»Die wichtigste Untersuchung des Jahres 2015«, so hatte Alexej Nawalnyj am 1. Dezember 2015 die Aufdeckung einer Korruptionsaffäre um den Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka angekündigt. Nach Angaben der von dem Oppositionspolitiker 2011 gegründeten »Stiftung für Korruptionsbekämpfung« (FBK) gehören der Familie Tschajkas Dutzende Unternehmen in Russland sowie Luxus-Immobilien im Ausland. Nawalnyj zufolge befindet sich das griechische Luxus-Hotel »Pomegranate« im Besitz seines ältesten Sohns Artjom. Die zweite Besitzerin des Hotels sei Olga Lopatina, die ehemalige Frau des stellvertretenden Generalstaatsanwaltes Gennadij Lopatin. Neben den beim russischen Finanzamt nicht angemeldeten Immobilien wirft Nalwalnyj den Söhnen des Generalstaatsanwalts enge Verbindungen zu kriminellen Vereinigungen vor, u. a. zur sogenannten »Bande von Sergej Zapok«, die über mehrere Jahre Unternehmer im südrussischen Krasnodar erpresste und erst nach einem aufsehenerregenden Mordfall inhaftiert wurde. Dem bekanntesten Blogger Russlands ist es mithilfe sozialer Netzwerke, Twitter und seiner Kontakte in der Presse gelungen, in den Medien eine breite Debatte um die Korruptionsaffäre auszulösen. Die Informationen aus der Untersuchung Nawalnyjs machten mehrere Tage Schlagzeilen in den größten unabhängigen Online-Medien. Auf »Youtube« wurde der Dokumentarfilm (»Tschajka«; <https://www.youtube.com/watch?v=eXYQbgvzxdM>) über die Familie Tschajka innerhalb von zwei Wochen 3,5 Millionen Mal angeklickt. Dass das Thema für das offizielle Moskau Tabu ist, zeigen die Reaktionen der kremlnahen Medien und vor allem des staatlichen Fernsehens, das diesen spektakulären Fall einfach totschweigt. Erst während der alljährlichen Ansprache von Wladimir Putin am 3. Dezember wurde just in dem Moment, als der Präsident über den Kampf gegen Korruption sprach, während der Live-Übertragung eine geraume Zeit der Generalstaatsanwalt in Großaufnahme gezeigt. Nach der feierlichen Rede, bei der die ganze politische Elite Russland anwesend war, baten Reporter des Fernsehsenders »Doschd« prominente Politiker um ihre Kommentare zu »Tschajka-Gate«, unter anderem die Dumaabgeordneten Iosif Kobson, Irina Jarowaja und Olga Batalina (alle »Einiges Russland«), den Parteivorsitzenden der Kommunisten Partei Gennadij Sjuganow sowie den Gouverneur des Gebietes Moskau Andrej Worobjow. Das unabhängige Nachrichten-Portal »Fontanka.ru« aus St. Petersburg befragte weitere Dumaabgeordnete und Mitglieder des Föderationsrates zu dem brisanten Fall, darunter Witalij Solotschewskij, Sergej Kalaschnikow und Pawel Krascheninnikow. Am 7. Dezember teilte Dmitrij Peskow, der Pressesprecher des Kreml, Journalisten mit, der Kreml habe von den veröffentlichten Angaben schon lange gewusst und finde die Untersuchung uninteressant. Alexej Nawalnyj reagierte empört auf die offizielle Stellungnahme der Präsidialadministration und versprach, sich um eine penible Ermittlung gegen Tschajka auch in der Europäischen Union zu bemühen. Eine weitere Woche später meldete sich Jurij Tschajka selbst zu Wort, dementierte die Vorwürfe mit der Begründung, der Film sei im Auftrag von Ex-Oligarch Michail Chodorkowskij und dem britisch-amerikanischen Investor Willam Browder entstanden. Der unabhängige Journalist Oleg Kaschin schreibt in seiner Kolumne bei der Deutschen Welle, Putin sei nach dem Korruptionsskandal in eine schwierige Lage geraten, da er gegen Tschajka wohl kaum anhand von Informationen von Nawalnyj vorgehen könne.
»Nawalnyj? Will ich nicht kommentieren. Ich will am Leben bleiben«
»Frage: Wie sollten der Staat, die Behörden, das Parlament des Landes auf die Fakten reagieren, die von Alexej Nawalnyjs »Stiftung zur Bekämpfung der Korruption« zu Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka, seiner Familie und seinen Stellvertretern veröffentlicht wurden?« […]
Witalij Solotschewskij, Duma-Abgeordneter, Mitglied des Ausschusses für die Kontrolle der Angaben zu Einkommens- und Vermögensverhältnissen:
»Oh… Sehr schöne Frage. Nein, ich will es nicht kommentieren. Ich will am Leben bleiben.«
Sergej Kalaschnikow, Mitglied des Föderationsrats:
»[…] Im Rahmen der parlamentarischen Kontrolle muss man den Dokumenten Aufmerksamkeit schenken. Das bedeutet nicht, dass sie für bare Münze nehmen muss. Eine gewisse parlamentarische Überprüfung ist aber zweifellos notwendig. Bereits ein Antrag eines Abgeordneten führt zu einer Untersuchung. Ich spreche von einer parlamentarischen Untersuchung. Die Frage ist nur, wen beauftragen?«
Frage: Sind Sie bereit, einen solchen Antrag in Ihrem Namen zu stellen?
- Noch nicht. Ich muss mich mit dem eigentlichen Material vertraut machen. Vielleicht bringe ich diese Frage am 9. Dezember vor den Föderationsrat.«
Pawel Krascheninnikow, Duma-Abgeordneter, Ausschussvorsitzender für Zivil-, Straf-, Arbitrage- und Prozessordnungsrecht:
»Ich habe keine Ahnung. Was ist dort eigentlich passiert? Wo kann ich mir das anschauen? Ich bin erst von der Arbeit gekommen. Ich muss erst den Mantel ablegen, etwas essen, und dann schaue ich es mir sofort an. Medien lese ich nicht. Ich hab einen anderen Job. Ich mache Gesetze.«
Dmitrij Gudkow, Dumaabgeordneter, Mitglied des Ausschusses für Verfassungsrecht und Staatsaufbau:
»Reagieren müssen alle Behörden, weil es sich um einen der höchstrangigen Silowiki handelt. Eine Untersuchung ist erforderlich. Klar ist, dass nicht Behörden sich damit befassen sollten, die in Abhängigkeit zu hochrangigen Silowiki stehen. Dazu ist in der Welt die parlamentarische Untersuchung erfunden worden. Die Kommission wird aus Vertretern unterschiedlichster politischer Kräfte gebildet […]«
Zusammengestellt von Irina Tumakowa auf Fontanka.ru, 3. Dezember 2015, <http://www.fontanka.ru/2015/12/03/177/>
Ein politischer Akt uns feindlich gesonnener Staaten
Irina Jarowaja, Duma-Abgeordnete, Ausschussmitglied für Korruptionsbekämpfung:
»Heute hat der Generalstaatsanwalt angemessen Stellung genommen. Deswegen sind alle Kommentare in diesem Fall überflüssig. […] Außerdem, wer Herr Nawalnyj ist, ist wohl auch allen bekannt.«
Gennadij Sjuganow, Duma-Abgeordneter, Vorsitzender der Kommunistischen Partei:
»Ich kenne den Sachverhalt nicht. Was den Film angeht, kann man heutzutage alle möglichen Filme zusammenschustern […]. Nawalnyj hat diesen Film nicht allein machen können, das konnten aber die Geheimdienste der USA und anderer Länder. In letzter Zeit sehe ich keinen einzigen guten Schritt den die USA uns gegenüber machen. […]«
Olga Batalina, Duma-Abgeordnete, Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit, Sozialpolitik und Angelegenheiten der Veteranen:
»Ich habe mich mit der Untersuchung noch nicht vertraut gemacht. Ihr Erscheinen scheint mir aber eine Art politischer Akt zu sein. Vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Welt, angesichts der Herausforderungen, vor denen unser Land steht, ist die Frage einer Diffamierung unserer Staatsmacht im Interesse von, sagen wir es direkt, uns feindlich gesonnen Ländern eine Frage, die sich sofort stellt, wenn die eine oder andere Untersuchung, Pseudo-Untersuchung, irgendwelche Materialien auftauchen […]. Ich finde, das ist ein vorsätzlicher, zielgerichteter Versuch und ein bis heute andauerndes Vorgehen zur Diffamierung vor allem des Sicherheits- und Machtblocks unseres Staates.«
Andrej Worobjow, Gouverneur des Gebietes Moskau:
»Ich habe Ihnen gerade gesagt, dass die Polizei- und Justizbehörden ihre Arbeit machen, und wir sind für Kanalisation, Heizung, […] und gute medizinische Versorgung zuständig.«
Iosif Kobson, Duma-Abgeordneter:
»Wenn dies der Wahrheit entspricht, wär das sehr traurig und würde es mir leid tun, dass so ein Mensch in Korruptionsfälle verwickelt ist. Ich wiederhole aber: Ich bin gegen eine Verurteilung, wenn wir das Material noch nicht kennen.
Frage: Werden Sie als Abgeordneter auf einer Untersuchung bestehen?
- Jaja, natürlich, natürlich. Weswegen Tschajka selbst darauf besteht, dass eine Untersuchungskommission gebildet wird.
Frage: Soll er zurücktreten, wenn sich die Sachen bestätigen?
- Unbedingt, da habe ich keinen Zweifel.«
TV-Sender Doschd, 3. Dezember 2015, <https://tvrain.ru/teleshow/vechernee_shou/anton_zhelnov_prishel_v_kreml_ i_sprashival_vseh_o_chajke-399485/>
Rogow: Russland stellt die italienische Mafia in den Schatten
»Das, was die Stiftung für Korruptionsbekämpfung und Nawalnyj gemacht haben, ist wahre Epik und phantastische Arbeit.
Was einen wundert, ist, dass die »Skrepy« [dt. etwa »Werteklammern« ein Begriff, der von Wladimir Putin 2012 als Bezeichnung für den geistigen Zusammenhalt der Bürger Russlands eingeführt wurde, d. Red.] Realität sind: Auf der einen Seite des »Teppichs« steht Generalstaatsanwalt Tschajka, der mit seinem Sohn Igor jedes Jahr den Berg Athos besucht, und auf der anderen Seite steht die Zapok-Bande, die zwölf Menschen ermordet hat, und mit denen er praktisch gemeinsam Geschäfte machte. Da ist sie nun, die Klammer. Und der Kultusminister taucht dort [im Film] kaum aus Zufall auf: er ist dort am rechten Ort. Eine Art nicht erdachter Leviathan.
Es scheint, als ob der »Mafia-Staat« in der Tat ein neues Phänomen und Konzept darstellt, das den Ruhm der klassischen Cosa Nostra in den Schatten stellt. Russland wird offenbar in der Mythologie des 21. Jahrhunderts dafür sorgen, dass der Ruhm der Italiener der Vergangenheit angehört.
Interessanterweise hat der Mafia-Staat sein eigenes Ethos, seine Ideologie und sogar seine außenpolitische Doktrin, deren Triebfeder ebenfalls immer deutlicher wird. Man braucht sich nur an das goldene Brot des gestürzten Janukowytsch zu erinnern.«
Kirill Rogov am 1. Dezember 2015 auf Facebook, <https://www.facebook.com/kirill.rogov.39/posts/1120540861296866> .
Peskow: Wir finden diese Informationen uninteressant
»Ich kann sagen, dass diesen Informationen und seit Langem zugänglich waren und wir uns ungefähr im Sommer damit vertraut gemacht haben. Das war ungefähr im Juni. […] Damals standen andere Autoren hinter diesem Material und wir hielten die Informationen eigentlich schon damals für uninteressant, weil es darin gar nicht um den Generalstaatsanwalt geht. Der Film handelt von seinen volljährigen Söhnen, die vollkommen selbständig ihre Geschäfte führen.«
Dmitrij Peskow am 7. Dezember 2015 auf Interfax, <http://www.interfax.ru/russia/483587>
Nawalnyj: Wie wir die Tschajkas in der Schweiz verfolgen werden
»Heute ist eine Woche seit der Veröffentlichung unserer Untersuchung «Tschajka» vergangen. Drei Millionen Menschen haben sich den Film angeschaut. Die Geschichte hat sowohl Sympathisanten der [Stiftung] FBK betroffen gemacht, als auch diejenigen, die uns nicht ertragen können. Die Verbindung zwischen Staatsanwälten und einer Bande blutrünstiger Mörder schockiert absolut alle.
Nur den Kreml schockiert sie noch nicht. Gestern hat der korrupte Peskow mitgeteilt, die Untersuchung der FBK sei uninteressant. Auf Twitter hat jemand treffend gescherzt: Ein Bürokrat mit einer Uhr im Wert von 40 Millionen hat an einem Generalstaatsanwalt, der an einem Bürokraten mit einer Uhr im Wert von 40 Millionen nichts auszusetzen hat, nichts auszusetzen.
Diese Reaktion zeigt noch einmal den völligen Verfall der öffentlichen Macht in Russland. Für den Kreml sind Bilder auf Zäunen, abgebrochener Zahnschmelz von Mitgliedern der OMON-Sondereinheiten der Polizei [angeblich bei der Demonstration 6. Mai 2012, weswegen Angeklagte im »Bolotnaja-Verfahren« zu Haftstrafen verurteilt wurden] sowie Bibliotheken mit ukrainischer oder türkischer Literatur von Interesse. Die Beamten aus der obersten Etage der Staatsanwaltschaft, die in Zusammenarbeit mit Mördern Geld verdienen, interessieren sie nicht. Der Sohn des Generalstaatsanwalts schnappt sich mit Hilfe von Untergebenen seines Vaters Salzbergwerke und Kiesgruben, doch all das erweckt bei ihnen kein Interesse.
Trotzdem werden wir ein Gerichtsverfahren und Gerechtigkeit anstreben. Wenn es in Russland problematisch sein soll, werden wir es nicht nur hier tun[…]
Wir werden uns peinlich genau und fleißig um eine Ermittlung zu den Verbrechen der Familie des Generalstaatsanwalts Tschajka bemühen; in Russland, in der Schweiz, in Griechenland, auf der europäischen Ebene – wo immer es erforderlich sein wird. Unsere Sache ist gerecht. Zapoks an der Spitze der Generalstaatsanwalt braucht niemand.»
Alexej Nawalnyj am 8. Dezember 2015 auf navalny.ru, <https://navalny.com/p/4593/>
Tschajka: Der Film ist im Auftrag von Chodorkowskij und Browder entstanden
»[…] Der Film, der angeblich von der Stiftung von A. Nawalnyj gedreht wurde, hat mich kaum beeindruckt. Ich muss darauf hinweisen, dass ich in keinem der Sujets dort handelnde Person bin. Ich glaube, hierin bestand das Kalkül der Auftraggeber (ich bin überzeugt davon, dass nicht A. Nawalnyj selbst der Auftraggeber ist), nämlich mich und die Staatsanwaltschaft zu diffamieren und dabei keinerlei Fakten, die meine Handlungen und Entscheidungen betreffen, zu nennen.
Ich habe schon versprochen, diese Auftraggeber zu nennen, und ich werde es tun. Ich bin also überzeugt, dass A. Nawalnyj in dieser Geschichte nur eine äußerst bescheidene Rolle gespielt hat. Alle Mitwirkenden an diesem Film sind bekannt. Sie sind Erfüllungsgehilfen eines großzügig bezahlten Produktionsauftrags. Die Dreharbeiten, Schnitt und Dienstreisen, unter anderem ins Ausland, der Ton haben zweifellos viel Geld und viel Zeit gekostet. Deswegen lässt sich der Kreis der Auftraggeber weiter eingrenzen. Sie sind unter Leuten zu suchen, die über große finanzielle Möglichkeiten verfügen und dabei unser Land im Allgemeinen und die Staatsanwaltschaft im Besonderen hassen, die um jeden Preis die von uns und anderen Justizbehörden eingeleiteten Überprüfungen und Untersuchungen stoppen wollen. Wenn ich im Amt des Generalstaatsanwalts nichts gemacht und niemanden gestört hätte, hätte es niemanden gegeben, der für eine solche eine Filmproduktion tief in die Tasche gegriffen hätte.
Gerade dank der Bemühungen der Generalstaatsanwaltschaft sind kriminelle Machenschaften aufgedeckt worden, bei denen Chodorkowskijs Strukturen russische Organisationen und natürliche Personen finanzieren, die den Interessen unseres Landes, seiner Polizei- und Justizbehörden und des Gerichtswesens entgegenarbeiten.[…]«
Jurij Tschajka am 14. Dezember 2015 auf Kommersant, <http://www.kommersant.ru/doc/2876887>
Kaschin: Tschajka stellt Putin vor eine unangenehme Wahl
»Der Plan von Tschajka liegt auf der Hand: jetzt, da das Regime in Russland eben die Sprache der Verschwörungen und Konfrontationen spricht, kann man dem Schlag nur dadurch ausweichen, dass man sich als Opfer der Feinde Russlands darstellt. Ob die Feinde nun die Wahrheit sprechen oder nicht, spielt dabei nicht die geringste Rolle. […]
Der Generalstaatsanwalt hat nolens volens die Adressaten vor eine unangenehme Wahl gestellt: Entweder teilen sie die konspirologischen Ansichten Tschajkas oder sie geben Nawalnyj Recht. Dass die zweite Variante für Wladimir Putin nicht in Frage kommt, ist eine Chance, dass Jurij Tschajka damit erfolgreich sein könnte.«
Oleg Kaschin am 15. Dezember 2015 auf dw.com; <http://www.dw.com/ru/a-18917948>
Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin
(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)