Die Botschaft
Die alljährliche Ansprache des russischen Präsidenten zur Lage der Nation, die »Botschaft an die Föderalversammlung«, ist kein Rechenschaftsbericht. Sie wird nicht in den beiden Kammern des Parlaments diskutiert, obgleich sie ursprünglich als Rechenschaftsbericht gedacht war. Heute ist der Auftritt des Präsidenten ein repräsentatives Ereignis, zu dem sich die politische Elite Russlands versammelt. Neben den Abgeordneten der Duma und den Vertretern des Föderationsrats – den eigentlichen Adressaten der Botschaft – werden Minister, hohe Beamte, Gouverneure, Kirchenführer und Repräsentanten der Öffentlichkeit eingeladen. So war auch 2015 Creme de la Creme der politischen Klasse im Georgssaal des Kreml versammelt, darunter Kyrill I., Patriarch von Moskau und der ganzen Rus, Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka, den der Blogger Aleksej Nawalnyj gerade wegen der zwielichtigen Geschäfte seiner Familie angeprangert hat, und der »Chirurg«, mit bürgerlichem Namen Aleksandr Saldostanow, Anführer des patriotischen Bikerclubs »Die Nachtwölfe«. Sie alle sind Teil der Inszenierung präsidentieller Macht, als die die »Botschaft« heute zelebriert wird.
Inhaltlich beschäftigt sich die »Botschaft an die Föderalversammlung«, meist nur mit Fragen der Tagespolitik. Selten hat ein Präsident den Versuch unternommen, ein Gesamtbild der Lage zu entwerfen. Weder Putin noch Medwedew haben die »Botschaft« genutzt, um politische Strategien zu entwerfen. Insofern waren auch von der Rede am 3. Dezember 2015 keine Überraschungen zu erwarten.
Der Text selbst wurde von einem Team von Redenschreibern vorbereitet, die Material aus den verschiedenen Ressorts und den Abteilungen der Präsidialadministration aufnehmen und verarbeiten. Was angesprochen wird, in welchem Ton, die Wortwahl und die Reihenfolge der Themen ist Ergebnis gründlicher Abwägung. Die Botschaft richtet sich an die politische Klasse Russlands, der die Führung signalisiert, welche Themen die operative Politik der nächsten Zeit bestimmen werden. Die politisch interessierte Öffentlichkeit kann sich dann Gedanken darüber machen, warum manche Themen nicht behandelt werden, und von welchen Überlegungen sich die engere Umgebung des Präsidenten bei der Ausarbeitung der Rede leiten ließ.
Aufbau und Inhalt der Botschaft 2015
Die Botschaft 2015 war deutlich kürzer als die des Vorjahres – 57 Minuten statt 70. Der Hauptteil war der Wirtschaft und der sozialen Frage gewidmet, knapp ein Fünftel befasste sich mit aktuellen Fragen der Außenpolitik (vgl. Tabelle 1). Eine klare Argumentationslinie oder eine durchgehende politische Idee waren nicht erkennbar. Die »Botschaft« kumuliert die Inputs der verschiedenen Ressortabteilungen und ist entsprechend kleinteilig angelegt.
Terrorismus und Türkei
Ungewöhnlich war, dass der Präsident das Thema Außenpolitik an den Anfang der Rede stellte. Nach einer Schweigeminute, die den russischen Opfern (und nur den russischen Opfern) des Terrorismus galt, stellte Putin zunächst die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus heraus und erinnerte an die Anschläge in Russland – von der Geiselnahme in Budjonnowsk 1995, über die Sprengungen von Wohnhäusern 1999 in Moskau und anderen Städten, den Anschlag in der Moskauer Metro und die Geiselnahme in Beslan im Jahre 2004 sowie den Bombenanschlag im Flughafen Domodedowo 2011 bis hin zum Anschlag auf den russischen Airbus über der Sinai-Halbinsel im Oktober 2015. Nachdem er Russlands Rolle als langjährigen Kämpfer gegen den Terrorismus herausgestellt hatte, ging Putin auf die internationale Situation ein. Er warf den USA (ohne sie beim Namen zu nennen) vor, durch aggressives Vorgehen gegen unerwünschte Regime, durch Zerstörung der Staatlichkeit und Schüren von Gegensätzen in der Region einen Nährboden für Terrorismus und Extremismus geschaffen zu haben. Den Einsatz russischer Streitkräfte in Syrien rechtfertigte er mit der besonderen Bedrohung, die für Russland vom syrischen Terrorismus ausgehe. Und ganz Russland, so Putin, stelle sich dieser Aufgabe mit echt patriotischem Gefühl, hoher Moral und zutiefst überzeugt davon, dass man seine Interessen, seine Geschichte, seine Werte verteidigen müsse.
Vor dem Hintergrund dieser Aussage bot Putin allen zivilisierten Staaten ein umfassendes Bündnis gegen den Terrorismus an. Im nächsten Atemzug attackierte er aber die türkische Führung, die er als Helfershelfer des Terrorismus bezeichnete, und warf ihr vor, den russischen Soldaten in den Rücken geschossen zu haben. Nur Allah, so Putin, wisse, warum sie das getan habe: »…Allah hat anscheinend beschlossen, die führende Clique in der Türkei zu bestrafen, indem er ihr Verstand und Vernunft geraubt hat«. Das war ein Ton, der Verhandlungen mit der Türkei praktisch unmöglich macht. Ebenso, wie die verdeckte Attacke auf die USA der Schaffung einer breiten Allianz gegen den Terrorismus kaum förderlich sein dürfte. Dem Angebot zu einer solchen Allianz folgen also keine konkreten Vorschläge. Es wird auch nicht deutlich, ob die russische Führung über ein Konzept für eine politische Lösung des syrischen Konflikts verfügt. Der Präsident präsentiert lediglich Feindbilder: den Terrorismus und seine türkischen Helfershelfer.
Innen- und Wirtschaftspolitik
Nach den Ausfällen gegen die türkische Führung wandte sich Putin übergangslos der Innenpolitik und den Dumawahlen 2016 zu. Er forderte alle Russen auf, trotz unterschiedlicher politischer Ansichten fest zusammenzustehen: »… wir müssen unsere Geschlossenheit wahren, uns erinnern, dass die Hauptsache für uns Russland ist«.
Dann berührte der Präsident kurz das Thema Korruption und beauftragte den Generalstaatsanwalt, ohne Verzug jeder Meldung über Missbräuche auf diesem Gebiet nachzugehen. Auch Putin wird die Ironie nicht entgangen sein, dass er mit Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka eine Person in die Pflicht nahm, die gerade zwei Tage vorher in einem halbstündigen YouTube-Video als Pate eines Korruptionsrings präsentiert worden war (s. die Zusammenstellung der Blogs zu diesem Thema, unten S. 20). Im Anschluss daran ging der Präsident zur Strafrechtsreform über und schlug vor, kleinere Straftaten für Ersttäter nicht mehr mit Freiheitsentziehung zu bestrafen, und das Geschworenengericht zu reformieren.
Den Abschnitt über Wirtschaftspolitik leitete Putin mit dem Eingeständnis ein, dass die Lage durch den Rückgang der Ölpreise und den Ausschluss russischer Banken vom internationalen Finanzmarkt schwierig geworden sei. Er gab auch zu, dass sich dies auf Einkünfte und Lebensstandard der Bevölkerung auswirke. Aber, so der Präsident, es gebe auch erste positive Anzeichen. Trotzdem müsse man die Politik ändern, zumal die Weltwirtschaftsordnung in Bewegung sei. Russland müsse stark werden. Die Maßnahmen, die er auflistete, zeichneten sich nicht gerade durch Originalität aus – und sind für eine rasche Stärkung der Volkswirtschaft alleine nicht sonderlich zielführend. Er forderte: (1) den Ausbau der verarbeitenden Industrie, (2) Subventionen für Risikobranchen wie Bauindustrie, Maschinenbau und Leichtindustrie, (3) Subventionen für Geringverdiener und (4) einen ausgeglichenen Staatshaushalt. Der erste Punkt findet sich in allen Wirtschaftsprogrammen der letzten 10 Jahre – offensichtlich wurde er bislang nicht umgesetzt. Subventionierung des Prekariats dient der sozialen Stabilisierung, nicht dem Strukturwandel, die Unterstützung von Risikobranchen kann nur dann als Umstrukturierung verstanden werden, wenn sie mit umfassender Modernisierung verbunden ist. Wie solche Maßnehmen ohne zusätzliche Belastungen für den Haushalt finanziert werden können, darüber schweigt sich der Präsident aus.
Er hatte im Übrigen noch einen fünften Punkt: die Stärkung des Vertrauens zwischen »Staatsmacht« und Geschäftswelt. Der Präsident berichtete, dass die Strafermittlungsorgane 2014 insgesamt 200.000 Verfahren wegen Wirtschaftsvergehen eingeleitet hätten, von denen nur 15 % mit einem Schuldspruch endeten. Dabei hätten allerdings 83 % der beschuldigten Unternehmer ihr Geschäft ganz oder teilweise eingebüßt. Dies sei ein Problem, und Putin beauftragte die Staatsanwaltschaften, die Kontrolle über die Strafermittlung zu verbessern. Dieser Auftrag war eine erneute Unterstützung für Tschajka und zugleich eine deutliche Kritik an dessen schärfsten innenpolitischen Gegner, dem Leiter des Strafermittlungskomitees Aleksandr Bastrykin. Zum Ende seiner Ausführungen zur Wirtschaft schlug der Präsident noch vor, die Kapitalamnestie, die bislang noch nicht zu einem verstärkten Rückfluss von Fluchtkapital geführt hat, um ein halbes Jahr zu verlängern.
Importsubstitution, Agrarsektor, technologische Modernisierung und Sozialpolitik
Einen anderen Aspekt stellte Präsident besonders heraus – die Importsubstitution. Diese Politik, die besonders in jenen Wirtschaftsbereichen stimulierend wirken soll, die besonders von Sanktionen betroffen sind, sollte nicht nur Lieferdefizite ausgleichen, sondern auch die Zwangssituation aktiv nutzen, um in Russland die Produktion von Gütern zu entwickeln, die bisher in der nationalen Produktpalette fehlen – mit dem langfristigen Ziel, diese auch auf den Weltmarkt zu exportieren. Die Führung bot dazu Hilfen an und garantierte den Regionen eine Fortsetzung der finanziellen Unterstützung durch das Zentrum. Als positives Beispiel stellte Putin die Landwirtschaft heraus, die bis 2020 nicht nur den russischen Binnenmarkt abdecken, sondern Russland zum größten internationalen Lieferanten gesunder, qualitativ hochwertiger und ökologisch sauberer Agrarprodukte machen werde.
Eine nationale Initiative soll nicht nur die Technologieentwicklung fördern, man wolle auch das Investitionspotential der russischen Sparer nutzen und außerdem den Internethandel ausbauen. Außerdem erklärte Putin, Russland sei an einer weit gefächerten Zusammenarbeit mit internationalen Geschäftspartnern interessiert. Solchen Kooperationen seien auch Integrationsprozesse wie der Eurasische Prozess und die Zusammenarbeit mit China und Vietnam verpflichtet. Europa und die USA erwähnte Putin ausdrücklich nicht – obwohl die EU mit etwa 50 % des russischen Außenhandelsvolumens nach wie vor der wichtigste Handelspartner ist. Schließlich ging der Präsident noch auf den Ausbau der Transportwege und den Ausbau der Fernostregion ein.
Auch im Abschnitt über die soziale Lage entwarf die Botschaft kein geschlossenes Konzept, sie berührte nur eine Reihe unverbundener Einzelpunkte: Verbesserung der demographischen Situation, schulische und vorschulische Bildung, Gesundheitswesen, Verbesserung der Notfallversorgung und der Ausbau des sozialen Bereichs. In diesem Zusammenhang ging Putin auch auf die »Zivilgesellschaft« ein, die er für die Lösung sozialer Probleme fördern und ausbauen will.
Putin schloss die »Botschaft« mit einer Erklärung ab: »Russland hat sich mit lauter Stimme als starker selbständiger Staat mit tausendjähriger Geschichte und großen Traditionen zurückgemeldet, als eine Nation, die sich mit gemeinsamen Werten und gemeinsamen Zielen konsolidiert hat.« Und er zitierte den Chemiker Mendelejew: »Vereinzelt vernichtet man uns sofort. Unsere Kraft liegt in der Einheit, in der militärischen Kraft, im natürlichen Wachstum unseres inneren Reichtums und unserer Friedlichkeit.«
Der politische Gehalt
Geht man den Text durch und fasst alle Einzelaussagen zusammen, entsteht nicht der Eindruck, dass die Botschaft Ausdruck einer durchdachten Politik ist. Die Aneinanderreihung kleinteiliger Maßnahmen fügt sich nicht zu einem politischen Konzept. Besonders hilflos wirkt der Text an den Stellen, wo er sich mit Wirtschaftspolitik befasst. Auf die Frage, was getan werden muss, um die Einkünfte und den Lebensstandard der Bevölkerung zu wahren, gibt Putin keine Antwort. Dennoch behauptet er, Besserung sei eingetreten und verzettelt sich hiernach in der Auflistung von Einzelmaßnahmen. Auch der Aufruf zu einer internationalen Antiterror-Allianz wird nicht durch konkrete Vorschläge untermauert. Insgesamt vermittelt die Botschaft den Eindruck, dass der engere Kreis um den Präsidenten keine Vorstellungen hat, welche Außen-, welche Innenpolitik und welche Wirtschaftspolitik mittelfristig betrieben werden soll. Deutlich wird hingegen, dass die Führung unter dem Druck steht, irgendwie Wirtschaftswachstum zu generieren – sowohl, um international als Großmacht zu erscheinen, als auch um den Lebensstandard der Bevölkerung erhalten zu können.
Die Inhaltsleere der Botschaft wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, was sie alles nicht enthält. So ignoriert Putin den Krim-Konflikt und den Minsk-Prozess. Die Frage der Sanktionen wird nur in einem Halbsatz gestreift. Für die Beziehungen zu den USA und zu den Staaten der Europäischen Union wäre eine Umsetzung des Minsk II-Abkommens von zentraler Bedeutung. Diese würde eine Aufhebung eines Teils der Sanktionen und die Normalisierung der politischen und ökonomischen Beziehungen zur EU ermöglichen. Und erst dies würde den Weg freimachen für neue Investitionen und eine Modernisierung und Umstrukturierung der Wirtschaft. Die Wende nach Asien kann den Handel mit den EU-Staaten und die Investitionen aus der EU kurzfristig nicht ersetzen. In der »Botschaft« war hiervon keine Rede.
Es fehlt offensichtlich auch ein wirtschaftspolitisches Konzept. Man kann mit Fug und Recht daran zweifeln, dass Wirtschaftsminister Uljukajew und dessen Mitarbeiter bei der Rede Hand angelegt haben. Die Vorstellung, der Investitionsbedarf könne aus Sparguthaben der Bevölkerung gedeckt werden, ist dilettantisch. Die Verlängerung der Kapitalamnestie um ein halbes Jahr ist wenig aussichtsreich, nachdem bisher kaum ein Unternehmer das Angebot zur straffreien Rückkehr seines Kapitals nach Russland wahrgenommen hat. Ein nennenswerter Zuwachs an Investitionen ist davon nicht zu erwarten. In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass der Präsident die Politik der »Deoffshorisierung«, die er 2012 in seiner Botschaft proklamiert hatte, um dann 2013 zu bedauern, dass nichts geschehen sei, stillschweigend zu den Akten gelegt hat. Die gescheiterte Initiative wird nicht mehr erwähnt.
Der Text unternimmt noch nicht einmal den Versuch einer Analyse der komplizierten Situation im Nahen Osten. Die Kritik an den USA, die im Text nicht explizit genannt, denen aber die Schuld an der Destabilisierung der Region gegeben wird, ist vielleicht nicht unberechtigt. Doch die Botschaft zeigt keinen Weg auf, wie man sich mit den USA und anderen beteiligten Staaten, etwa dem Iran oder Saudi-Arabien, über ein gemeinsames Vorgehen in Syrien einigen will. Der grobschlächtige Angriff auf die türkische Führung ist nicht geeignet, eine politische Verständigung zu erleichtern. Die russische Führung hat in den letzten Monaten zahlreiche Gespräche mit den Regierungen in diesem Raum geführt und verfügt durchaus über eine gute Übersicht über die Probleme der Region, doch schlägt sich das in der »Botschaft« nicht nieder.
Auch im Bereich der Innenpolitik ist der Bericht lückenhaft. Putin ignoriert den Fernfahrerstreik, der die russische Öffentlichkeit in den letzten Wochen beschäftigt hat, und der durch die Einführung eines Mautsystems namens »Platon« ausgelöst wurde. An »Platon« verdient unter anderem Igor Rotenberg, ein Sohn des Milliardärs Arkadij Rotenberg, dem große Nähe zu Putin nachgesagt wird. Die Blockade von Fernstraßen durch die LKW-Fahrer signalisiert Unzufriedenheit mit den Behörden und den Verflechtungen zwischen Staat und Oligarchen. Doch das ist offenbar kein Thema für den Präsidenten.
Putin geht auch nicht auf den Korruptionsskandal um die Familie von Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka ein, den Aleksej Nawalnyj zwei Tage zuvor öffentlich gemacht hat (vgl. die Dokumentation der Blogs, unten S. 20). Aus Putins Aufträgen an die Generalstaatsanwaltschaft und seiner Kritik an den Strafermittlungsorganen, die mit der Staatsanwaltschaft seit Jahren in einem Konkurrenzverhältnis stehen, kann man sogar schließen, dass der Präsident den Generalstaatsanwalt deckt.
Auch die Diskussion über das Gesetz, das aus dem Ausland finanzierte, politisch tätige NGOs als »ausländische Agenten« brandmarkt, wird von Putin übergangen. Bei ihm kommt nur die »gute« Zivilgesellschaft vor, die – vom russischen Staat gefördert – soziale Probleme löst.
Fazit
Man kann nur spekulieren, warum der Präsident und sein Redenschreiberteam diese lückenhafte Rede zusammengestellt haben. Offenbar gilt der eingefrorene Krieg in der Ostukraine eher als Belastung, an die man die Bevölkerung nicht erinnern will. Auch die Hoffnung, dass Russland mit dem militärischen Engagement in Syrien in den Kreis der Großmächte zurückkehrt, hat sich vorläufig nicht realisiert – die Obama-Administration weigert sich hartnäckig, mit Russland auf Augenhöhe zu verhandeln. Da kommt das aggressive türkische Verhalten gerade recht, um einen Feind zu präsentieren und patriotische Gefühle zu mobilisieren.
Zugleich traut die Führung ihrem Volk nicht. Das Attentat auf den russischen Airbus, der über dem Sinai durch eine Bombe zum Absturz gebracht wurde, hat man so lange schamhaft verschwiegen, bis man die Tatsache im Schatten der Pariser Anschläge öffentlich machen konnte, ohne dass Fragen nach dem Sinn des russischen Einsatzes in Syrien gestellt werden. Offenbar fürchtet man die Kritik. Man fürchtet außerdem einen Rückgang der Akzeptanz des Regimes angesichts der ökonomischen und sozialen Schwierigkeiten und einer möglicherweise erstarkenden Opposition. Anders ist nur schwerlich zu erklären, warum Putin immer wieder die Notwendigkeit zur Einigkeit und Geschlossenheit betont und dazu auch Klassiker wie den großen russischen Chemiker Mendelejew zitiert.
Die Auswahl der angesprochenen Themen und die Aussparung anderer ließe sich also damit erklären, dass der Präsident mit Terroristen und der türkischen Führung einen Feind präsentieren möchte, um den Blick von der Ukraine abzulenken (von »Faschisten« in Kiew ist in der Botschaft nicht die Rede). Zudem hofft man anscheinend auf eine Antiterror-Allianz mit den europäischen Staaten, in deren Schatten der Russland-Ukraine-Konflikt seine Bedeutung verlieren würde – womöglich, ohne dass die Putin-Administration auf der Krim und in der Ostukraine Zugeständnisse machen müsste. Wirtschafts- und sozialpolitisch hat die Putin-Administration offenbar kein Konzept, der drohenden Verschlechterung der Verhältnisse kann sie nur durch den Appell an nationale Geschlossenheit entgegenwirken.
All das stimmt wenig optimistisch. Der Verzicht auf Politik erscheint symptomatisch für eine Führung, die innenpolitisch in den letzten drei Jahren auf Stabilisierung durch Feindbildproduktion gesetzt hat – und dafür die außenpolitische Isolierung und eine Wirtschaftskrise in Kauf genommen hat.