Die Arbeitsgruppe zum Monitoring der Rechtsanwendung im Zusammenhang mit Unternehmern
Zu sowjetischer Zeit wusste der fortschrittlichere Teil der Gesellschaft sehr wohl, dass offizielle Informationen in der Regel nicht wörtlich zu nehmen waren, sondern symbolisch (da in den Nachrichten bisweilen praktisch keinerlei Information enthalten waren). Anders gesagt: Es kam darauf an, den Hintergrund zu sehen und zwischen den Zeilen zu lesen. So bestand die wichtigste Information oft nicht in dem, was die betreffende Nachricht enthielt, sondern darin, was dort fehlte (obwohl es der Logik nach dort sein müsste). In unserer Zeit, da das Internet und soziale Netzwerke totale Verbreitung gefunden haben, ist die Situation zweifellos erheblich anders, doch gibt uns die aus der Vergangenheit ererbte Erfahrung des Zwischen-den-Zeilen-Lesens eine Möglichkeit an die Hand, in einigen Nachrichten das zu lesen, was die Offiziellen, die sie verkündeten, lieber nicht direkt sagen wollten. Betrachten wir also unter diesem Aspekt die unlängst erfolgte Ankündigung, dass in der Präsidialadministration eine Arbeitsgruppe zum Monitoring der Rechtsanwendung im Zusammenhang mit Unternehmern gebildet werden soll (<http://www.kremlin.ru/events/president/news/51343>; englische Fassung: siehe die Lesetipps).
Erwähnt sei zunächst, dass diese Meldung bald nach dem in Moskau einsetzenden Abriss Dutzender Kioske und Läden auf den Titelseiten der Presse auftauchte (die Läden werden von der Kanzlei des Moskauer Bürgermeisters als »rechtswidrige und ungenehmigte Eigenbauten« eingestuft, ungeachtet von Gerichtsentscheiden, die die Eigentumsrechte der Besitzer bestätigen <http://www.rbc.ru/business/09/02/2016/56 b901239a7947d50d5633d2>), und zwei Tage vor der Festnahme von Dmitrij Kamenschtschik, des Besitzers des Moskauer Flughafens Domodedowo, die auf Initiative des Strafermittlungskomitees erfolgte. Im letzteren Falle hat sich die Generalstaatsanwaltschaft gegen diese Verhaftung gewandt (<http://ria.ru/inci dents/20160220/1377802970.html>). Beide Vorfälle haben in Unternehmerkreisen für einige Nervosität gesorgt.
Das ist der Hintergrund, vor dem die Schaffung einer eigenen Arbeitsgruppe verkündet wurde, die Konfliktsituationen zwischen den »Machtbehörden« (den Silowiki) und den Unternehmen mit lösen soll. Leiten wird die Arbeitsgruppe Sergej Iwanow, der Leiter der Präsidialadministration; als Mitglieder wurden die Leiter der führenden Unternehmerverbände (des Russischen Verbandes der Industriellen und Unternehmer »RSPP«, des Verbandes »Delowaja Rossija«, des Verbandes kleiner und mittlerer Unternehmen »OPORA Rossii«, der Industrie- und Handelskammer der Russischen Föderation »TPP RF«), Vertreter des Innenministeriums, des Strafermittlungskomitees, des FSB und der Generalstaatsanwaltschaft (im Range des stellvertretenden Behördenleiters) sowie zwei Berater des Präsidenten berufen: Andrej Belousow (verantwortlich für die Wirtschaft) und Larissa Brytschewa (Leiterin der Verwaltung Staatsrecht [in der Präsidialadministration]).
Die Zweckmäßigkeit einer solchen Arbeitsgruppe wurde am 15. Februar 2015 durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin bei einem Gespräch mit Alexander Schochin dargelegt, dem Präsidenten des RSPP (<http://rspp.ru/news/view/8933>). Anschließend kommentierte Putin am 16. Februar auf einer allrussischen Konferenz von Gerichtsvorsitzenden die Ziele einer derartigen Arbeitsgruppe, während Sergej Iwanow, Leiter der Präsidialadministration, gegenüber Journalisten Näheres zur Arbeit dieser Gruppe erzählte. Seinen Äußerungen zufolge werde die Arbeitsgruppe nicht konkrete Fälle behandeln; ihre Tätigkeit sei allgemein darauf gerichtet, die Bedingungen für das Funktionieren ehrlicher und transparenter Unternehmen zu erleichtern (<http://ria.ru/economy/20160216/1375559934.html>). Wenig später allerdings schloss Dmitrij Peskow, der Pressesprecher des Präsidenten, nicht aus, dass die Arbeitsgruppe auch einzelne aufsehenerregende Fälle behandeln werde (<http://www.rosbalt.ru/federal/2016/02/19/1491611.html>). Vertreter von Unternehmensverbänden waren in ihren Einschätzungen vorsichtiger, gehen aber insgesamt davon aus, dass, obgleich die Beschlüsse der Arbeitsgruppe nur Empfehlungscharakter haben sollen, deren Gewicht dadurch verstärkt werde, dass sich die betreffenden Fragen unter der Aufsicht der Präsidialadministration befindet (<http://www.rbc.ru/economics/16/02/2016/56c356ff9a794756f30a2aba>).
Der Hintergrund und die Kräfteverhältnisse
Was sagen uns nun diese Meldungen? Die erste und naheliegendste Erklärung wäre: Die Regierung ist wegen der Lage der Wirtschaft beunruhigt (offiziellen Prognosen des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung zufolge ist 2016 ein Rückgang des BIP von 0,8 Prozent zu erwarten, werde die Industrieproduktion um 0,4 Prozent sinken und der Kapitalabfluss 50 Mrd. US-Dollar bei einem Ölpreis von 40 US-Dollar pro Barrel betragen; <http://www.vedomosti.ru/economics/articles/2016/01/15/624101-rossiyu-zhdet-esche-god-retsessii>). Daher würde die Regierung versuchen, den Unternehmen zu helfen – durch eine weitere Auflage einer »Verbesserung des Geschäftsklimas«. Dem stärker interessierten Leser sagen diese Meldungen erheblich mehr.
Unter anderem zeigt die Zusammensetzung der Arbeitsgruppe, wer der Chef ist. Bereits 2007 hatte ein stellvertretender Minister für wirtschaftliche Entwicklung auf einer durchaus offiziellen Sitzung, zu der auch eine Reihe Experten eingeladen waren, einen interessanten Satz gesagt: »Wir alle wissen sehr wohl, wer bei uns die wichtigsten Wirtschaftsbehörden sind: nicht das Finanzministerium und das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung, sondern das Innenministerium, der FSB und die Staatsanwaltschaft.« Allerdings fügte eben jener stellvertretende Minister dann hinzu, dass das Gesagte nicht bedeute, dass in der Präsidialadministration eine Entscheidung zugunsten eines bestimmten Modells gefallen sei. Dort sei man bereit, die unterschiedlichsten Ideen aufzugreifen. Gleichwohl zeigt bereits die Tatsache, dass eine solche Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz niemandes geringeren als dem Leiter der Präsidialadministration gebildet wird, dass sich bei uns in den neun Jahren nur wenig verändert hat. Genauer gesagt: Was damals für Eingeweihte offensichtlich war, ist heute für alle klar ersichtlich und Putin erkennt das im Grunde als gegeben an.
Beleg hierfür ist die Liste derjenigen, die zur Arbeitsgruppe gehören. Dort sind zum Beispiel keine Vertreter des Obersten Gerichts zu finden, das ja schließlich über solche Konflikte gemäß der geltenden Gesetzgebung entscheiden sollte (und eben dies geschieht in vielen Ländern in Ost und West. Ebenso fehlen dort Vertreter der Staatsduma und des Föderationsrates, in denen ja eigentlich diese »geltende Gesetzgebung« verabschiedet wird. Und schließlich fehlt dort Boris Titow, der Bevollmächtigte für die Rechte der Unternehmer, der 2012 in dieses Amt in der Präsidialadministration aus eben dem Grund berufen wurde, um einen Schutz der Unternehmen vor dem Druck durch Silowiki zu gewährleisten. Das Fehlen des Ministers für wirtschaftliche Entwicklung, Alexej Uljukajew, muss dann schon nicht mehr kommentiert werden…
Dem lässt sich natürlich entgegenhalten, dass in der Arbeitsgruppe der Wirtschaftsberater des Präsidenten, Andrej Belousow, vertreten ist, einst selbst Minister für wirtschaftliche Entwicklung. Doch fungiert er hier als Vertreter der Präsidialadministration, was hinreichend deutlich die technische Rolle unterstreicht, die der »Wirtschaftsblock« der Regierung heute innehat. Der Umstand hingegen, dass der Arbeitsgruppe »handverlesene stellvertretende Minister« angehören, bedeutet, dass die Leiter der entsprechenden Behörden nach wie vor die Möglichkeit haben werden, im Rahmen direkter Kontakte zum Präsidenten zuvor ergangene Beschlüsse der Arbeitsgruppe zu ihren Gunsten zu revidieren.
Was bleibt unter dem Strich? Das Regime erkennt öffentlich an, dass die Willkür von Polizei und Justiz der wirtschaftlichen Entwicklung schadet und dass die Machtministerien, die Silowiki, über dem Gesetz stehen. Ebenso wird eingestanden, dass die vorangegangenen Versuche zur Änderung der Lage (zunächst die Änderungen im Strafgesetzbuch und der Strafprozessordnung, dann die Schaffung eines Bevollmächtigten zum Schutz der Rechte von Unternehmern, der aufgrund eines eigens verabschiedeten Gesetzes tätig ist) nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht haben, nämlich Wirtschaftswachstum und einen Anstieg der Investitionen.
Was wird stattdessen vorgeschlagen? Eine Lösung entstehender Probleme per »manueller Steuerung« in einem Format, in dem Polizei und Justiz weiterhin über dem Gesetz stehen. Schließlich sollen Konfliktsituationen zwischen Silowiki und Unternehmen vom Leiter der Präsidialadministration behandelt werden, einer Behörde, die in der Verfassung nicht vorgesehen ist, die aber in Wirklichkeit über sehr viel größere Vollmachten verfügt, als die Exekutive oder die Judikative.
Was ist von dieser neuen Institution zu erwarten? Wie Jana Jakowlewa völlig zurecht in ihrem Kommentar (<http://www.forbes.ru/mneniya-column/siloviki/313197-slomat-konveier-kak-osvobodit-biz nes-ot-davleniya-silovikov>) anmerkt, liegen die Schlüsselprobleme in den Beziehungen zwischen Unternehmen und Silowiki nicht im Gehalt der Gesetze, sondern in der Praxis der Rechtsanwendung, die nur anhand konkreter Fälle erkennbar wird.
In diesem Kontext wäre eine Einstellung des Strafverfahrens gegen Kamenschtschik aufgrund der Arbeit einer Arbeitsgruppe mit derart hochgestellten Amtsträgern besser als nichts. Allerdings sind prinzipielle Veränderungen in dem Verhältnis zwischen Rechtsschützern und Unternehmen kaum zu erwarten, bleibt doch das Prinzip bei der Lösung von Konfliktsituationen unverändert: nicht gemäß dem Gesetz, sondern informeller »Konvention« folgend.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder