Die Debatte um das Verfahren gegen Nadeschda Sawtschenko

Von Sergey Medvedev (Moskau)

Am 9. März fand die letzte Gerichtssitzung im umstrittenen Prozess gegen Nadeschda Sawtschenko statt. Die ukrainische Militärangehörige und Freiwillige des Bataillons »Ajdar« war 2014 in der Ostukraine von Separatisten gefangen genommen worden und auf ungeklärte Weise in die Hand russischer Behörden gelangt, von denen sie dann vor Gericht gestellt wurde. Die russische Anklage wirft der ukrainischen Kampfpilotin vor, an dem Artillerieangriff im Gebiet Lugansk als Koordinatorin beteiligt gewesen zu sein, bei dem zwei russische Journalisten getötet wurden. Die Staatsanwaltschaft fordert 23 Jahre Freiheitsentzug. Das Urteil soll am 21. und 22. März verkündet werden. Sawtschenko bestreitet die Anschuldigungen. Die Verteidigung weist darauf hin, dass die Angeklagte bereits in Gefangenschaft war, als die russischen Journalisten getötet wurden. Ihr Schlusswort sprach Sawtschenko in der südrussischen Provinz Rostow auf Ukrainisch; sie äußerte sich dabei scharf zum »totalitären Regime« in Russland, drohte auch dem Kreml mit einem »Maidan«, sprang dann auf die Bank, zeigte den »Stinkefinger« und sagte, das sei ihr letztes Wort. Wegen »ungebührlichen Verhaltens« vor Gericht wurde ihr ein Arzttermin gestrichen. Aus Protest gegen ihre Inhaftierung war die ukrainische Pilotin 2015 mehrere Wochen in einem Hungerstreik gewesen. Am 3. März 2016 trat sie erneut in einen Hungerstreik, verweigerte dieses Mal aber nicht nur Nahrung, sondern auch Wasser. Am 10. März brach sie den Hungerstreik plötzlich ab, nachdem einer ihrer Rechtsanwälte ihr einen Brief übergeben hatte – angeblich ein Brief des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko mit der Bitte, den Hungerstreik zu beenden. Am Folgetag stellte sich jedoch heraus, dass der Brief nicht von der ukrainischen Präsidialadministration stammt, sondern die Fälschung zweier Aktivisten war, die dadurch Sawtschenko das Leben retten wollten.

Im Vorfeld des letzten Verhandlungstages kam es vor der russischen Botschaft in Kiew und den Konsulaten in Charkiw, Odessa und Lwiw zu Protesten. Die Demonstranten forderten die sofortige Freilassung Sawtschenkos und bewarfen die offiziellen Vertretungen Russlands mit Steinen und Farbbeuteln. In Russland begingen Dutzende Aktivisten den internationalen Frauentag mit Mahnwachen für Sawtschenko. Nach Angaben des Menschenrechtsportals »MWD-Info« wurden dabei in Moskau 30 Demonstranten und in St. Petersburg 11 Menschen wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz von der Polizei festgenommen. Darüber hinaus forderten Hunderte prominente Politiker, Wissenschaftler und Kulturschaffende sowie mehrere Mitglieder des russischen PEN-Klubs, darunter die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, die Freilassung der ukrainischen Pilotin. Die Menschenrechtsorganisation Memorial erkannte Sawtschenko als politische Gefangene an. Die ehemalige Chefin des russischen Senders REN-TV, Irena Lesnewskaja, veröffentlichte am Frauentag einen emotional geladenen Appell an Wladimir Putin. Grigorij Jawlinskij, einer der Gründer der russischen Oppositionspartei »Jabloko«, nannte in seinem Blog die Gerichtsverhandlung um Sawtschenko eine Abrechnung des Kreml. Der kremlnahe Blogger Alexej Ostalzew kritisierte die Protestaktion der ukrainischen Kampfpilotin im Gericht scharf und bezeichnete es als typisches Verhalten aller Ukrainer.

Die Leiterin des Auswärtigen Dienstes der EU Federica Mogherini sowie die Außenminister Frankreichs und der USA riefen den Kreml zur sofortigen Freilassung der ukrainischen Pilotin auf. Dutzende Abgeordnete des europäischen Parlaments forderten neue Sanktionen gegen Russland und veröffentlichten den Entwurf einer »Sawtschenko-Liste« mit 29 russischen Politikern und Beamten, die an der Inhaftierung der Ukrainerin beteiligt gewesen sein sollen, unter anderem Präsident Wladimir Putin, FSB-Chef Alexander Bortnikow und der Leiter des Ermittlungskomitees Alexander Bastrykin. Der Kremlsprecher Dmitrij Peskow kritisierte das als Versuch europäischer Parlamentarier, sich in den Gerichtsprozess in Russland einzumischen. Zuvor hatte Maria Sacharowa, eine Vertreterin des russischen Außenministeriums, auf »Facebook« Stellung zu den Forderungen des US-amerikanischen Außenministers John Kerry genommen. Ihr Beitrag auf Facebook wurde viele Tausend Male geliket und gesharet.

Poroschenko gab am 9. März zum ersten Mal bekannt, dass ein Austausch von Nadeschda Sawtschenko nicht ausgeschlossen sei. Sergej Parchomenko, Journalist von »Echo Moskwy«, weist aber darauf hin, dass der Preis für den Austausch von Nadeschda Sawtschenko sehr hoch wäre. Die russischen Gefangenen in der Ukraine seien für den Kreml uninteressant, stattdessen habe man eher an Viktor But ein Interesse, der in den USA wegen Waffenhandels zu 25 Jahren Haftstrafe verurteilt wurde.

Lesnewskaja: Herr Präsident, stoppen Sie diese Willkür!

»Herr Präsident! Ich schreibe Ihnen am Vorabend des internationalen Frauentags als Bürgerin Russlands und als einfache Frau. In einem russischen Gefängnis und vor den Augen der ganzen Welt, stirbt im trockenen Hungerstreik eine mutige Frau – Nadeschda Sawtschenko!

Ich bitte, appelliere an das Menschliche, Christliche, ja Männliche in Ihnen, damit Sie diese Willkür beenden und Nadeschda unverzüglich gegen russische Gefangene austauschen oder sie durch Ihren Erlass begnadigen! Beleidigen Sie nicht Russland, seine Männer und Offiziere, die noch eine Vorstellung von Ehrgefühl haben!

Selbst wenn Sie eine ukrainische Offizierin, die die Souveränität ihres Landes verteidigt, für eine Feindin halten – haben Sie Respekt für Feinde! Ich betrachte Sie auch als ideologischen Feind; doch lassen Sie mich bitte den Präsidenten meines Landes wenigstens als jemanden wahrnehmen, der ein Mann ist!«

Irena Lesnewskaja am 6. März 2016 bei »Echo Moskwy«; <http://echo.msk.ru/blog/echomsk/1725006-echo/>.

Jawlinskij: Das Gerichtsverfahren gegen Sawtschenko ist ein Akt der Vergeltung des Kreml

»Die russische Justiz hat wieder einmal unter Beweis gestellt, dass ihr Ruf nicht nur auf dem Nullpunkt, sondern im Minusbereich angekommen ist. Das Regime hat mit Nadeschda Sawtschenko öffentlich abgerechnet. Es war eben ein Akt der Vergeltung und kein Akt der Rechtsprechung. Dem Regime ging es in diesem Gerichtsprozess ganz offensichtlich nicht um eine objektive Untersuchung des Todes unbewaffneter russischer Bürger im Osten der Ukraine, sondern vielmehr darum, Rechnungen zu begleichen. Deswegen geriet das Gerichtsverfahren zu einem schändlichen, einseitigen Prozess.

Eine gerechte Verhandlung des Falls Sawtschenko, wie auch generell eine Untersuchung der Ereignisse der letzten zwei Jahre im Südosten der Ukraine sind nur unter der Zuständigkeit eines speziell eingerichteten internationalen Gerichts möglich. Eines Gerichts, das Recht spricht, und nicht einen politischen Schauprozess veranstaltet.«

Grigorij Jawlinskij am 9. März 2016 auf »Facebook«; <https://www.facebook.com/yavlinsky.yabloko/posts/10211955 84640265>.

Ostalzew: Recht – das ist zu kompliziert für Abkömmlinge eines Vergeltungsbataillons

»Sawtschenko verkörpert sehr gut die heutige Ukraine.

Sie versteht aufrichtig nicht, was sie vor Gericht soll. Und zwar nicht nur, weil sie vor einem russischen Gericht steht. Sondern weil sie Gericht als Erscheinung generell nicht versteht. Recht – das ist zu kompliziert für Abkömmlinge eines Vergeltungsbataillons.

Das Bewusstsein Sawtschenkos, wie auch das kollektive Bewusstsein der Ukraine, befindet sich in einem »prärechtlichen« Feld – in einer Ära, in der ein Lebensweg von Macht, List, Erfolg und Schläue abhing. Deswegen springt sie wie ein Orang-Utan auf den Stuhl und zeigt dem Richter den Mittelfinger, denn nur so wurden in der »prärechtlichen« Gesellschaft Probleme gelöst.

Die gerichtliche Suche nach der Wahrheit ist zu lang, zu langweilig und zu unverständlich. […]

Wir, die Russen, versuchen uns in dem Fall Sawtschenko an ein Strafrecht zu halten, vor dem alle gleich sind. Aber das alles verblasst vor dem energischen »Ruhm der Ukraine!« und dem Widerhall »Ruhm den Helden!«. Und genau darin besteht das ganze Wesen der ukrainischen Willkür.«

Alexej Ostalzew am 10. März 2016 bei »vz.ru«; <http://vz.ru/club/2016/3/10/798640.html>.

Sacharowa: Die USA instrumentalisieren die Menschenrechte

»Morgen soll eine Gerichtsverhandlung zum Fall N. Sawtschenko stattfinden. Am Vorabend wurde die Stellungnahme J. Kerrys veröffentlicht, dem Außenminister der USA, in der von dessen tiefer Besorgnis um das Schicksal von N. Sawtschenko die Rede ist, u. a. wegen ihres Hungerstreiks, wegen »mutmaßlicher« »erzwungener psychiatrischer Begutachtung« und Einzelhaft und davon, dass ihre andauernde Inhaftierung angeblich von der Missachtung internationaler Standards durch Russland und einem Verstoß gegen das Minsker Abkommen zeugt. Am Ende wird an Russland appelliert, N. Sawtschenko unverzüglich freizulassen und sie in die Ukraine zurückzubringen.

All das ruft Zweifel an der Autorenschaft hervor.

Es kann nicht sein, dass J. Kerry

Nicht weiß, dass N. Sawtschenko im Minsker Abkommen mit keinem Wort erwähnt wird und dieser Fall unter keine der dort festgehaltenen Bestimmungen fällt.Nicht versteht, dass die Veröffentlichung eines Appells zur Freilassung der Angeklagten einen Tag vor der Gerichtsverhandlung direkten Druck auf das Gericht ausübt, mit dem Ziel der Einflussnahme auf dessen Entscheidung.Sich nicht an die russischen Opfer amerikanischer »Linkssprechung« erinnert (But, Jaroschenko und andere), die Washington schon seit Jahren nicht »unverzüglich freilassen« will, und die erst nach der Einmischung von Vertretern des russischen Außenministeriums medizinische Behandlung erhielten.Sich nicht bewusst ist, dass die veröffentlichte Stellungnahme vor dem Hintergrund der monatlich erscheinenden neuen Informationen über CIA-Geheimgefängnisse und das Schicksal des ausländischen Kontingents von Guantanamo, das jenseits des Gerichtssystems und der Verfassung der USA steht, grotesk anmutet.Nicht darüber nachdenkt, dass sein Ministerium kein Interesse an der Ermittlung der Ermordung zweier russischer Journalisten von WGTRK [Staatliches Rundfunkunternehmen; d. Red.] gezeigt hat. I. Korneljuk und A. Woloschin waren Journalisten, die zum Zeitpunkt ihres Tods ihren Beruf ausübten. Das völlige Desinteresse an der Suche nach Mördern von Medienvertretern, deren Schicksal dem US-Außenministerium in der Regel doch so sehr am Herzen liegt, stellt einen unmittelbaren Beweis dafür dar, dass Washington die menschenrechtliche Problematik ausschließlich zu politischen Zwecken einsetzt.Nicht ahnt, dass die USA bei der Zahl illegal entführter ausländischer Staatsangehöriger sich für mehrere Jahre im Voraus eine Führungsrolle gesichert hat, wobei sich niemand im Wettbewerb mit ihnen befindet. Nicht mal im Ansatz. Und letztendlich sollte man sich vor der Veröffentlichung eines solchen Appells festlegen, ob eine Rechtsanwendung außerhalb des Hoheitsgebiets legal ist oder nicht. […]«

Maria Sacharowa am 8. März 2016 auf »Facebook«; <https://www.facebook.com/maria.zakharova.167/posts/102 09148447537985>.

Parchomenko: Russland könnte Sawtschenko gegen But austauschen

»[…] Russland ist bereit, Sawtschenko auszutauschen. Aber nicht gegen russische Militärangehörige in ukrainischer Gefangenschaft (etwa Jerofejew und Alexandrow). Sondern gegen Viktor But, der in den Staaten wegen einer Reihe von Verbrechen zu 25 Jahren »Gefängnis unter maximal strengen Haftbedingungen« verurteilt wurde, darunter wegen »criminal conspiracy zur Waffenlieferung an terroristische Organisationen«. Ganz nebenbei: In der Debatte um den Fall But tauchte ziemlich oft der Name Igor Setschin auf, der mit But als Dolmetscher in Mosambik gearbeitet hat und ihn gut kannte.

Damit ist alles klar.

Die Chancen, dass die USA But gegen Sawtschenko austauschen, gehen aber meiner Ansicht nach gegen Null.«

Sergej Parchomenko am 11. März 2016 auf Facebook; <https://www.facebook.com/serguei.parkhomenko/posts/102 08679917584794>.

Ausgewählt und eingeleitet von Sergey Medvedev, Moskau

(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)

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Von Il’ja Kalinin
Russlands Führung steht im Jahr 2017 vor einer Herausforderung: Sie muss Erinnerung an die Oktoberrevolution in ein Geschichtsbild verpacken, das Revolutionen als solche ablehnt. Ihre zentrale Botschaft lautet: Versöhnung. Doch es geht nicht um den Bürgerkrieg 1917–1920. Die Vergangenheit ist nur vorgeschoben. Es geht darum, jede Form von Kritik am heutigen Regime als Bedrohung des gesellschaftlichen Friedens zu diffamieren und mit dem Stigma zerstörerischer revolutionärer Tätigkeit zu belegen. (…)
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Kommentar

Die GUS im Transformation Index (BTI)

Von Sabine Donner
Seit 2003 misst der Transformation Index (BTI) alle zwei Jahre die Fortschritte von 128 Transformations- und Entwicklungsländern auf ihrem Weg zu rechtsstaatlicher Demokratie und sozial verantwortlicher Marktwirtschaft (Status-Index) und bewertet die Qualität der politischen Steuerungsleistungen der handelnden Akteure (Management-Index). Die aktuelle Auflage des BTI, der BTI 2010, wurde im November 2009 veröffentlicht.
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