Einleitung
Anfang September diesen Jahres hat der russische Staatskonzern Gazprom im Rahmen des Östlichen Wirtschaftsforums in Wladiwostok eine Reihe von Energieabkommen mit westeuropäischen Energiekonzernen unterzeichnet, darunter eine Vereinbarung zum Bau der Pipeline »Nord Stream 2« mit einer jährlichen Kapazität von 55 Mrd. Kubikmeter Gas. Die Pipeline soll ergänzend zur 2011 in Betrieb genommenen ersten Nord Stream-Pipeline russisches Gas durch die Ostsee nach Deutschland und über das deutsche Gasnetz in weitere EU-Länder transportieren. Mit dem Projekt würde sich die Kapazität von Nord Stream verdoppeln. Am Projekt soll Gazprom 51 % der Anteile halten und weitere vier westliche Partner (die deutschen Unternehmen »E.On« und »Wintershall«, die britisch-holländische »Shell« und die österreichische OMV) sollen je 10 %, und die französische »Engie« 9 % der Anteile halten. Da die Pipeline an der Ukraine vorbeiführen würde, würde die Bedeutung der Ukraine als Transitland deutlich reduziert und Deutschlands Rolle als Transitland und als größter Gasverteiler in Europa gestärkt.
Dies erscheint angesichts der Ukraine-Krise und der Blockade von Gazproms South Stream-Projekt durch die EU, einer Erdgaspipeline über den Balkan in die EU, als logischer Schritt der russischen Exportpolitik. Die Nord Stream 2-Pipeline wird von vielen Experten als Triumph der langjährigen deutsch-russischen Energiekooperation gesehen.
Kritik in der EU
Bei den mittel- und südosteuropäischen Ländern hat die neue Vereinbarung über Nord Stream 2 allerdings für Empörung gesorgt. Polen kritisierte nachdrücklich, dass das Abkommen ohne Absprache mit der polnischen Regierung zustande kam, und dass die neue Ostseepipeline zukünftig die polnische Energiesicherheit gefährden kann. Die EU-Länder Bulgarien und Ungarn können enttäuscht sein. Beide Länder waren Partner von Gazprom im South Stream-Projekt und hatten auf direkte Erdgaslieferungen und Einnahmen aus den Transitpipelines gehofft. Die EU-Kommission entschied aber, dass Baugenehmigungen für die Pipeline auf bulgarischem Territorium nicht im Einklang mit EU-Recht erteilt wurden und drohte mit einem rechtlichen Verfahren. Aus diesem Grund musste Bulgarien die Bauarbeiten an South Stream im Juni 2014 stoppen. Jetzt profitieren vor allem Deutschland und Tschechien vom russischen Pipelineprojekt.
Die EU-Kommission, die schon das South Stream-Projekt an den Wettbewerbungsbestimmungen zur Liberalisierung des Erdgasmarktes hatte scheitern lassen, stellt auch für das Nord Stream-Projekt ein großes Problem dar. Hauptziel der EU Kommission ist die Entflechtung von Erzeugung und Versorgung auf dem europäischen Gasmarkt. Dementsprechend müssen Pipeline-Betreiber dritten Anbietern Pipelinekapazität überlassen, sofern die Europäische Kommission und die betreffende nationale Regulierungsbehörden keine Ausnahme erlauben. Da Nord Stream und die Anschlusspipelines innerhalb der EU von Gazprom kontrolliert werden, kann russisches Gas ohne explizite Genehmigung deshalb nicht in voller Kapazität durch die Pipelines strömen. Die Europäische Kommission hat aber bisher kein großes Interesse an Nord Stream 2 gezeigt, mit der Begründung, dass eine neue Pipeline in Umgehung der Ukraine nicht gebraucht werde.
Gazproms Reaktionen
Einige Experten sehen hinter dem Nord Stream-Deal weniger wirtschaftliche und energiepolitische Interessen als vielmehr finanzielle Interessen der beteiligten Firmen. Nach Angaben von Michail Krutichin, Energieexperte und Partner bei der Consulting-Firma »RusEnergy«, bietet das Abkommen den beteiligen ausländischen Investoren lukrative Einnahmen in Form von Transportgebühren unabhängig davon, ob und wieviel Gas über die Pipeline transportiert wird. Da 51 % der Anteile an Nord Stream einer Tochtergesellschaft von Gazprom gehören, die in der Schweiz registriert ist, werden diese Einnahmen nicht in Russland versteuert und nicht in den russischen Staatshaushalt fließen.
Gazprom hat jedoch, wenn auch zögerlich, mit einer neuen Strategie auf die Herausforderungen auf dem europäischen Absatzmarkt reagiert. Nord Stream2 kann dahingehend interpretiert werden, dass anstatt einer individuellen Belieferung der einzelnen nationalen Märkte Gazprom jetzt den gesamten europäischen Energiemarkt – ganz im Sinne der europäischen Kommission – als einen Abnehmer betrachtet, der vorrangig über eine direkte Pipelineroute, nämlich die ausgebaute Nord Stream-Pipeline durch die Ostsee beliefert wird und damit gleichzeitig Transitländer vermeidet.
Um sich mit den Wettbewerbsbestimmungen der EU für den Erdgasmarkt zu arrangieren, hat sich Russland in den letzten Jahren zunehmend bereit gezeigt, den eigenen nationalen Erdgasmarkt zu liberalisieren. Grundlage hierfür ist die Betonung der Gegenseitigkeit in den EU-Regeln, die nur denjenigen ausländischen Firmen unbegrenzten Marktzugang erlauben will, bei denen auch auf ihrem Heimatmarkt EU-konforme Wettbewerbsregeln gelten.
Die russische Regierung hat Schritte unternommen, die Gazproms Kontrolle über das gesamte russische Pipelinenetz für Erdgas und das gesetzlich festgeschriebene Monopol auf Gasexporte lockern sollen. Mit einem Gesetz, das im Dezember 2013 in Kraft trat, wurde anderen russischen Gasproduzenten bereits der Export von Flüssiggas erlaubt, der über Tanker und nicht über Pipelines erfolgt. Derzeit werden Regelungen diskutiert, die anderen Unternehmen auch Zugang zu den Exportpipelines gewähren sollen. Auf Betreiben von Igor Setschin, Leiter des staatlichen Energiekonzerns »Rosneft« und ein enger Vertrauter von Präsident Putin, hat der russische föderale Antimonopoldienst eine Anfrage an die präsidiale Kommission für den Energiesektor vorbereitet, die eine Ausgliederung des Pipelinenetzes in ein eigenes Unternehmen fordert. Damit wäre Gazprom nicht mehr der Betreiber von Nord Stream und den Anschlusspipelines und könnte als vom Pipelinebetreiber formal unabhängiger Produzent die volle Kapazität nutzen. Derzeit ist noch unklar, ob Präsident Putin diese Pläne unterstützen wird. Laut russischen Medienberichten soll in Kürze eine Entscheidung getroffen werden.
Auf Grund der wirtschaftlichen Stagnation wird davon ausgegangen, dass die Gasnachfrage in Russland selbst in den folgenden Jahren nicht steigen wird. Daher wächst für Gazprom die Bedeutung der Gasexporte erheblich. Der Konzern bemüht sich deshalb, über das »Turk Stream«-Projekt auch die Exporte in die Türkei und nach Südeuropa zu erhöhen sowie über zwei weitere Pipelineprojekte Zugang zum chinesischen Markt zu erhalten. Auch hier gibt es aber erhebliche Probleme bei der Umsetzung, wie der obige Beitrag von Andreas Heinrich erläutert.
Resümee
Die Liberalisierung des europäischen Erdgasmarktes durch die EU-Kommission, die westlichen Sanktionen gegen Russland in Folge der Ukrainekrise sowie die Stagnation der Gasnachfrage auf dem russischen Binnenmarkt führten dazu, dass der Kreml seine bisherigen Energiestrategien überdenken musste. Er versucht sich mit Flexibilität an die herrschende Realität anzupassen, die Schwächen der politischen Händel der EU in Energiefragen auszunutzen und tut dies in gewissem Grade mit Erfolg.
Mit dem Stopp für das South Stream-Projekt entstand der Eindruck, dass Gazprom sich von Investitionen in den europäischen Absatzmarkt verabschiedet hat. Dagegen setzt Russland nun auf eine neue Strategie, die auf den zwei Pipelineprojekten Nord Stream 2 und Turk Stream basiert. Mit zusätzlichen Exportkapazitäten sollen Versorgungsalternativen für Deutschland und die mittelosteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten verdrängt und damit Gazproms Position als Hauptlieferant gestärkt werden.
Gleichzeitig versucht Russland zur Stärkung seiner Position auf den europäischen Märkten sich an die EU-Vorschriften anzupassen und dies entweder direkt durch Verhandlungen mit Brüssel oder indirekt durch bilaterale Abkommen mit westlichen Unternehmen zu erreichen. Inwieweit dabei der Forderung der EU nach einer Liberalisierung des russischen Binnenmarktes für Erdgas nachgekommen wird, bleibt jedoch abzuwarten.
Obwohl im rechtlichen Bereich die Beziehungen zwischen Russland und der EU in letzter Zeit unverändert blieben, ändern sich die Einstellungen der Akteure im Bereich der Energiekooperation. Nord Stream 2 hat höhere Chancen auf eine schnellere Realisierung als Turk Stream, weil die Unterstützung von allen im Projekt beteiligten Partnern, darunter auch Deutschlands, gesichert ist. Die Realisierung dieser politisch motivierten Projekte könnte allerdings mehrere Jahre in Anspruch nehmen, da die Krisen in der Ukraine und in Syrien die Verhandlungen überschatten.
Russlands Gasexporte müssen dabei im Zusammenhang mit der gegenwärtigen schwachen Wirtschaftslage Russlands, mit der einseitigen Ausrichtung der russischen Wirtschaft auf Erdöl- und Erdgaseinnahmen und den mangelnden Investitionen in die Exploration von neuen Erdgasfeldern betrachtet werden. Ohne westliche Investitionen können diese Probleme nicht bewältigt werden. Russland ist weiterhin auf den europäischen Markt angewiesen und die Abhängigkeit auf beiden Seiten bleibt kurz- und mittelfristig bestehen.
Nord Stream stellt allerdings – sowohl mit dem ursprünglichen Projekt als auch jetzt mit Nord Stream 2 – die europäische Solidarität im Bereich der Energiesicherheit in Frage. Während die größten europäischen Energiekonzerne, die an Nord Stream 2 beteiligt sind, das Projekt unterstützen, äußern Brüssel und die mittelosteuropäischen Länder starke Kritik und lehnen das Projekt ab. Deshalb ist damit zu rechnen, dass die mittelosteuropäischen Länder zukünftig noch stärker auf ihre eigenen nationalen Interessen setzen werden, und dass das Vertrauen in eine gemeinsame EU-Politik sinken wird. Damit könnte sich die Spaltung in Europa bei Fragen der Energieversorgung weiter vertiefen, was die Pläne zur Schaffung einer europäischen Energieunion wesentlich belasten könnte.
Wenn Nord Stream 2 und Turk Stream wie geplant in Betrieb genommen würden, würde Russland sich von einem Gastransit durch die Ukraine völlig abkoppeln. Da allerdings die neuen Pipelineprojekte mit vielen Problemen konfrontiert sind und außerdem innerhalb der EU die Infrastruktur (Gasinterkonnektoren) für die Weiterleitung an alle Abnehmer fehlt, ist der Verzicht auf ukrainische Transitpipelines bis 2019 kaum realisierbar. Für die von Gazprom geplante Ausweitung der Exporte nach Mittelosteuropa und auf den Balkan bleiben außerdem die ukrainischen Transitpipelines in die Slowakei von großer Bedeutung, weil sie in Ergänzung zu Nord Stream und Turk Stream, die jeweils nur den nördlichen bzw. südlichen Teil des europäischen Marktes beliefern, längerfristig eine Flexibilität bei russischen Erdgaslieferungen in die EU erlauben würden. Deshalb ist davon auszugehen, dass Gazprom die Ukraine auch langfristig als Transitroute nutzen wird, wenn auch – im Falle einer Realisierung alternativer Exportpipelines – in reduziertem Umfang.
Gazproms Aktivitäten im Kaspischen Raum und in den Verhandlungen mit China zeigen, dass Russland seine Position verstärkt auf anderen regionalen Energiemärkten auszubauen sucht, auch wenn dies mit hohen politischen und wirtschaftlichen Kosten verbunden ist. Es ist noch zu früh für eine Einschätzung, inwiefern oder ob diese Politik erfolgreich ist. Die Realisierung der Projekte hängt stark von anderen Faktoren ab, wie etwa der Entwicklung der Weltmarktpreise für Erdöl, geopolitischen Entwicklungen in den betroffenen Regionen und der Bereitschaft der an den Projekten beteiligten Länder, den russischen Interessen entgegenzukommen.
Allerdings kann auch konstatiert werden, dass Russlands Energiepolitik zunehmend komplexer und weniger vorhersehbar ist, weil neue Akteure mit ihren eigenen Unternehmensstrategien und persönlichen Interessen in die russischen Gasexporte einsteigen. Dies wird die Aktivitäten der russischen Erdgaswirtschaft zukünftig sowohl intern als auch extern stark beeinflussen.