen auf die Notwendigkeit der Unterstützung ausschließlich politisch aktiver Organisationen etwa im Umfeld der Oppositionsbewegung oder im gewerkschaftlichen Bereich zu schließen. Der Erfolg, den man sich von solchen Strategien versprechen könnte, wäre unsicher, in jedem Fall schwer messbar, höchstwahrscheinlich auch mit Risiken verbunden. Die Alternative wäre eine langfristig angelegte Unterstützung sektoraler Infrastrukturen im Sinne eines umfassenden Capacity Buildings, das sich über die Unterstützung etablierter Dienstleistungsstrukturen hinaus indirekt auch zivilgesellschaftlich (d. h. im Sinne der Fortentwicklung von öffentlichen Freiräumen für bürgerschaftliche Selbstorganisation und einer spezifisch-russischen Gemeinwohlkultur) auszahlen kann. Diesen Schluss legt unsere Studie auf der Grundlage von zehn leitfadengestützten Interviews nahe, die wir im vergangenen Jahr (2014) mit ausgewiesenen Experten aus Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), karitativen Trägern und Forschern – größtenteils aus Moskau und/oder mit einem entsprechend großstädtischen und »politischen« Blick – zur Zivilgesellschaft und dem Dritten Sektor in Russland geführt haben (s. Kehl, Kummer, Then: Wahrnehmungen zivilgesellschaftlicher Strukturen… in den Lesetipps).
Die Schwäche gesellschaftlichen Engagements
In der Wahrnehmung von Stakeholdern der russischen Zivilgesellschaft – d. h. Akteuren, die als Vertreter von Stiftungen, NGOs und karitativen Organisationen ein Interesse an der russischen Zivilgesellschaft haben und/oder als sachkundige Experten Auskunft über Wahrnehmungen im Feld geben können – gilt es als unumstößliche Tatsache, dass nicht zuletzt die Sowjetunion tiefe Spuren im kollektiven Selbstverständnis und in den institutionellen Voraussetzungen für Formen zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation hinterlassen hat. Die politisch-zivilgesellschaftliche Kultur ist geprägt von der starken Rolle des Staats und einem bürgerschaftlichen Selbstverständnis, dem es weitgehend fremd ist, sich über lokale und persönliche Kontexte hinaus für das Gemeinwohl zu engagieren. Demzufolge gibt es in Russland bis heute einerseits nur geringen Freiraum für gesellschaftliche Selbstorganisation, andererseits wird dieser dort, wo er existiert, seitens der Bevölkerung nicht notwendigerweise ausgefüllt. Das belegen Zahlen, wonach nur rund 6 % der russischen Bevölkerung regelmäßig Geld an zivilgesellschaftliche (bzw. Dritte-Sektor-) Organisationen spenden – ein im Vergleich mit anderen Staaten denkbar niedriger Wert –, und sich nicht einmal jeder fünfte Russe regelmäßig freiwillig engagiert (s. CAF: World Giving Index 2013… in den Lesetipps). Die zivilgesellschaftliche Sphäre zwischen dem Staatlichen, der Ökonomie und dem Privaten scheint sich im russischen Selbstverständnis kulturell (noch) nicht etabliert zu haben. Einer unserer Gesprächspartner sagte hierzu:
»Das ist ein Erbe der sowjetischen Zeit, dass die Gesellschaft nicht daran gewöhnt ist, dass man überhaupt was zwischen Staat und Privatleben machen kann. Also dieser Freiraum, der war ja bislang nicht bekannt!«
Und ein anderer Studienteilnehmer spitzte es wie folgt zu:
»Ich glaube, dass es in unserer Mentalität – in der Mentalität der russischen Bevölkerung – das Konzept einer ›Zivilgesellschaft‹ nicht gibt.«
Fehlentwicklungen in den Transformationsjahren
Hinzu kommt: Die Transformationsjahre haben der russischen Gesellschaft zuvor nicht gekannte Freiheiten beschert, zugleich jedoch auch weite Teile der Bevölkerung in hohem Maße verunsichert. Die neue Freiheit wurde begleitet von einer Rechtsunsicherheit, die viele Menschen mehr ängstigte, als dass sie ihr Engagement förderte. Die Entwicklung des Dritten Sektors in den 1990er Jahren wurde daher maßgeblich von ausländischen Stiftungen angestoßen, die Aufbauarbeit leisteten und Fördergelder ins Land brachten. Diese Unterstützung beim Aufbau zivilgesellschaftlicher Struktur und Kultur folgte nicht selten dem normativen Leitbild der fördernden Institutionen aus dem Westen; ein gutgemeintes Engagement, das jedoch oft missionarischen Charakter annahm. Daneben geriet der Sektor aufgrund von »Fake«-Organisationen ins Zwielicht, die im Kern private, kommerzielle, zuweilen auch kriminelle Zwecke verfolgten. Das ohnehin schwache Vertrauen der Bevölkerung in den Sektor nahm weiter ab; zugleich wurde das Engagement ausländischer Stiftungen in der russischen Gesellschaft kritisch diskutiert. In unseren Interviews liest sich das beispielsweise folgendermaßen:
»Und es gibt sehr wenig Vertrauen unter den Menschen. Das ist etwas, was ich auch gemerkt habe in meiner Arbeit: Wenn jemand fremdes von außen kommt und sagt: ›Lasst uns mal dafür jetzt einsetzen‹, dann haben die Leute kein Vertrauen, dass das wirklich gut ist, dass da nicht jemand damit Geld verdienen will, dass daraus nicht jemand seinen Vorteil ziehen will, sondern dass es wirklich um den Anderen geht, um den Nächsten geht, um etwas Gutes. Und das gleiche gilt auch für Organisationen.«
Dennoch: Laut Mersijanowa und Jakobson (s.: Das Engagement der Bevölkerung … in den Lesetipps, S. 10) gibt es rund 136.000 Organisationen in Russland, die explizit dem Dritten Sektor zugerechnet werden können. Dabei handelt es sich vor allen Dingen um kleine Organisationen, von denen viele Schwierigkeiten haben, sich zu finanzieren. Große, finanziell abgesicherte Akteure sind die Ausnahme.
Soziale Dienstleister versus politische Themenanwälte?
Analysiert man den Dritten Sektor und die zivilgesellschaftlichen Strukturen entlang der beiden eingangs dargestellten Typen – als einen Bereich sozialer Dienstleister oder politischer Themenanwälte – so kann man einige wenige Organisationen identifizieren, die sich explizit politischen Themen widmen oder sich öffentlich systemkritisch äußern (wie beispielsweise Menschenrechtsorganisationen). Viel größer ist aber die Zahl der Organisationen, die sich als soziale Dienstleister den Wohlfahrtsherausforderungen des Landes widmen. Diese (von der Regierung so genannten) »sozial orientierten« Organisationen konnten sich über ihre Arbeit in den vergangenen Jahren ein immer besseres »Standing« innerhalb der Öffentlichkeit erarbeiten und damit auch verloren gegangenes Vertrauen in den Sektor zurückgewinnen.
Allerdings hat sich das politische Klima dem Dritten Sektor gegenüber während der Präsidentschaft Putin verändert und ausdifferenziert. Auch der politische Umgang mit der Zivilgesellschaft lässt sich dabei anhand der Kategorien der sozialen Dienstleistung einerseits, wie auch der politischen Themenanwaltschaft andererseits gut darstellen: »Sozial orientierte« Organisationen haben inzwischen die Möglichkeit, in nicht unerheblichem Maße staatliche Fördergelder zu erhalten. Organisationen, die sich um die Einhaltung rechtsstaatlicher Strukturen bemühen oder sich kritisch mit der Regierungsarbeit auseinandersetzen, werden nach Ansicht unserer Interviewpartner hingegen scharf kontrolliert und in ihrer Arbeit behindert.
Während die Regierung Jelzin in den 1990er Jahren offenbar nicht viel für, aber auch nicht viel gegen die Organisationen des Dritten Sektors in Russland getan hat, konnten sie im Verlaufe der Präsidentschaft Putins stark an Aufmerksamkeit gewinnen (s. Henderson: Civil Society in Russia … in den Lesetipps). Putin verweist in vielen seiner Reden auf die Bedeutsamkeit des Dritten Sektors, wobei sich die positive Einschätzung vornehmlich auf »sozial orientierte« Organisationen bezieht. Kritische Zivilgesellschaft hingegen wird staatlicherseits wesentlich kritischer beäugt, wie in unseren Interviews vielfach betont wird. Exemplarisch sei hierzu folgendes Zitat aus dem Material wiedergegeben:
»Ich glaube, dass die russische Politik – und hier auch der Staat an höchster Stelle – ein großes Interesse daran hat, sein Machtmonopol zu behalten, und auch aus den Erfahrungen der Machtverluste in seinen befreundeten kommunistischen Ländern gelernt hat. Überall da, wo Machtverluste in Osteuropa entstanden sind, sind sie entstanden, weil es der Leitung des Landes, der Regierung, nicht gelungen ist, Widerstände gegen die Politik so im Zaum zu halten, dass sie nicht so groß werden, dass sie die gesellschaftliche Situation wie ein Federstrich einfach zur Seite wischen. Und das heißt […]: Zivilgesellschaft schadet der jetzigen Regierung in Russland, die Fortführung ihrer Arbeit zu sichern.«
Die Rolle des russischen Staates
Doch das ist nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite kann man seit einigen Jahren einen massiven Ausbau der Förderaktivitäten des Staates für Organisationen beobachten, die sich in ihrer Arbeit sozialen Problemen widmen. Diesen »sozial orientierten« Organisationen eröffnet der Staat seit geraumer Zeit die Möglichkeit, sich zur Realisierung ihrer Vorhaben im Bereich der sozialen Dienste auf substanzielle Projektausschreibungen zu bewerben. Die Orientierung an sozialen Themen wird damit von Politik und Verwaltung als Leitbild in den Sektor bzw. in die (Zivil-) Gesellschaft kommuniziert, wie in unseren Interviews nachzulesen ist:
»Was der russische Staat und all die Experten ganz generell versuchen zu betonen, ist, dass Zivilgesellschaft vor allem dafür da ist, sich sozialen Themen zu widmen; dass es um soziale Sicherheit geht und die Hilfe für Bedürftige. Das ist sozusagen das Leitmotiv der Zivilgesellschaft. [… ] Auf der höchsten Ebene des Staates, seitens des Präsidenten, wird herausgestellt, dass die sozialen Fragen der Hauptgegenstand der Arbeit von Organisationen des Dritten Sektors sind. [… ] Wenn man als NGO also dem Trend folgen möchte, sollte man eine ›soziale Orientierung‹ verfolgen.«
Die Regierung Putin hat in den vergangenen Jahren begonnen, hierfür Strukturen der Projektförderung zu etablieren. Diese Förderung wird einerseits über einen Fonds des Präsidenten gewährt, andererseits über Instrumente der Ministerien. Im Einklang mit dieser Strategie wurden 2014 neue Regelungen verabschiedet, die »sozial orientierte« und »politische« Organisationen differenzieren und der Feststellung von »Agententätigkeiten« dienen sollen. Dabei scheint es nach unseren Interview-Eindrücken auch darum zu gehen, eine »gute« von einer »schlechten« Zivilgesellschaft abzutrennen.
Die Folgen der Ukraine-Krise
Derzeit ist die Zukunft der russischen Zivilgesellschaft und des Dritten Sektors schwer prognostizierbar, insbesondere vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der Ukraine, der sich verstärkenden nationalistischen Tendenzen sowie einer von den Stakeholdern in unseren Interviews berichteten Abschottung Russlands ausländischen Akteuren gegenüber. Die nachfolgend formulierten Einsichten aus unserer empirischen Forschung ermöglichen dennoch eine Einschätzung in Bezug auf ein derzeit sehr unsicheres Feld:
Zunächst herrscht allgemein große Verunsicherung unter den Organisationen hinsichtlich der Regierungspraxis, die sich offenbar vor allen Dingen durch Unberechenbarkeit auszeichnet. Dies betrifft – wenig verwunderlich – die politischen in größerem Maße als die »sozial orientierten« Organisationen. Die Ukraine-Krise und die sich verstärkenden nationalistischen Tendenzen in Politik und Gesellschaft haben zur Folge, dass Organisationen, die sich dem gesellschaftlichen Pluralismus verpflichtet fühlen oder zu kritischen Themen arbeiten, in ihrem Arbeitsbereich immer größere Schwierigkeiten bekommenDie politischen Beziehungen Russlands zu seinen westlichen Nachbarn haben sich im Zuge der Ukraine-Krise bedeutend verschlechtert, eine Entwicklung, die maßgeblich zu Einbußen an Vertrauen und einer Verschlechterung der lange Zeit guten Atmosphäre geführt hat.Die Unterstützung des politisch handelnden Sektors durch ausländische Geldgeber wurde (spätestens mit dem Agentengesetz von 2012) massiv erschwert. Es ist anzunehmen, dass sich diese Politik kurz- und auch mittelfristig nicht ändern wird.Die staatliche Förderung »sozial orientierter« Organisationen wird aller Wahrscheinlichkeit nach beibehalten, womöglich noch weiter ausgebaut. Staatlich »alimentierte« Akteure erhalten damit weitere Entwicklungspotenziale, wobei die Gefahr besteht, dass deren Finanzierung mit Systemkonformität erkauft wird. Die Fortschreibung einer solchen Politik ist in hohem Maße abhängig von der zukünftigen ökonomischen Entwicklung des Landes, weil vor allem die Erlöse aus dem Energiesektor über die Möglichkeiten entscheiden, inwieweit diese Förderung aufrechterhalten werden kann.
Perspektiven für die Zivilgesellschaft und den Dritten Sektor
Wie sehen vor diesem Hintergrund Möglichkeiten der Förderung der russischen Zivilgesellschaft und des Dritten Sektors aus? Gebietet es die »demokratische Orientierung«, nun die politisch tätigen Organisationen in besonderem Maße zu unterstützen?
Schenkt man unseren Interviewpartnern Glauben, ist dies nicht notwendigerweise der »Königsweg«. Denn eine Zusammenarbeit mit dem themenanwaltschaftlich arbeitenden Teil der Zivilgesellschaft wäre zwar durchaus für viele Beobachter wünschenswert. Der Erfolg einer Kooperation mit kritischen oder oppositionellen Akteuren durch den Versuch, die administrative Ebene zu »umschiffen«, erscheint jedoch derzeit mehr als fraglich – und birgt zudem Risiken für alle Beteiligten. Und das liegt nicht nur (und möglicherweise sogar weniger) an der Politik des Kreml, sondern an der allgemeinen Stimmungslage im Land. Die Alternative hierzu besteht in der Förderung und Weiterentwicklung des Sektors als Dienstleister. Eine solche Strategie folgt der Idee, dass ein umfassendes Capacity Building – d. h. eine Erhöhung der Handlungskapazitäten durch Kompetenzaufbau und Infrastrukturen – es den primär an sozialen Problemen ausgerichteten Organisationen indirekt ermöglicht, eine gemeinsame Stimme zu entwickeln, die mittelbar auch politisch ausstrahlen wird. Hierbei geht es darum, die Organisationen im Konzert der »Großen« – d. h. auch im Wettbewerb mit Staat und Markt um Ressourcen – zu professionalisieren. Hierzu eine letzte Interview-Einsicht:
»Es besteht die Notwendigkeit der Professionalisierung des Sektors […] Denn es gibt wirklich Menschen, die im Sektor arbeiten möchten. Allerdings gibt es nicht genügend Ausbildungsprogramme. Die Menschen, die in den Sektor kommen, kommen aus ganz anderen Sektoren, nicht unbedingt aus dem NGO-Bereich. Und das andere ist, dass der NGO-Sektor immer stärker nicht nur mit der Unternehmenswelt, sondern auch mit dem Staat als Arbeitgeber in Konkurrenz tritt, um professionelle Mitarbeiter zu bekommen – und der Staat ist ein guter Arbeitgeber. Der NGO-Sektor versucht derzeit seinen Platz im Arbeitsmarkt zu finden. Auch darum ist die Professionalisierung des Sektors wichtig.«
Dies legt nahe, in den folgenden Bereichen Unterstützung zu leisten:
Organisationsentwicklung und Professionalisierung: Die Personalentwicklungs- und Professionalisierungskapazitäten vieler Akteure sind unterentwickelt, während sie zugleich zentrale soziale Aufgaben übernehmen (sollen) und hierfür auf einem umkämpften Arbeitsmarkt rekrutieren. Eine professionelle Aufbau- und Prozessorganisation der Organisationen ist für die weitere Entwicklung des Sektors entscheidend.Strukturen akademischer Weiterbildung und Kooperationen: Ausbildungsgänge in Non-Profit-Management und Philanthropie fehlen in Russland weitgehend. Es kommt zu Rekrutierungsproblemen, während gleichzeitig der Wissenstransfer und die Entwicklung innovativer Konzepte und Debatten innerhalb des Sektors verhindert werden. Es gilt, den Ausbau wissenschaftlicher Institutionen im Lande, aber auch internationale Kooperationen mit dem akademischen Ausland auszubauen.Austauschprogramme: Interkultureller Austausch ist eine allseits erwünschte und wirksame Form der Verständigung abseits diplomatischer Gepflogenheiten; hier wird Völkerverständigung »gelebt« und über Begegnungen konkreter Individuen »real«. Solche Formen der Vertrauensbildung können über Städtepartnerschaften, Austauschprogramme oder Reisestipendien ermöglicht oder zumindest gefördert werden.Vernetzung der Organisationen: Viele Organisationen in Russland verstehen sich (noch immer) mehr als Konkurrenten denn als Kooperationspartner. Kooperation und Vernetzung innerhalb des Sektors begünstigen jedoch den Wissenstransfer, führen zu Kompetenzgewinnen, verschaffen dem Sektor mehr Sichtbarkeit und erleichtern die Ausbildung einer gemeinsamen – politischen – Stimme. Dies gilt es zu unterstützen.Vertrauen in der Gesellschaft erarbeiten: Eine zentrale Aufgabe russischer Non-Profit- und Nichtregierungsorganisationen wird es bleiben, durch die eigene Arbeit Vertrauen in der Gesellschaft zu gewinnen. Diesbezüglich hat sich bereits einiges getan. Doch es bleibt eine Herausforderung, die Rollen und die Werte explizit zivilgesellschaftlichen Handelns in die Gesellschaft hinein zu vermitteln.Kooperationen langfristig und auf Augenhöhe anlegen: Schließlich geht es vielfach darum, Kooperationen mit der russischen Zivilgesellschaft und dem dortigen Dritten Sektor langfristig anzulegen, die Organisationen in Russland als strategische Kooperationspartner zu begreifen und von ihnen so viel Engagement zu erwarten, wie ihnen gleichzeitig an Selbstbestimmung und Gestaltungsfreiraum entgegengebracht wird.
Im Gegensatz zu den eingangs skizzierten Interventionen westlicher Akteure in den 1990er Jahren, die im Nachhinein teilweise als (wenn auch gutgemeinte) »Einmischungen« wahrgenommen werden, versprechen sich unsere Interviewpartner von den dargestellten Strategien mehr Rücksicht auf die sozialen und politischen Rahmenbedingungen vor Ort und eine eher moderierende Rolle ausländischer Organisationen. Sie erscheinen demzufolge als ein möglicher Weg der Unterstützung russischer Zivilgesellschaft in sehr unruhigen Zeiten. Sie sind der Versuch, Optionen aufzuzeigen, wie die bürgerschaftlichen Impulse in einer Gesellschaft bestärkt werden können, deren Rahmenbedingungen hierfür momentan eher ungünstig sind.
Capacity Building könnte es dienstleistenden Organisationen ermöglichen, innerhalb des Systems verstärkt eine leistungsfähige »Voice-Funktion« auszuüben. Solche Strategien missbilligen weder die themenanwaltschaftlich orientierte Zivilgesellschaft, noch legitimieren sie die Politik im Kreml. Das Gegenteil ist der Fall. Mittels Professionalisierungs- und Kooperationsvorhaben würde auf die Stärkung der Infrastrukturen und Selbstorganisationskräfte der Zivilgesellschaft hingearbeitet, was bestenfalls zur Ausbildung einer politisch wirksamen Stimme führen könnte. Dabei muss es nicht ausschließlich um die als »sozial orientiert« anerkannten Organisationen gehen, sondern um das gesamte Spektrum gemeinwohlorientierten Handelns in den sozialen Diensten. Allerdings: Indem Organisationen des Dritten Sektors mit staatlichen Institutionen kooperieren und sich mit ihrer Arbeit unentbehrlich machen, gewinnen sie an Einfluss. Je professioneller die Organisationen wiederum entwickelt sind, und je stärker der Dritte Sektor seine eigene Identität ausbildet und mit einer gemeinsamen Agenda auftritt, desto größer erscheinen die Möglichkeiten, Einfluss auf politische Prozesse zu nehmen. Es geht also gewissermaßen darum, über eine Stärkung des Dritten Sektors als starkem Dienstleister die zivilgesellschaftliche Entwicklung »durch die Hintertür« zu fördern.
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