»Der Untergang Europas«. Die russische Flüchtlingsdebatte

Nach der Berichterstattung über die Eurokrise und den möglichen Austritt Griechenlands aus der EU ist neuerdings das Thema Flüchtlinge ein fester Bestandteil des russischen Diskurses über den »Untergang des Abendlandes«. Die »Politik der offenen Grenzen« wird von den Kreml-Propagandisten dazu genutzt, die europäischen Institutionen anzugreifen. Das Staatsfernsehen verbreitet das Bild gewaltbereiter junger muslimischer Männer und berichtet ausführlich über die Pegida-Demonstrationen, deren Ausmaß und Bedeutung dabei nicht selten übertrieben dargestellt werden. Die Medienkampagne gegen die Flüchtlingspolitik der deutschen Regierung wurde durch Berichte über sexuelle Übergriffe in der Silvesternacht in Köln weiter gefüttert. Höhepunkt war die Geschichte der angeblichen Vergewaltigung einer 13-jährigen in Berlin. »Es gibt Informationen, dass Flüchtlinge in Deutschland angefangen haben, Minderjährige zu vergewaltigen«, begann Jekaterina Andrejewa, die langjährige Moderatorin der meistgesehenen Nachrichtensendung »Wremja«, die Reportage über den Vorfall. Obwohl die Berliner Polizei mehrmals dementierte, dass es eine Vergewaltigung gegeben habe, trieben die russischen Medien die Kampagne ungebremst weiter voran. Dies führte schließlich zu einem diplomatischen Eklat und einem Schlagabtausch zwischen dem russischen Außenminister Sergej Lawrow, der den deutschen Behörden »Vertuschung der tatsächlichen Geschehnisse« vorwarf, und dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der die Instrumentalisierung von Falschmeldungen über die Flüchtlingsfrage durch seinen russischen Amtskollegen kritisierte.

Erste Zeichen einer Kampagne gegen die deutsche »Politik der offenen Grenzen« hatte es schon Ende August gegeben. Die Journalistin Uljana Skoibeda veröffentlichte im September in der Boulevard-Zeitung »Komsomolskaja Prawda« Auszüge aus dem Tagebuch einer Galina Iwanowa, angeblich einer russischstämmigen Frau in Bayern, die Gerüchte und rechte Parolen über die baldige Ankunft muslimischer Migranten verbreitet. Der Schriftsteller Michail Weller schreibt in seinem Blog bei »Echo Moskwy«, die neue Flüchtlingswelle sei ein Angriff auf »unsere europäische Welt«. Der Historiker Andrej Subow diskutiert auf »Facebook« über die Spaltung der europäischen Außenpolitik. Der Russlanddeutsche Alex Schneider schreibt in der kremltreuen Internetzeitung »Wsgljad« seine eigene Version der Ereignisse und betont, es gebe keine Krise, sondern einen Krieg. Der Blogger Alexander Schmeljow wundert sich über das schnelle Umschwenken der russischen Propaganda weg von der Ukraine hin zu den Flüchtlingen. Der Bürgerrechtler Witalij Portnow schreibt auf dem in Russland gesperrten Zeitungsportal »grani.ru«, dass Russland in der Flüchtlingsdebatte wieder seine menschenverachtenden Tendenzen offenbare und Xenophobie als ein Wertesystem zu verkaufen versuche.

Uljana Skojbeda: Chronik des deutschen Untergangs

»Galina Iwanowa ist unsere Landsfrau aus Kasan. Sie hat in Deutschland geheiratet, wurde eingebürgert, wurde wieder geschieden; sie beschloss, sich ihr Diplom anerkennen zu lassen und zu arbeiten… Ihre Pläne zerplatzten aber durch das merkwürdige, unlogische Handeln der deutschen Regierung und die Haltung der Deutschen, die sich nur als selbstmörderisch bezeichnen lässt.

Fast alle Einträge Galinas sind streng dokumentarisch: sie enthalten Verweise auf die größten Medien Deutschlands (ZDF, »Fokus«, »Süddeutsche Zeitung«) und Stellungnahmen Offizieller. Es ist eine echte Chronik des Untergangs Europas.

Wir veröffentlichen das Tagebuch von Januar bis August 2015 ohne Kommentare. Die Autorin aber will fliehen…

4. Januar [2015]

Heute wird im deutschen Internet die Erklärung der Regierung diskutiert, die eine Einfuhr von Migranten aus allen Krisenherden des Planeten für notwendig hält. Bevorzugt werden junge Muslime aus Afrika und dem Nahen Osten: In der Erklärung der Regierung wird von kräftigen Händen gesprochen, die gerufen werden, um die deutsche Wirtschaft zu retten. Man braucht aber nur die Frage zu stellen: »Wo sollen all diese bildungsfernen Männer ohne Deutschkenntnisse arbeiten?«, und schon wird man sofort als »Rassistin« oder »islamophob« abgestempelt.

Und das vor dem Hintergrund des Vorhabens der Regierung, das Renteneintrittsalter auf 70 Jahre anzuheben. Das heißt, die Alten werden ihre Arbeitsplätze bis 70 Jahre innehaben; wo sollen dann aber die jungen Deutschen arbeiten? Wenn die Arbeitslosigkeit schon jetzt 30 % beträgt? Wo sind diese sagenhaften Arbeitsplätze für Ngamba und Yildirim?

Das i-Tüpfelchen ist aber Folgendes: Die deutsche katholische Kirche hat beschlossen, auf das Taufen von Kindern zu verzichten. Der Grund: Man darf den Menschen einen Glauben nicht aufnötigen. Sie sollen aufwachsen und dann selbst entscheiden. Es ist sogar lustig und interessant zu beobachten, wie und mit welcher Geschwindigkeit Europa sich selbst zugrunde richtet. Ich mache es mir mit Popcorn gemütlich.

P.S. Wenn es jemandem einfallen sollte, mir Lügen vorzuwerfen, schauen Sie getrost auf die Internetseite der »Süddeutschen Zeitung« [der folgende Link führt allerdings zur folgenden Seite: <https://www.netzplanet.net/leserzuschrift-nur-die-rente-mit-74-kann-uns-noch-retten/>; d. Red.][…]«

Uljana Skojbeda / Galina Iwanowa am 2. September 2015 auf kp.ru; <http://www.kp.ru/daily/26426/3299114/>.

Weller: Das ist ein Angriff auf unsere Welt!

»Na, glauben Sie noch nicht, dass es das Ende ist?

1. Die krankhafte Anteilnahme der Russen anlässlich der Migranteninvasion nach Europa ist ein anschaulicher Beweis unserer europäischen Selbstidentifizierung. Wir können Europa verfluchen, korrigieren, verachten; wir können es beneiden und leiden, da wir nicht in der Lage sind, uns in seine Prosperität zu integrieren. Es existiert aber fest in unserem Unterbewusstsein als eine wohlhabende alternative Welt, die Glaube und Hoffnung gibt, dass ein besseres Leben real ist, dass es etwas gibt, wonach man streben kann; theoretisch gibt es eine Richtung, in der man für ein gutes Leben abhauen kann. Es ist die Welt weißer Christen, mit der wir unsere Vorstellungen vom Leben und menschliche Beziehungen teilen.

Wir haben die gleiche Literatur, Kunst und Musik, die gleiche Philosophie und Wissenschaft, den gleichen technischen Fortschritt, die gleichen Moden, den gleichen Schönheitskanon, die gleichen Vorstellungen über Gut und Böse. Sogar die [gleichen] Buchstaben sowie Hochzeits- und Bestattungsbräuche. Den gleichen Gott.

Wir sind ein gemeinsamer kultureller und ideologischer Raum. Der einzige Gegensatz: Die europäischen Länder haben deutlich mehr Kriege untereinander geführt als Russland mit irgendeinem von ihnen.

Heute geht es also um den Angriff auf UNSERE Welt. […]«

Michail Weller am 10. September 2015 auf »Echo Moskwy«; <http://echo.msk.ru/blog/weller_michael/1619776-echo/>

Subow: Die Flüchtlinge spalten Europas Außenpolitik

»[…] Das Land, in dem Anfang 2015 noch 20,8 Millionen Menschen lebten, hat 3,5 Millionen Flüchtlinge ins Ausland getrieben (vor allem in die benachbarte Türkei, Libanon und Jordanien). Diese Flüchtlinge versuchen nun, das reiche Europa zu erreichen. Weitere 7,5 Millionen Menschen verließen ihre Wohnorte und gingen in ruhigere Gegenden [des Landes]. Das sind zukünftige Flüchtlinge nach Europa oder zukünftige Radikale in Syrien, weil Menschen, die von ihrer Heimat weggerissen wurden, entweder weiter fliehen oder für das Recht in den Kampf ziehen, zurückzukehren und in ihrer Heimat friedlich leben zu können. Somit sind die Hälfte der Syrier also Flüchtlinge, im Lande selbst oder in andere Länder. Klar, dass die Flüchtlinge dadurch, dass sie nach Europa kommen, rechte nationalistische Parteien wie den »Front National« von Marine LePen reizen. Diese sympathisieren mit der Politik des Kreml in der Ukraine und unterstützen Putin. Wenn sie noch stärker und die »normalen« Parteien noch schwächer werden, dann wird Europa hinsichtlich der Ukraine-Politik Putins gespalten. Und diejenigen Länder, in denen die Rechtsradikalen gewinnen oder einem Sieg nahekommen, werden aufhören, die Sanktionen gegen Russland zu unterstützen. Die geschlossene europäische Front wird gespalten, die Sanktionen werden reduziert oder aufgehoben werden und der Rückzug Putins aus der Ukraine wird nicht mehr lebensnotwendig sein. Das »Problem« ist aber, dass Assads Armee Mitte 2015 überall auf dem Rückzug war. Er verlor einen Armee- oder Luftwaffenstützpunkt nach dem anderen; eine massive Fahnenflucht setzte ein, selbst bei Assads alawitischen Glaubensgenossen. Gleichzeitig wurden die äußerst radikalen Einheiten des IS stärker, vor denen viele Gemäßigte und vernünftige Menschen ebenfalls fliehen, auch Andersgläubige –Christen, Drusen und Alawiten. In dieser Situation hat Putin beschlossen, seinem Verbündeten zu helfen, und durch die Luftangriffe sogar auf Regionen, die nicht vom IS kontrolliert werden, wird die Flüchtlingswelle nach Europa verstärkt. Alles andere wurde schon oben gesagt. Die Ukraine und Syrien sind also keine austauschbaren Elemente, stehen aber im Zusammenhang miteinander. Zumindest objektiv. Ich weiß nicht, was in den Köpfen der Führer im Kreml steckt, ob sie die Situation auch so sehen. Aber als Historiker weiß ich, dass im Kreml seit der Komintern die ruchlosesten, mehrstufigen Pläne weltweiter Aggression geschmiedet wurden. Die Leute waren zwar teuflisch, aber auch sehr klug. Etwas Anderes ist, dass das Werk des Teufels immer im Nichts endet, zuvor wird aber ein hoher Preis bezahlt: Millionen Tote, Dutzende Millionen Leidender. Und dann: nichts.«

Andrej Subow am 5. September 2015 auf Facebook; <https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid= 1640804879538190&id=100008260805221>.

Schneider: Das ist keine Krise, sondern Krieg

»Leute mit gesundem Menschenverstand sind zwischen verwirrten Politikern, feindlicher Presse, gelähmten gesellschaftlichen Organisationen und einer perplexen Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, zu verstehen, was los ist, isoliert und hilflos. […] Es geht um die sogenannte Flüchtlingskrise; weil aber selbst schon dieses Schlagwort gegen uns arbeitet, sage ich, wie die Dinge wirklich stehen: es ist ein Krieg gegen Europa in Form einer Invasion. Wenn Krieg herrscht, ist es sehr wichtig, die Sachen beim Namen zu nennen, weil man dadurch die eigenen Leute von den Feinden unterscheiden kann.

Noch wichtiger jedoch ist es zu begreifen, warum das ein Krieg und keine Krise ist: In dieser Situation sind alle Merkmale einer Militäroperation mit dem Einsatz von Geheimdiensten gegeben.

Lasst uns vor allem Zeit und Dimension dieser Ereignisse anschauen. Der Plan wurde im September in Gang gesetzt und nur ein paar Monate später droht er, ganz Europa zu destabilisieren, in einem Maße, dass selbst europäische »Führer« jetzt von einem Ende der Europäischen Union sprechen. […]

Polizei und Presse wurde befohlen, Meldungen über Straftaten zu verschweigen, die von »Flüchtlingen« begangen wurden. Es wäre also müßig, sie in den Nachrichten und Polizeiberichten zu suchen. Wenn Sie aber das Volk fragen, werden Sie in jeder Stadt in Deutschland Geschichten über Vergewaltigungen und Überfälle zu hören bekommen. […]

Als »Flüchtlinge« begannen, in Läden zu klauen und dann Supermärkte plünderten, befahl die Regierung den Einzelhändlern darüber zu schweigen und erstattet seitdem alles, was gestohlen oder kaputt gemacht wurde. […]

Nur ein großer Anschlag trennt uns vom Beginn des völligen Chaos. Von einigen Menschen, die zu europäischen Staatssicherheitsbehörden gehören, war zu hören, dass der Markt für illegale Feuerwaffen völlig leer ist und dass viele Waffenhändler ihre Bestände zurückhalten, um dann selbst davon Gebrauch zu machen.

Das ist ein Gerücht, aber wir müssen uns auf Gerüchte stützen, um wenigstens irgendeine glaubwürdige Information zu bekommen. […]«

Alex Schneider am 06. 11. 2015 auf »Wsgljad« (vz.ru); <http://vz.ru/opinions/2015/11/6/776671.html>.

Schmeljow: Die einheimische Propaganda denkt sich täglich neue Gruselgeschichten über syrische Flüchtlinge aus

»Mit gewissem Vergnügen beobachte ich, wie die einheimische staatliche Propaganda und die unter ihren Einfluss geratenen Blogger die letzten Wochen über beinahe täglich versuchten, irgendetwas Finsteres zu syrischen Flüchtlingen abzusondern; als Antwort folgt dann oft eine Aufklärung durch Leute, die unmittelbar in Europa leben, diesen Flüchtlingen begegnen oder zumindest Fremdsprachen lesen können und verstehen, worum es geht. […]

»In Deutschland wurden diese Flüchtlinge in ehemaligen Baracken in Buchenwald untergebracht, die Deutschen haben jeden Anstand verloren!« Als Antwort wird die tatsächliche Meldung aus deutschen Medien übersetzt, wo es heißt, dass es den Vorschlag zur Unterbringung eines Teils der Flüchtlinge im Wohnheim der Gedenkstätte Buchenwald – und das natürlich keineswegs in den Baracken – in der Tat gegeben hat, dass dieser aber genau aus dem Grund abgelehnt wurde, unnötige Assoziationen zu vermeiden.

Und so weiter, und so fort.

Es ist erstaunlich, aber es scheint, dass derartige Mythen, Fakes und Schreckgespenster, die über die Ukraine umgingen, sehr viel lebensfähiger waren. Obwohl es dort, so sollte man denken, keine Sprachbarriere gab und es einfacher sein sollte, alles zu widerlegen. Die Realität ist jedoch anders. […]«

Alexander Schmeljow am 16. September 2015 auf »Facebook«; <https://www.facebook.com/aashmelev/posts/97 3672552676065>.

Portnow: Russland ist furchtbar unmodern – wegen seiner unglaublichen Xenophobie, die man als Wertesystem zu verkaufen versucht

»Die unterschiedlichen Reaktionen in Europa und Russland auf die Migrantenkrise lassen einen über den tatsächlichen Bruch nachdenken, der zwischen den Zivilisationen besteht und der sich im Laufe der Jahre nur verschärft.

Man könnte meinen, die Europäer selbst, auf die diese heftige Herausforderung niederging, müssten schockiert sein; aber in Europa sind sowohl Politiker als auch Medien und normale Bürger darauf konzentriert, wie man das Problem lösen und den notleidenden Menschen helfen kann. Klagen über schreckliche Muslime, unhygienische Migranten, ein sterbendes Europa werden sie da nicht zu hören bekommen. Und wenn, dann in verdächtiger Nähe zu den Grenzen Russlands. Dort, wo es noch vor kurzem entweder die Sowjetunion oder den Warschauer Pakt gab.

In Russland selbst gibt es aber andere Emotionen. Der eine meint, dass es mit dem verfluchten, verfressenen Europa endlich aus sei; die Flüchtlinge werden es aufzehren und sich nicht daran verschlucken. Jemand ist enttäuscht, dass es diese bequeme »alte Dame« nicht mehr geben wird: mal ins Museum gehen, am Strand liegen, sich in Mailand durch die Boutiquen shoppen: überall wird es »sie« geben. Arme dumme Europäer! Sie verstehen nichts! Wir werden es ihnen schon erklären! […]

Russland ist gerade wegen seiner irrsinnigen, unfassbaren und für ein ehemaliges Reich nicht hinnehmbaren Xenophobie ungeheuer unmodern, einer Xenophobie, die aus irgendeinem Grund als Wertesystem präsentiert wird, obwohl es in diesem System außer einem fast unverhohlenen Hass gegen das Fremde eigentlich nichts gibt. […] Die Verachtung, mit der man in Russland den Bewohnern des Kaukasus (einschließlich des russischen Teils) und Zentralasiens begegnet, ist in Europa das Terrain der Neonazis und anderer Randerscheinungen. […]«

Witalij Portnow am 4. September 2015 auf »grani.ru«; <http://grani.ru/opinion/portnikov/m.244053.html>.

Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)


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