Die Gewaltexzesse russischer Hooligans, die sich im Zuge des Gruppenspiels Russland – England bei der Fußballeuropameisterschaft im französischen Marseille zugetragen haben, sollten für Beobachter der europäischen Ultra- und Hooliganszene eigentlich wenig Außergewöhnliches dargestellt haben. Das Auftreten der russischen Hooligans, die als »gut organisiert« und »kampfsporterfahren« beschrieben wurden, hat jedoch stellenweise zu Spekulationen darüber geführt, inwieweit die Ausschreitungen der russischen Hooligans vom Kreml orchestriert wurden. Allerdings stellen sowohl ein hoher Organisationsgrad als auch Erfahrungen in diversen Kampfsportarten, die vor allem im Bereich der »Mixed Martial Arts« auch professionell betrieben werden, Aspekte dar, die in der heutigen Hooliganszene in ganz Europa vorgefunden werden. Mit betrunkenen Schlägern, wie man sie vor allem aus den 80er und 90er Jahren kennt, haben Hooligans heute wenig zu tun. Im Gegenteil: Vor allem in Osteuropa haben die sogenannte »Straight Edge-Bewegung« und damit auch der Verzicht auf Alkohol und Drogen zuletzt stark an Popularität gewonnen. Dort unterscheiden sich Hooligans und Ultras, die beide der sogenannten »Okolofutbol«-Szene zugerechnet werden, im Übrigen in der Regel kaum voneinander, während in Deutschland erstere als eindeutig »gewaltsuchend« und letztere als »friedlich« bis »gewaltbereit« charakterisiert werden. Auch die »Säuberung« des englischen Fanblocks (in der russischen Szene wird das, was sich am Ende des Spiels im Stadion von Marseille zugetragen hat, tatsächlich als »satschistka« beschrieben) war letztlich vor allem eine Jagd nach »Trophäen«. Auch das ist weder neu noch ungewöhnlich. Dass Banner, Flaggen und andere Fanutensilien während, vor oder nach Fußballspielen den Anhängern des Gegners entrissen werden, ist gang und gäbe. Diese »Jagdtrophäen« dienen der späteren Zurschaustellung von Dominanz. Im konkreten Fall scheinen sie teilweise auch als Tauschmittel zu dienen – so war im Internet kurz nach den Ereignissen zum Beispiel das Angebot zu finden, zehn gestohlene englische Flaggen gegen einen verloren gegangenen russischen Pass einzutauschen. Ein »ungeschriebenes Gesetz«, wonach gewöhnliche Fans des Gegners nicht attackiert werden, ist hierbei auch eher als ein Mythos zu bewerten. Dies zeigte sich unter anderem auch bei den gewaltsamen Attacken, die eine Gruppe deutscher Hooligans auf herkömmliche ukrainische Fans in Lille verübte.
An den Ereignissen in Marseille wird man ferner auch deshalb nichts Außergewöhnliches feststellen können, weil einige der identifizierten russischen Hooligan-Gruppierungen, darunter solche mit Namen wie »Music Hall«, »Sturdy Fighters«, »Orel Butchers« [»Schlachter von Orjol«], »Funny Friends« und »Aliens«, bereits im Vorfeld der Europameisterschaft ihre »Tour de France« sowie insbesondere ihre Vorfreude auf das Zusammentreffen mit ihren englischen Kontrahenten kundgetan hatten. Dass insbesondere Europameisterschaften eine Bühne für Straßenschlachten von Hooligans darstellen, ist ebenfalls nicht neu. Erinnert sei hier nur an die Ausschreitungen in Wrocław und Warschau 2012. Damals war es zwischen russischen und polnischen Hooligans zu wüsten Schlägereien gekommen. Zwar konnten diese Auseinandersetzungen auch von den polnischen Behörden nicht verhindert werden, allerdings schien man bei der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine vor vier Jahren insgesamt besser auf Hooligan-Gewalt vorbereitet gewesen zu sein. Dies kann daran liegen, dass die Hooligan-Problematik im Vorfeld der EM 2012 sehr präsent war, mit Blick auf die Ukraine teilweise sogar überbewertet wurde, während man in Frankreich nach den jüngsten Terroranschlägen offensichtlich andere Sicherheitsprioritären gesetzt hatte.
Auch wenn russische Hooligans immer wieder besonders negativ auffallen, eignet sich das Phänomen dennoch nicht, um daraus eine spezifische Gewaltkultur abzuleiten, die typisch für das Russland unter Putin sei. Sicherlich sind Aussagen einiger russischer Politiker, die die Ereignisse in Marseille billigten, darunter auch Putins spöttischer Kommentar über »zweihundert unserer Fans«, die »Tausende englische Fans« zusammengeschlagen hätten, charakteristisch für ein mit Chauvinismus durchtränktes politisches Klima in Russland. Es mag auch eine spezifische Gewaltkultur in Russland geben. Allerdings ist es ebenso eine Binsenweisheit, dass Hooligans kein originär russisches Phänomen sind. Die »Brigade Nassau« beispielsweise, eine Hooligan-Gruppierung aus Frankfurt am Main, wird bis heute in der Szene dafür gefeiert, dass sie sich vor einiger Zeit im »Massenkickboxen« mit »Music Hall« aus St. Petersburg gemessen habe. Welche Erklärungen es dafür gibt, dass die russische Hooliganszene größer ist als anderswo, stellt sicherlich eine lohnende Forschungsfrage dar. Nur scheint hier der ausschließliche Blick auf die russische Gegenwart eine unzulässige Reduzierung darzustellen. Einige der oben genannten Gruppen existieren teilweise bereits seit mehr als zwanzig Jahren. Auch in der Sowjetunion hat es spätestens seit dem Ende der 1970er Jahre bereits erste Fußballhooligans gegeben.
Ohne Zweifel: Hooligans sind als organisierte, gewaltsuchende Gruppen in Russland und anderswo politisch sowie ökonomisch instrumentalisierbar. So ist etwa bekannt, dass der serbische Milizenführer Razatanović (»Arkan«) während der Jugoslawienkriege aktiv Kämpfer aus dem Umfeld der Anhängerschaft von »Roter Stern Belgrad« rekrutierte. Auch weiß man aus der Ukraine, dass sich Teile der dortigen Szene Freiwilligenbataillonen angeschlossen haben, um im Donbass gegen Russlands Separatisten zu kämpfen. Von Parteipolitik halten sich organisierte Hooligans zwar in der Regel fern, allerdings können der für die Szene charakteristische stramme Nationalismus und Rechtsradikalismus ideologische Faktoren darstellen, die insbesondere im Falle gewaltsamer Konflikte eine Mobilisierung bewirken können. Dementsprechend ist es auch wenig überraschend, dass ein Teil der aktiven Szene aus Russland in den Krieg im Donbass gezogen sein soll. Gleichzeitig zeigt aber gerade Russlands Intervention in der Ukraine, dass die russische Ultra- und Hooliganszene trotz ihres dominierenden Nationalismus nicht monolithisch und schon gar nicht ausnahmslos auf Regierungslinie ist. So wurden zwar einerseits hin und wieder Flaggen der selbsternannten »Volksrepubliken« von Donezk und Luhansk in russischen Fanblocks registriert. Andererseits ist es aber auch zu Solidarisierungen mit der ukrainischen Szene gekommen, nachdem diese sich den Majdan-Protesten angeschlossen hatte. Generell sind Konflikte mit den Obrigkeiten für die Szene keine Ausnahme, sondern eher die Regel. Erinnert sei hier an die vielen Auseinandersetzungen zwischen russischen Hooligans und der Exekutive in den vergangenen Jahren. Die größten dieser Zusammenstöße fanden 2010 statt, nachdem rechtsradikale Anhänger des Moskauer Fußballklubs »Spartak« tagelang Jagd auf kaukasische und zentralasiatische Migranten in Moskau machten. Dabei kam es gleichzeitig immer wieder auch zu Vorwürfen gegen die Sicherheitskräfte, dass diese korrupt seien und nichts für die Aufklärung des vorherigen Todes eines »Spartak«-Fans unternommen hätten. Nicht nur in Russland findet die allgemeine Abneigung, die in der Szene gegenüber Teilen der staatlichen Exekutive besteht, in der allgegenwärtigen Verwendung der Abbreviation »A.C.A.B.« (»All Cops Are Bastards«) Ausdruck.
Die Rolle des Präsidenten der »Allrussischen Fanvereinigung«, Aleksandr Schprygin, der mit der offiziellen Delegation des Russischen Fußballverbandes nach Frankreich eingereist sein soll, ist in diesem Zusammenhang durchaus interessant. Schprygin ist nachweislich ein Rechtsradikaler, der zuletzt durch seine Forderung nach ausschließlich »slawischen« Gesichtern in der russischen Fußballnationalmannschaft aufgefallen war und der russischen Regierung eine falsche Migrationspolitik vorgeworfen hat. Bekannt unter dem Spitznamen »Kamantscha«, war er früher ein aktives Mitglied der Hooligan-Szene von »Dynamo Moskau«. Heute ist er zudem Assistent des Abgeordneten und stellvertretenden Vorsitzenden der Duma Igor Lebedew (LDPR), des Sohns des Rechtspopulisten Wladimir Schironowskij. Während sich Lebedew nach den Ereignissen positiv über das Verhalten der russischen Hooligans äußerte, soll Schprygin zuvor auch alten Bekannten aus der Szene Eintrittskarten und Flugtickets organisiert haben. Seine tatsächliche Rolle innerhalb der russischen Hooliganszene, ebenso wie Lebedews Rolle im Regierungsapparat bleiben jedoch unklar. Die These von einer organisierten Randale passt vor allem nicht in das Gesamtbild der politischen Instrumentalisierung des Sports in Russland. Gerade hier versucht die russische Regierung seit Jahren, modern, erfolgreich und »sexy« zu wirken. Aus eben diesem Grund hat Russland vor kurzem auch die US-amerikanische PR-Agentur Burson-Marsteller engagiert, um einem Ausschluss der russischen Leichtathleten von den diesjährigen Olympischen Spielen in Brasilien entgegenzuwirken. Marodierende Hooligans passen nicht in dieses Bild. Negative Schlagzeilen, Verhaftungen und Ausweisungen von russischen »Fans« sind nämlich nichts anderes als ein herber Rückschlag für das Image, das Russland im Sport aufbauen möchte. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass sowohl der Kreml als auch der russische Sportminister Witalij Mutko, gleichzeitig Präsident des russischen Fußballverbandes, die Ausschreitungen von Marseille später verurteilten. Ferner soll die russische Polizei schließlich auch die französische Polizei dabei unterstützt haben, eine Gruppe russischer Hooligans festzunehmen. Mit Blick auf die Fußballweltmeisterschaft 2018 in Russland ist in jedem Fall davon auszugehen, dass repressive Maßnahmen gegen russische Hooligans und damit auch Konflikte zwischen den Hooligans und den Behörden zunehmen werden. Wie in Westeuropa bereits vor etlichen Jahren geschehen, wird man auch in Russland die Sicherheitsmaßnahmen erhöhen und bestimmte Verhaltensregeln für den Stadionbesuch erlassen, die – einhergehend mit einer anhaltenden Kommerzialisierung des Fußballs – darauf abzielen, ein familienfreundlicheres Umfeld zu schaffen und eine wohlhabendere Klientel anzuziehen. Der jüngste Beschluss der Duma, eine Schwarze Liste von Fußballhooligans zu erstellen, ebenso wie die Verabschiedung eines Gesetzes, dass zukünftig der Verkauf und der Eintritt zu Sportveranstaltungen in Russland nur noch personalisiert (unter Vorlage eines Passes) erfolgen darf, deuten zweifellos in diese Richtung.
Die Ereignisse in Marseille als eine von Putin gesteuerte Operation zu bezeichnen, birgt letztlich die Gefahr in sich, die Effizienz der russischen Regierungsführung sowie ihre Handlungsfähigkeit zu überschätzen. Gleichzeitig besteht das Risiko, Konflikte innerhalb der Elite und ihrer unterschiedlichen Subgruppierungen fernab der »Machtvertikale«, einschließlich vorhandener Profilierungsbestrebungen innerhalb des Machtgefüges, zu vernachlässigen. Dadurch wird genau jenes Bild eines allmächtigen Putin bedient, das der Kreml stets zu zeichnen versucht. Die Aufgabe, die sich stellt, ist es jedoch, nicht an der Konstruktion dieses Bildes mitzuwirken, sondern vielmehr, diesen Mythos zu dekonstruieren. Letztlich laufen Darstellungen der Vorkommnisse in Marseille als Teil der »hybriden Kriegsführung« Russlands vor allem auch Gefahr, nicht nur ein prinzipiell sinnvolles Konzept, sondern schlussendlich auch den tatsächlichen (hybriden) Krieg, den Russland in der Ukraine führt, zu banalisieren.