Die Wirtschaftspolitik der belagerten Festung. Das Glasjew-Programm

Von Roland Götz (Berlin)

Zusammenfassung
Vor allem auf Grund des Ölpreisrückgangs setzte in Russland eine wirtschaftliche Stagnation ein, die bei Fortdauer niedriger Ölpreise noch jahrelang anhalten könnte. Die auf Verbesserung des Investitionsklimas gerichteten Maßnahmen der Regierung können keine schnelle Besserung der Wirtschaftslage versprechen. Vor diesem Hintergrund finden Forderungen nach einer grundsätzlichen Kehrtwende der Wirtschaftspolitik, wie sie der Präsidentenberater Sergej Glasjew seit Jahren erhebt, verstärkte Aufmerksamkeit. Er möchte, dass die Zentralbank, statt die Inflation zu bekämpfen, durch Erhöhung der Geldmenge Wirtschaftswachstum erzeugt. Vor allem müsse das Land seine außenwirtschaftliche Abhängigkeit verringern, um den USA in ihrem »Weltkrieg« gegen Russland widerstehen zu können. Sein Programm, das er Mitte September einer Kommission des Sicherheitsrats vorlegte, wurde von Wirtschaftsexperten überwiegend negativ beurteilt. Umstritten ist, welchen Einfluss seine Vorstellungen auf die Kremlpolitik haben.

Die Person

Sergej Glasjew (geb. 1961) arbeitete nach einem 1983 abgeschlossenen Studium der Wirtschaftswissenschaften von 1986 bis 1991 am Zentralinstitut für Mathematik und Ökonomie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und habilitierte 1989 mit einer Arbeit über die ökonomische Theorie der technischen Entwicklung. Als einer der wenigen Ökonomen ist er seit 2000 korrespondierendes und seit 2008 ordentliches Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften (siehe auch Kasten »Sergej Glasjew und die Wissenschaft« auf S. 11).

Glasjew vertritt vehement die Idee einer weitgehend autarken »Mobilisierungswirtschaft« als Russlands Alternative zur »liberalen Utopie« des Westens. An der westlichen ökonomischen Diskussion beteiligt er sich nicht. Zustimmung zu seinen Ansichten findet er bei einem Teil seiner Kollegen in der gesellschaftswissenschaftlichen Abteilung der Akademie der Wissenschaften und uneingeschränkt im Isborsker Klub, einer von der Rüstungsindustrie finanzierten linkspatriotischen Bewegung (siehe Lesetipps). Seit Mitte der 1990er Jahre hält er engen Kontakt zur Politsekte des Ehepaars Helga und Lyndon LaRouche, in deren Zeitschriften seine Texte und Interviews in Übersetzung verbreitet werden. Deren Verlag publizierte auch 1999 die englische Übersetzung seines Buchs über den Genozid, den der IWF nach Glasjews Meinung am russischen Volk verübt habe.

1992 wurde Glasjew in Jegor Gajdars Regierung Minister für Außenhandelsbeziehungen, trat aber nach einem Jahr zurück, aus Protest gegen die gewaltsame Auflösung des Obersten Sowjets im Oktober 1993 durch Boris Jelzin. Er blieb in der Politik und wurde 1993 über die Liste der »Demokratischen Partei Russlands«, 1999 über die Liste der »Kommunistischen Partei« und 2003 über den linkspopulistischen Wahlblock »Rodina« (»Heimat«) in die Staatsduma gewählt. 2004 kandidierte er für das Amt des Präsidenten der Russischen Föderation und erhielt 4 Prozent der Stimmen. Nachdem die Präsidialadministration »Rodina« politisch marginalisiert hatte, erklärte er 2007 seinen Rückzug aus der Parteipolitik.

2009 wurde Glasjew zum Sekretär der Zollunion Russland-Belarus-Kasachstan ernannt. Seit Mitte 2012 ist er Berater Wladimir Putins für Fragen der eurasischen Integration innerhalb der Zollunion. 2013 bewarb er sich vergeblich um den Posten des Chefs der Zentralbank. Er steht in seiner Eigenschaft als Berater Putins auf den Sanktionslisten der USA, der EU und der Ukraine.

Eine Frage der nationalen Sicherheit?

Die Tageszeitung »Kommersant« berichtete am 8. September 2015, dass Sergej Glasjew am 15. September der Kommission für wirtschaftliche und soziale Sicherheit des Sicherheitsrats der Russländischen Föderation in geschlossener Sitzung »Vordringliche Maßnahmen zur Abwehr der Bedrohungen für die Existenz Russlands« vortragen werde. Dieser Artikel, der eine teilweise verfälschte Zusammenfassung des der Zeitung vorliegenden Vortragstexts enthielt, entfachte einen Sturm im russländischen Blätterwald, wobei kritische Stellungnahmen überwogen. Am Tag der Sitzung der Kommission stellte die Internetzeitung »Biznes-online« dann den vollständigen Redetext Glasjews ins Netz (siehe Sergey Glazyev’s Report …; i. d. Lesetipps). Das große Medienecho verwundert, da Glasjew seine Ideen schon vielfach publiziert und im April 2014 auch ein entsprechendes Programm dem Finanzminister übersandt hatte, ohne dass es erkennbaren Einfluss auf die Regierungspolitik ausgeübt hätte. Zudem ist die Kommission für wirtschaftliche und soziale Sicherheit, vor der Glasjew auftrat, nur eine von sieben Kommissionen des Sicherheitsrats mit beratender Funktion. Dass er diesen Weg der Übermittlung seiner Botschaft wählte, statt sich direkt an seinen obersten Chef zu wenden, lässt sich als Versuch verstehen, für seine Position, für die er an der Staatsspitze bislang keine Zustimmung fand, in den für Sicherheitsfragen zuständigen Machtorganen Unterstützer zu gewinnen.

Führen Technologiezyklen zu »Weltkriegen«?

Der dramatisch klingende Titel seines Berichts und dessen Einleitungsteil sind auf das Auditorium, den Sicherheitsrat, zugeschnitten. Glasjew beruft sich in seinem Bedrohungsszenario für Russland auf Theorien der langen Wellen der Wirtschaftsentwicklung, die von den Ökonomen Nikolaj Kondratjew und Joseph Schumpeter nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt worden waren. Nach deren Auffassung verläuft die technologische Entwicklung in Schüben, die mit Auf- und Abschwüngen der Investitionstätigkeit verknüpft sind, wodurch mehrere Jahrzehnte währende Wirtschaftszyklen ausgelöst werden. Glasjew kombiniert diese Theorien mit einer Deutung der internationalen Beziehungen, die er der »Weltsystemanalyse« des US-amerikanischen Wirtschaftshistorikers Immanuel Wallerstein entnommen hat und die er entgegen dessen Intentionen jedoch als eherne historische Gesetze auslegt: Der technologisch und wirtschaftlich dominierende Staat (der Hegemon) wehrt sich in der Abschwungsphase des Wirtschaftszyklus innerhalb des jeweiligen »Weltsystems« vergeblich gegen die technologisch und ökonomisch aufstrebenden Rivalen, indem er »Weltkriege« entfesselt, um seine Hegemonie zu bewahren. Die historischen Beispiele hierfür seien die siegreichen Unabhängigkeitskriege der Niederlande gegen den ehemaligen Hegemon Spanien, die napoleonischen Kriege, als sich England gegen Frankreich durchsetzte, die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts mit dem Sieg der USA über Deutschland sowie der Kalte Krieg, aus dem die USA als Sieger gegenüber der Sowjetunion hervorgingen. Im aktuellen (sechsten) Kondratjew-Zyklus sei China Vorreiter der technologischen Entwicklung und Japan lenke das dafür erforderliche Kapital in den südostasiatischen Raum. Die technologisch zurückgebliebenen und wirtschaftlich im Abstieg begriffenen Vereinigten Staaten versuchten nun, ihre Konkurrenten durch einen »Weltkrieg« zu schwächen, wobei sie die Instrumente der »hybriden Kriegsführung« einsetzten. Insbesondere wollten die USA die Kontrolle über Russland, Zentralasien und den Nahen Osten erlangen, um sich deren Energieressourcen zu sichern. In der Ukraine – nach Ansicht Glasjews ein Teil der »russischen Welt« – bereiteten die USA daher historisch zwangsläufig eine mit militärischen Mitteln sowie dem Einsatz von Desinformation, humanitären und politischen Instrumenten vorgetragene Intervention in Russland vor (siehe auch: Glasjew, Sergej: Ukrainskaja katastrofa. Ot amerikanskoj agressii k mirowoj wojne?, Moskau 2015; <www.glazev.ru/upload/iblock/db9/db9ed5d52445583819510b5ea70b2339.pdf>). Daher forderte er im Juni 2014 die Bombardierung der ukrainischen Streitkräfte (siehe <http://m.day.kiev.ua/en/article/day-after-day/architects-aggression>). In Russland selbst sollen Revolutionen organisiert und die Aufteilung des Landes in die Wege geleitet werden. Die Handelbeziehungen der NATO-Länder und anderer von den USA abhängiger Staaten wie Japan, Südkorea, Kanada und Australien zu Russland würden dann gekappt, was wiederum wegen der hohen Abhängigkeit der Wirtschaft Russlands vom Ausland dessen nationale Sicherheit gefährde. Damit schließt sich der Kreis der Argumentation Glasjews: Russland müsse sich durch Verringerung seiner viel zu hohen außenwirtschaftlichen Abhängigkeit in dem von den USA entfesselten »Weltkrieg« zur Wehr setzen, der letztlich die notwendige Folge technologischer Wandlungen ist.

Glasjews zum Dogma erhobene Interpretation der technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung als Determinanten der Weltgeschichte (eine Wiederbelebung des historischen Materialismus) lässt sich freilich aus den Ausführungen seiner Gewährsmänner Kondratjew, Schumpeter und Wallerstein keineswegs ableiten und steht im Widerspruch zu historischen Tatsachen. Die Haltlosigkeit seines Geschichtsmodells wird bereits bei seiner Beschreibung der zeitgeschichtlichen Vorgänge deutlich: Die USA befinden sich, anders als Glasjew meint, keineswegs im technologischen Rückstand zu China und im wirtschaftlichen Niedergang. Die USA sind auch nicht auf die Energieressourcen Russlands und des Nahen Ostens angewiesen, schon weil sie durch ihre (im eigenen Land entwickelte!) Fracking-Technologie von Energieträgerimporten unabhängig geworden sind. Dass die USA, um ihren nach der Theorie Glasjews unvermeidlichen ökonomischen und weltpolitischen Abstieg hinaus zu schieben, die Ukraine als Aufmarschplatz für eine Intervention in Russland nutzen wollten und es auf die Aufteilung Russlands abgesehen hätten, gehört vielmehr ins Reich der antiamerikanischen Verschwörungstheorien, die unter anderem der Isborsker Klub, in dem Glasjew eine führende Rolle spielt, in Russland verbreitet.

Hat die Zentralbank die Krise verursacht?

Der Bedrohung durch den äußeren Feind müsse nach Glasjew dadurch begegnet werden, dass die »nationale Souveränität« über die Wirtschaft wiedergewonnen wird. Damit meint er Maßnahmen, die weit über die Importsubstitution hinausgehen, wie sie Russlands Regierung als Antwort auf die Sanktionen des Westens unternimmt. Glasjew verlangt in seinem Bericht, zu dem ein Team von Mitarbeitern detaillierte Anlagen verfasst hat, eine Abkehr von der bisherigen Geld- und Währungspolitik der Zentralbank Russlands, weil diese angeblich nur die Interessen des internationalen Kapitals bediene, während ihr das Wohlergehen des eigenen Landes gleichgültig sei. Er fordert von der Zentralbank statt der Inflationsbekämpfung durch Zinspolitik (inflation targeting) den Ankauf von Devisen, Anleihen und Aktien von Banken und Industriebetrieben, wodurch die Geldmenge ausgeweitet werde, was nicht nur Produktion und Investitionen in Gang brächte, sondern auch die Inflation senken würde. Die Geldpolitik der Zentralbank Russlands ist nach Glasjews Meinung hauptverantwortlich für den Niedergang der Wirtschaft und führt in die Falle der Stagflation (Stagnation plus Inflation). Dies sei nach Glasjew der erste große Fehler der Zentralbank Russlands gewesen.

Ihr zweiter großer Fehler habe in der Freigabe des Wechselkurses zum Jahresanfang 2015 bestanden: Dass die Zentralbank Russlands den Wechselkurs nicht mehr durch An- und Verkäufe von Devisen reguliert, führt nach Glasjew zu Kapitalflucht und fördert die Korruption und die Verlegung von Firmensitzen in Offshore-Gebiete. Dass diese Phänomene allerdings längst aufgetreten waren, bevor die Zentralbank den Wechselkurs freigegeben hat, erwähnt Glasjew nicht. Beide Fehler hätten bewirkt, dass Russlands Wirtschaft – statt 2015 um 6–8 Prozent zu wachsen – in eine »Stagnationsfalle« geraten sei und die Zentralbank Russlands einen Produktionsrückgang um 5 Prozent sowie 15 Prozent Inflation toleriere.

Glasjew ignoriert in seiner Polemik gegen die Zentralbank Russlands vollständig die Auswirkung des tiefen Falls des Ölpreises im zweiten Halbjahr 2014 und erkennt auch nicht, dass bereits die Stagnation des Ölpreises in den vorangegangenen zwei Jahren ursächlich für das seinerzeit geringe Wirtschaftswachstum gewesen war. Weil der Rückgang des Preises für Russlands wichtigstes Exportprodukt – das Erdöl – dann die Deviseneinnahmen reduzierte, konnte die Zentralbank Russlands den Wechselkurs des Rubels nicht mehr durch geringe Devisenverkäufe stabilisieren und musste ihn freigeben. Unmittelbare Folge der darauf folgenden Abwertung des Rubels war ein Hochschnellen der Inflationsrate, welche die Zentralbank durch ein Anheben des Leitzzinssatzes zu bekämpfen versuchte. Ein derartiges Vorgehen entspricht der weltweiten Praxis der Zentralbanken und folgt nicht, wie Glasjew behauptet, nur den angeblich schädlichen Rezepten internationaler Finanzorganisationen wie des IWF.

Glasjews Idee der Wirtschaftsbelebung durch die Ausweitung der Geldmenge mittels Aufkauf von Devisen und Wertpapieren durch die Zentralbank würde nur zu einer weiteren Abwertung des Rubels und höherer Inflation führen. Zwar praktizierten Zentralbanken wie das amerikanische »Federal Reserve System« und die EZB in bestimmten Situationen eine derartige »quantitative Lockerung« (quantitative easing) der Geldpolitik, doch griffen sie zum Mittel der mengenmäßigen Geldregulierung nur, nachdem die Zinspolitik mit dem Erreichen von Nullzinsen ihren Spielraum ausgeschöpft hatte und Deflation drohte, während die eigene Währung unter Aufwertungsdruck stand. Für Russland mit seiner hohen Inflationsrate (siehe Tabelle 1 auf S. 12) wäre dieses Mittel dagegen nicht geeignet. Unterstützung findet Glasjew in Russland allerdings durch den Ökonomen Sergej Blinow in der Wirtschaftszeitung »Expert«. Dieser verweist auf die Jahre 1998 bis 2001, in denen die Geldmenge sich mehr als verdreifachte und – wie Blinow glaubt, nur deswegen – das Bruttoinlandsprodukt um 18 Prozent angestiegen war, während gleichzeitig die Inflation von 85 Prozent auf 19 Prozent sank. Allerdings erhöhte sich in diesem Zeitraum auch der Ölpreis um 85 Prozent, und der Export von Rohöl und Ölprodukten stieg um 20 Prozent, was das BIP-Wachstum gut erklärt. Der Rubel stand damals unter Aufwertungsdruck, weswegen der Ankauf von Devisen durch die Zentralbank damals weder eine verstärkte Inflation noch eine Abwertung des Rubels zur Folge hatte. Diese günstigen Voraussetzungen sind in Russland gegenwärtig nicht gegeben, weswegen die Zentralbank auf Glasjews Vorschläge nicht eingehen wird.

In Anlage 10 seines Berichts verweisen Glasjew und seine Mitautoren darauf, dass ein Drittel der Kapitalausfuhr aus Russland illegale Kapitalflucht darstellt, wobei es sich um Einkommen handelt, die der Besteuerung entzogen werden. Um diese zu bekämpfen, wird ein Dutzend Maßnahmen vorgeschlagen, darunter die Besteuerung zweifelhafter Transaktionen, die Aufhebung der Doppelbesteuerungsabkommen mit Luxemburg und Zypern sowie die Einführung einer Steuer auf den Devisenerwerb. Außerdem sollen zur Stabilisierung des Devisenmarkts die Exporteure zum Umtausch ihrer Devisenerlöse in Rubel verpflichtet werden. Dass dadurch die in Russland längst verschwundenen Devisenschwarzmärkte wieder entstehen würden, wird hierbei jedoch übersehen. Auch erkennt Glasjew nicht, dass ein von ihm vorgeschlagenes Einfrieren der Preise für lebensnotwendige Waren ebenfalls lediglich Schwarzmärkte und leere Regale produzieren würde.

Um die grundsätzliche Umorientierung der Wirtschaftspolitik (den »Großen Durchbruch«) zu ermöglichen, müssen Glasjew zufolge außer der Neuformulierung der Geld- und Währungspolitik neue Planungsinstanzen mit umfassenden Befugnissen geschaffen werden, an deren Spitze dem Präsidenten unterstellte Staatskomitees für »strategische Planung« sowie für »wissenschaftlich-technische Entwicklung« zu stehen hätten. Diese sollen dann »Planbilanzen« erstellen, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt prognostizieren sowie durch Fünfjahrespläne die Modernisierung der Wirtschaft voran bringen. Damit soll offenbar eine Parallelwelt von Behörden samt ihren Mitarbeitern geschaffen werden (eine Art neue Opritschnina). Die Idee hierzu war im Isborsker Klub entwickelt worden.

Die Resonanz in den Medien

Die überwiegende Zahl der Kommentare zu Glasjews Bericht stützte sich auf dessen am 8. September 2015 im »Kommersant« erschienene Zusammenfassung. Die enthält allerdings einige Irrtümer: Die dort aufgeführten Daten über die von Glasjew angeblich gewünschten Proportionen zur Verwendung des Bruttoinlandsprodukts sind in seinem Bericht nicht zu finden. Glasjew befürwortet auch keine Schaffung von »Volksbetrieben«, die einen Anteil von 10 Prozent aller Betriebe ausmachen sollen, sondern er möchte, dass nur sogenannte »nationale Unternehmen«, die keine ausländische Besitzer haben, Zugang zu Naturressourcen, staatlichen Subventionen oder die Erlaubnis zur Herstellung strategisch wichtiger Erzeugnisse erhalten. Auch fordert er nicht die Einrichtung von Arbeiterräten und von Räten der Ingenieure und Verwaltungsangestellten in den übrigen Betrieben. Die Vorschläge Glasjews zur Stabilisierung des Rubelkurses, zu Preiskontrollen, zur Eindämmung der Kapitalflucht und zur De-Dollarisierung der Wirtschaft Russlands werden indes korrekt wiedergegeben.

Bekannte »Wirtschaftsliberale« warnten nach Erscheinen der Meldung im Kommersant umgehend vor den Gefahren, die bei Umsetzung von Glasjews Vorstellungen drohten. So schrieb der Mitarbeiter des »Moskauer Carnegie-Zentrums« Andrej Mowtschan in seinem Blog, dass Russlands Volkswirtschaft bei einer Verwirklichung des Glasjew-Programms auf das Niveau Venezuelas und Nordkoreas absinken würde. Die Vorschläge Glasjews für die Stabilisierung des Rubelkurses hält er für überflüssig, da dieser sich zu Recht und stabil am Ölpreis orientiere. Die von Glasjew vorgeschlagenen Maßnahmen würden nur die Kosten für Unternehmen und Konsumenten steigen und Schwarzmärkte für Waren und Devisen entstehen lassen. Sie würden der Elite durch Ausnutzung der Warenknappheit und der bürokratischen Kontrollen zusätzliche Möglichkeiten der Bereicherung eröffnen (siehe Movchan…; i. d. Lesetipps). In ähnlicher Weise äußerte sich auch der Chefredakteur der »Finansowaja gaseta« Nikolaj Wardul in der Internetausgabe des »Moskowskij Komsomolez«. Der ehemalige Wirtschaftsminister Andrei Netschajew bezeichnete in der russischen Ausgabe von »Forbes« Glasjews Ansinnen als einen »Durchbruch ins Nichts«. Wladislaw Inosemzew, Professor an der »Higher School of Economics« in Moskau und ehemaliger Berater des Präsidenten Medwedjew kritisierte in »Argumenty i Fakty«, dass Glasjew die Abkoppelung Russlands vom Weltmarkt fordere. Dies sei nicht der Weg von Ländern, die erfolgreich eine »nachholende Entwicklung« vollzogen hätten, indem sie ihren Export technologischer Waren steigerten. Dagegen habe die von Glasjew vorgeschlagene Strategie nur die Wirkung, dass mit Hilfe billiger Kredite für den Inlandsmarkt erzeugte, international unverkäufliche Waren auf Halde produziert werden. Inosemzew mokiert sich über die im »Kommersant« genannte Absicht Glasjews, die Bildungs- und Sozialausgaben von gegenwärtig 6,5 Prozent auf 40 Prozent und die der Sachanlageinvestitionen von 18 Prozent auf 40 Prozent erhöhen zu wollen, was einem »neuen Kriegskommunismus« gleichkomme. Jedoch finden sind diese Zahlenwerte in dem von »Bisnes-online« publizierten Text des Berichts nicht zu finden. Dort ist nur zu lesen, dass die Investitionsquote von 18 Prozent auf 25 Prozent erhöht werden sollte. Der ehemalige Stellvertretende Präsident der Zentralbank Sergej Aleksaschenko ist zwar der Ansicht, dass die von Glasjew vorgeschlagenen Maßnahmen Russland in die Katastrophe führen würden, anerkennt allerdings, dass sie einer logischen Argumentation entspringen und hält es für möglich, dass sie von der politischen Führung irgendwann berücksichtigt werden könnten.

Auffallend war, dass Glasjews Kollege in der gesellschaftswissenschaftlichen Sektion der Akademie der Wissenschaften, der Direktor des Instituts für volkswirtschaftliche Prognostik Wiktor Iwanter, ihm in der Wirtschaftszeitung »Expert« nur verhalten Beifall spendete. Nach seiner Ansicht stellt der Bericht Glasjews einen extremen Gegenpol zu den Ansichten von »neoliberalen Ideologen« wie dem ehemaligen Finanzminister Alexej Kudrin dar, was es der Staatmacht erleichtere, einen wirtschaftspolitischen Mittelweg zu gehen. Wohlwollend-kritisch äußerten sich auch zwei Ökonomen, die weder zu den »Liberalen«, noch zu den »linken Planwirtschaftlern« wie Glasjew gerechnet werden können. Oleg Sucharew, Sektorenleiter am Wirtschaftsinstitut der Akademie der Wissenschaften, schrieb im Informationsportal »Russkaja narodnaja linija« (dt. »Russische Volksfront«), dass die Vorschläge Glasjews schon deswegen keine Zustimmung in den Wirtschaftsressorts finden würden, weil die Bürokraten kein Interesse an kardinalen Änderungen hätten, die ihnen nur Arbeit bereiten würden. Eine ebenfalls kritische, zum Teil aber auch zustimmende Stellungnahme zu den Ideen Glasjews (auf Grundlage der ausführlichen Fassung des Berichts) publizierte in seinem Blog Nikita Kritschewskij, Ökonomieprofessor an der »Russischen Staatlichen Sozialen Universität« (RGSU). Volle Zustimmung erfuhr Glasjew von interessierter Seite. Der Mitbesitzer des »Rostower Landmaschinenbaus« (Rostselmasch) Konstantin Babkin sieht sich durch Glasjew in seiner Forderungen nach staatlicher Industriepolitik und billigen Krediten bestätigt. Als Mitorganisator und Finanzier des »Moskauer Wirtschaftsforums« 2015 lud er Glasjew als Hauptreferent auf dem Panel »Strategie des Auswegs aus der Krise« ein. Babkin verwies einleitend stolz darauf, dass sein Unternehmen 2014, während Russlands Industrieproduktion zurückging, seinen Absatz um 20 Prozent steigern konnte – und er nannte auch den Grund: Die Landwirte erhielten Subventionen für die Anschaffung von Technik aus heimischer Produktion. Damit ließ er erkennen, wie Glasjews Rezepte künftig wirken würden.

Was will der Präsident?

Glasjew unterstellt der Zentralbank Russlands sowie den Ministerien für Wirtschaft und Finanzen (und damit auch dem für diese zuständigen Ministerpräsidenten Russlands) offen eine Orientierung an den Interessen des internationalen Finanzkapitals und erwartet daher nicht, dass sie auf seine Vorschläge eingehen. Somit zielt sein Vorstoß implizit auf die Entlassung des Führungspersonals dieser Institutionen und die Besetzung ihrer Positionen durch sich selbst und seine Gesinnungsgenossen, die vor allem in den gesellschaftswissenschaftlichen Instituten der Akademie der Wissenschaften konzentriert sind. Seine eigentlichen Ansprechpartner sind nicht Wirtschafts- und Finanzexperten, sondern der für derartige Personalfragen zuständige Präsident. Putin jedoch reagiert nicht auf die immer drängender vorgetragenen Botschaften seines Beraters, sondern hält (vorläufig) seine schützende Hand über den liberalen »Wirtschaftsblock« der Regierung. Ein Eingehen auf die Vorstellungen Glasjews birgt für Putin nämlich das Risiko, dass er, wenn sich die versprochenen Besserungen nicht einstellen, selbst die Verantwortung für den Fehlschlag des Experiments tragen würde. Überhaupt ist die Wahl des richtigen wirtschaftspolitischen Programms für Putins Popularität und damit für sein Abschneiden in der Präsidentschaftswahl 2018 nur von untergeordneter Bedeutung. Denn die Bevölkerung bewundert ihn nicht als großen Wirtschaftstheoretiker, sondern (außer als Sportskanone in vielen Disziplinen) als einen Staatsmann, der Russland mit der Krim-Annexion und seinem Eingreifen in Syrien wieder den Respekt der Welt verschafft hat.

Dennoch sind die Vorstellungen Glasjews nicht für alle Zeiten vom Tisch, denn sie versprechen – scheinbar – einen Ausweg aus der desolaten wirtschaftlichen Lage: Nachdem der Ölpreis zwischen 2011 und 2013 stagnierte und sich 2014 halbiert hat, funktioniert das auf steigenden Einnahmen aus dem Ölexport basierende Wirtschaftsmodell Russlands nicht mehr (siehe Götz, Stillstand …., i. d. Lesetipps). 2013 setzte in Russland daher eine wirtschaftliche Stagnationsphase ein, die bei Fortdauer niedriger Ölpreise voraussichtlich noch jahrelang anhalten wird, selbst wenn die Mitte 2014 in Kraft gesetzten Wirtschaftssanktionen aufgehoben werden sollten. Die gegenwärtige Regierung kann mit ihrem Ansatz der »Verbesserung der Spielregeln«, darunter der Förderung des Investitionsklimas durch eine verbesserte Rechtslage für die Unternehmen und eine konservative Finanz- und Zentralbankpolitik, keine schnellen Erfolge garantieren. Wie der an der »Europäischen Universität St. Petersburg« tätige Ökonom und Journalist Dmitrij Trawin in einem auf der Webseite des »Komitees für bürgerliche Initiativen« (KGI) veröffentlichten Interview meint, ist eine anhaltende »Stagnationsperiode« (wie unter Leonid Breschnew) zu erwarten, die freilich unter den heutigen marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht wie damals von Warenknappheit geprägt sein werde. Als Berater des Präsidenten würde sogar er ein wirtschaftliches »Mobilisierungsprogramm« wie das von Glasjew empfehlen, da es zumindest für einige Zeit dem Macherhalt des gegenwärtigen Regimes dienlich wäre.

Was Putin jedoch davon abhalten könnte, den »großen Durchbruch« zu wagen, für den Glasjew wirbt, ist ausgerechnet das Vorgehen seines Amtsbruders Aljaksandr Lukaschenka in Belarus. Dem außenwirtschaftlich eng mit Russland und der Ukraine verflochtenen Land drohte 2014 ebenfalls eine schwere Wirtschaftskrise. Daraufhin gab die Zentralbank Anfang 2015 den Wechselkurs des belarussischen Rubels frei, was das Außenhandelsdefizit fast ganz beseitigte, und hob den Leitzins auf 25 Prozent an, was die Inflation deutlich abmilderte. Belarus kooperiert mit dem IWF und der Weltbank und will den Staateinfluss auf die Wirtschaft reduzieren (siehe Alachnovič, Belarus…; i. d. Lesetipps). Das Land, das oft als »letzte Diktatur Europas« bezeichnet wird und das daher eigentlich ideal für Wirtschaftsexperimente à la Glasjew geeignet wäre, verfolgt damit eine seinen Ideen diametral entgegengesetzte Strategie.

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Lesetipps / Bibliographie

Glasjew befindet sich nicht nur gegenüber den »Liberalen«, die an den Spitzen der Zentralbank und der für Wirtschaft zuständigen Ministerien stehen, in einer institutionellen Außenseiterposition, sondern er kann auch seine Argumente nicht auf das Prestige als Inhaber eines Lehrstuhls oder des Leiters einer wissenschaftlichen Institution gestützt vortragen. Dies dürfte sich ändern, wenn eine von ihm eingefädelte Intrige Erfolg hat:

Im Oktober 2015 intervenierte Glasjew gegen die Kandidatur des geschäftsführenden Direktors des Wirtschaftsinstituts der Akademie der Wissenschaften Michail Golownin für die Nachfolge des ehemaligen Direktors Ruslan Grinberg, wobei er fälschlich behauptete, Golownin wäre für eine 2006 der Duma präsentierte Schrift verantwortlich gewesen, in der Überlegungen zu einem Nato-Beitritt der Ukraine angestellt wurden. Eilfertig strich das Präsidium der Akademie der Wissenschaften den qualifizierten Wissenschaftler, dessen Spezialgebiet die Geld- und Währungspolitik ist, von der Kandidatenliste. Man ignorierte, dass Golownin die beanstandeten Passagen nicht verfasst hatte und verantwortlicher Herausgeber der Broschüre nicht er, sondern der Bankier und damalige Duma-Abgeordnete Alexander Lebedew gewesen war. Die Proteste von Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften, darunter des international renommierten Ökonomen Viktor Polterowitsch, gegen die Verwendung politischer Argumente in einer wissenschaftsinternen Angelegenheit wurden übergangen.

Wenn Beobachter dieses Vorgangs an stalinistische Zeiten erinnert werden, so gilt das nur in einer Hinsicht: Wie schon damals spielen Tatsachen und die fachliche Kompetenz dessen, der in Ungnade gefallen ist, keine Rolle. In diesem Fall aber war die Aktion nicht, wie in sowjetischer Zeit, »von oben« angeordnet worden, sondern entsprang Glasjews Absicht, die einflussreiche Leitungsposition seinem Kollegen im Isborsker Klub, Alexander Agejew, zuzuschanzen. Letzterer ist bislang nicht durch Beiträge zur Wirtschaftswissenschaft in Erscheinung getreten, sondern betätigt sich als Futurologe. Er hat nach eigener Darstellung mit Hilfe einer Formel berechnet, dass Russland in historischen Zyklen von 80 Jahren lebt, während China und europäische Staaten Aktivitätszyklen von 60 Jahren aufweisen. Russland gerate daher regelmäßig in Rückstand zu diesen Ländern, den es in einem »großen Durchbruch« aufholen müsse, womit er mit Glasjew konform geht.

Folgen die zuständigen Behörden (die Kommission für Wissenschaft und Bildung beim Präsidenten sowie die Föderale Agentur für wissenschaftliche Organisationen) dem Besetzungsvorschlag Glasjews, wird Agejew dafür sorgen, dass nicht nur er selbst, sondern auch sein Förderer ein prominentes Podium für die Propagierung ihrer verwandten obskuren historischen Gesetze und dem auf ihnen beruhenden »besonderen Weg« Russlands erlangt. Konträre Meinungen dürften am Wirtschaftsinstitut dann nicht mehr geduldet werden.

Roland Götz

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