Putin: Wir werden den EU-Austritt Großbritanniens aufmerksam verfolgen
»Das ist eine Entscheidung der Bürger Großbritanniens. Wir haben uns nicht eingemischt, mischen uns nicht ein und haben auch nicht vor, uns einzumischen. Allem Anschein nach folgt nun ein formales Prozedere bezüglich der Entscheidung der Briten zum EU-Austritt; wir werden es aufmerksam verfolgen. […]
Dem durchschnittlichen Bürgern Großbritanniens ist meines Erachtens klar, warum es dazu gekommen ist. Niemand möchte schwächere Wirtschaften durchfüttern und subventionieren, ganze Länder und Völker versorgen. Offenbar sind die Menschen auch mit der Lösung von Sicherheitsfragen nicht zufrieden, die sich vor dem Hintergrund gewaltiger Migrationsprozesse drastisch verschärft haben. Die Menschen wollen unabhängiger sein. […]
Was die Sanktionspolitik angeht, denke ich nicht, dass das [der Brexit] in dieser Hinsicht einen Einfluss auf unser Verhältnis zur EU haben wird. Nicht wir haben mit den Sanktionen angefangen, sondern wir reagieren immer nur auf die destruktiven Schritte, die gegen unser Land gerichtet werden. […] Ich möchte noch einmal betonen: Wenn unsere Partner irgendwann dafür reif sind, mit uns einen konstruktiven Dialog über diese Fragen zu führen, sind auch wir dafür bereit; wir wollen das und werden auf Positives positiv reagieren.«
Wladimir Putin am 24. Juni bei einer Pressekonferenz in Taschkent; <https://russian.rt.com/article/309372-rossiya-ne-vmeshivalas-vladimir-putin-prokommentiroval-reshenie>.
Titow: Das ist keine Unabhängigkeit Großbritanniens von Europa, sondern die Unabhängigkeit Europas von den USA
»Es scheint, es ist passiert – UK out!!! Meiner Meinung nach ist die wichtigste langfristige Folge von all dem die Loslösung Europas von den Angelsachsen, also von den USA. Das bedeutet keine Unabhängigkeit Großbritanniens von Europa, sondern die Unabhängigkeit Europas von den USA. Und dann ist es auch bis zu einem vereinten Eurasien nicht mehr weit – rund 10 Jahre.«
Boris Titow am 24. Juni auf Facebook; <https://www.facebook.com/boris.titov.92/posts/1073530176046119>.
Posner: Der Brexit wird zum Zerfall der EU führen
»[…] Ich denke, dass der Austritt Großbritanniens zu Folgendem führen wird:
1. Zum Zerfall der EU. Das ist eigentlich schade, weil die Idee der EU, die den brillanten Köpfen Nachkriegseuropas gehörte, zweifellos großartig und fortschrittlich war. Leider sind in der Folgezeit kleine politische Akteure und keine Staatsmänner an die Macht gekommen. Die EU ist aus einer Gemeinschaft Gleichgestellter zu einem Klub geworden, in den man ausschließlich aus politischen Gründen hineinkam. Deshalb erfolgte der Beitritt von Ländern wie Polen, Tschechien, Slowakei, Portugal, Slowenien, Bulgarien, Griechenland, Lettland, Litauen, Estland und so weiter.
Ich erlaube mir einen Vergleich. Die NHL (höchste Eishockey-Liga) bestand einst aus acht Mannschaften. Dementsprechend spielten dort Super-Spieler, jede Mannschaft war brillant. In der Liga durfte nur die Crème de la Crème spielen. Im weiteren Verlauf ist die Zahl der Mannschaften aus kommerziellen Gründen auf ein Vielfaches erhöht worden. Aber so eine große Zahl von Superspielern zusammen zu bekommen war nicht möglich und das Spiel wurde langweiliger.
Die EU bestand zunächst aus »brillanten Spielern«. Doch aus zutiefst politischen Ambitionen und Gründen wurde diese »Liga« erweitert. Nun gibt es dort sehr viel Mittelmaß, dem es nur um die eigenen Interessen geht. Einer der Superspieler (Großbritannien) hatte das satt und hat gesagt: »Leute, mir reicht’s, ich spiele nicht mehr mit.« Andere werden folgen.
2. Für Europa ist das schlecht. Es hat die Chance verloren, als geschlossenes Ganzes zu agieren; der Traum von den »Vereinigten Staaten Europas« ist beerdigt. Das werden Asien und Amerika mit Sicherheit ausnutzen. Russland wird es mit Sicherheit ausnutzen.
3. Es ist schlecht für Großbritannien. Es wird ohne Zweifel Schottland verlieren, das schon einmal kurz vor dem Austritt stand und nun, wo ganz Schottland für den Verbleib in der EU war, ist sein Austritt aus Großbritannien garantiert. […]«
Wladimir Posner am 24. Juni bei »pozner-online.ru«; <http://pozneronline.ru/2016/06/16049/>.
Schewzowa: Revolte
»[…] Der Kampf zwischen »Austreten« und »Bleiben« ist zum wichtigsten Ereignis nicht nur der modernen Geschichte Großbritanniens, sondern auch des Westens allgemein geworden. Es geht nicht um Wirtschaft oder um Migration, die bei der Konfrontation der Euroskeptiker und der EU-Befürworter in den Vordergrund gerückt wurden. Die phlegmatischen Briten, die zum letzten Mal 1688 eine Revolution veranstaltet haben, revoltieren jetzt gegen das Establishment – gegen das eigene und das aus Brüssel. Dieser Aufruhr spiegelt die Krise der westlichen Ordnung wider, die nach dem Abgang ihrer Alternative – des Weltkommunismus – entstanden war. Die Welle des rechts-linken Populismus auf dem europäischen Kontinent und in den USA ist ein weiterer Ausdruck dieser Systemkrise. Die liberale Gemeinschaft sieht sich vor die Wahl gestellt: entweder sucht sie nach neuen Formen der Globalisierung und eines Ausbaus der Freiheiten und der Offenheit, oder sie kehrt zu traditionellen Formen der Politik zurück – zur Stärkung der Souveränität, des Protektionismus, der starken Rolle des Staates und zum Misstrauen gegenüber dem Fremden. […]
Ja, es beginnt eine neue Geschichte des europäischen Integrationsprojekts. Im Laufe der nächsten zwei Jahren werden London und Brüssel 80.000 Seiten Verträge revidieren, die sie abgeschlossen haben. Eine der wichtigsten Fragen, die sie sie zu lösen haben, ist die, ob die City of London das führende Finanzzentrum Europas bleiben soll.
Das britische Erdbeben ist aber nur der Anfang. In Deutschland, Frankreich, Niederlanden, Spanien stehen bald Wahlen und Referenden bevor. Der Austritt Großbritanniens ist zum Adrenalin für die dortigen Euroskeptiker und Populisten geworden, die durchaus die Frage über ihre Abtrennung von Brüssel stellen könnten.
[…]
Ja, der BREXIT ist ein Erdbeben für den Westen. Dieses Beben hatte der Westen aber dringend nötig! Es hat ihn geweckt und die fett gewordenen Eliten gezwungen zu denken und Angst zu haben! Es hat sie dazu gezwungen nachzudenken und Wege zu suchen, wie das Vertrauen der Gesellschaft zurückgewonnen werden kann.
Europa wird zum Kartenhaus? Unsinn! Das wird es nicht. Europa wird nach einem neuen Bindegewebe suchen – langsam, gezielt und hartnäckig. Obwohl die Europäer viel Rost werden abkratzen müssen; nicht nur ihre politischen Regulatoren müssen ausgetauscht werden, sondern auch die Gefäße ihrer Konstruktion gereinigt werden.
Was bedeutet dieses Beben aber nun für Russland? Von unserer Peripherie aus sehen wir, wie sich die machtvollste Zivilisation der Welt auf die Suche nach neuen Formen der Existenz begeben hat. Und diese Zivilisation setzt trotz ihres Fiebers weiterhin die Regeln – die Spielregeln und die für den Fortschritt. Deswegen ist es für Russland so wichtig, in welche Richtung der Westen gehen wird.
Es gibt die Illusion, dass das Durcheinander in Europa die Chancen Russlands erhöht, im Trüben zu fischen. Na ja: das ist immer ein Geschäft für die Schwachen. Und es kann Dividenden bringen. Umso mehr, da der europäische Populismus bei seinem Spiel Russland so sehr benutzen will. Aber diese Dividenden könnten für uns nur vorübergehender Art sein. Die Unterstützung des rechts-linken Populismus, der Protektionismus und das Misstrauen gegenüber der Außenwelt predigt, wird für Russland kaum eine günstige Umgebung schaffen.
Westliche Populisten werden uns gegenüber genauso misstrauisch sein, wie gegenüber anderen fremden. Die Unberechenbarkeit und die Konvulsionen des Westens werden Russland nicht die Möglichkeit geben, seine unberechenbare Politik fortzuführen, die auf dem Glauben an die Festigkeit der westlichen Spielregeln beruht!«
Lilia Schewzowa am 24. Juni bei »Echo Moskwy«; <http://echo.msk.ru/blog/shevtsova/1789790-echo/>.
Jawlinskij: Die EU ist das erfolgreichste politische Projekt seit Jahrhunderten
»Die Europäische Union, bei all ihren Problemen und Nachteilen, ist das erfolgreichste politische, soziale und wirtschaftliche sowie humanitäre Projekt, das es in den letzten Jahrhunderten in der Welt gegeben hat. Es ist die Errungenschaft einer Zivilisation, deren Wesenskern in der Verhinderung von Kriegen auf einem Kontinent besteht, auf dem zwei der blutigsten Schlachten der Welt ihren Ausgang nahmen. Es geht nicht um ein bürokratisches Gebilde mit dem Zentrum Brüssel, sondern um ihr Wesen. Die Errichtung und Fortentwicklung der EU ist eine neue Qualität von Politik, die auf Achtung und Vertrauen gegenüber den Menschen basiert; wie ein Leuchtturm, der allen die Richtung der Entwicklung weist.
Was die EU-Gegner anbieten, ist keine Rückkehr zu irgendeiner »goldenen Vergangenheit«. Was kann man zurückholen? Das Viktorianische England mit Sherlock Holmes? Ein Reich, in dem die Sonne nie untergeht?
Solch eine Entscheidung ist immer eine über die Zukunft. Doch die Befürworter eines Austritts aus der EU schlagen einen Weg vor, bei dem unter einem der schwankende Boden der Ablehnung liegt und vor einem nur Nebel. Abgesehen davon haben die Briten im Wesentlichen dafür gestimmt, sich von einer der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt zu trennen. Das Pfund reagierte rasch.
Das Ergebnis des Brexit-Referendums ist die Bestätigung, dass die europäisch orientierte politische Zivilisation auf ernsthafte Probleme stößt, die auf mangelnde Visionen und Perspektiven zurückzuführen sind. Das moderne politische Establishment hat keine Zukunftsvision, die für Millionen von Bürgern hinreichend überzeugend wirkte. Die stets vorhandenen Chaosfaktoren beginnen zu wirken: Eine Vereinfachung und Vergröberung der Politik, eine Zunahme von Gewalt, ein wachsender Einfluss von Nationalisten und Rechten, EXIT, Abschottungsversuche, und in Amerika – Trump…
Die Vernunft obsiegt nicht immer in der modernen Welt. Einfache Lösungen– verlassen, zerreißen, zerschlagen– scheinen attraktiv zu sein. Hinzu kommt, dass diejenigen, die »dagegen« gestimmt haben, von dem Wunsch angetrieben wurden, ihre Unzufriedenheit mit allen möglichen Dingen zu zeigen. All das in der Summe hat das Ergebnis bestimmt.
[…]
Was steht nun Russland bevor? Werden wir uns an der Suche nach einem gemeinsamen Weg beteiligen? Denn das ist eine Frage vor allem unserer Zukunft. Oder bewegen wir uns weiter in Richtung des heutigen antieuropäischen politischen Kurses, auf einem Weg, den es nicht gibt. Treten Leere, Verneinung, aggressives Misstrauen an jene Stelle, wo der lebhafte, moderne, russische Geist sein sollte?«
Grigorij Jawlinskij am 24. Juni bei »yavlinsky.ru«;<http://www.yavlinsky.ru/news/mir/brexit>.
Ausgewählt und eingeleitet von Sergey Medvedev, Berlin(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)