Russland und der Westen
Der NATO-Gipfel in Warschau wurde mit besonderer Spannung erwartet: Allein der Tagungsort war schon symbolhaft. Vor 25 Jahren hatte ein Rivale der NATO, der – wegen des Orts der Unterzeichnung des Bündnisvertrags – nach der Hauptstadt Polens benannt worden war, offiziell seine Existenz beendet. Die westliche Allianz hatte einen glatten Sieg errungen: Der Gegner löste sich selbst auf. Anschließend folgte eine lange Reise des nordatlantischen Blocks auf der Suche nach einer neuen Mission und einer neuen Rolle in der Welt. Als Zwischenergebnis wurde eine Mission gefunden, und die stellte sich als die alte heraus. Das Militärbündnis, das als Widerstand gegen eine sowjetische Bedrohung ins Leben gerufen worden war, fand in der Antwort auf eine Bedrohung durch Russland, den Rechtsnachfolger der UdSSR, seine erneuerte Daseinsberechtigung.
Moskau wiederum widerspricht nicht. Das Land hat die gleichen 25 Jahre (mit schwindendem Eifer) versucht, einen Platz im westlichen Orbit einzunehmen, Teil eines Systems zu werden, das die USA weltweit und die EU und NATO europaweit errichten. Für das Misslingen dieses Projektes gibt es viele Gründe; am häufigsten wird auf externe Gründe verwiesen: Auf den Unwillen, mit Russland wie mit einem Gleichberechtigten umzugehen; auf die Expansion der westlichen Institutionen mit dem Ziel einer »Aneignung« des sowjetischen Erbes, in deren Verlauf die Einwände Moskau als traurige Reminiszenzen aus der Vergangenheit wahrgenommen wurden; und schließlich auf die Wandlung der NATO von einem reinen Verteidigungsbündnis aus der Zeit des Kalten Krieges zu einem Block, der regelmäßig Kriege führt. Allerdings bestehen auch interne Faktoren.
Die Philosophie der Offenheit und der maximalen Kooperation mit der ganzen Welt, die vom letzten Sowjetführer Michail Gorbatschow verkündet worden war, hat nicht zu einem nachhaltigen und erfolgreichen Entwicklungsmodell geführt. Der Zusammenbruch der UdSSR, das drastische Absinken des internationalen Status, die langwährende soziale, wirtschaftliche und politische Krise Russlands, die zu einem stärkeren Rückgang und Schwund der Volkswirtschaft geführt haben als selbst während des Zweiten Weltkrieges, das Entstehen eines oligarchischen Systems, das von der Bevölkerungsmehrheit als ungerecht wahrgenommen wird – das alles hat eine höchst spezifische Haltung zur Idee einer Verwestlichung entstehen lassen, und zwar trotz des Umstandes, dass die politische Führung des Landes bis zum Beginn der heißen Phase der Ukraine-Krise 2014 insgesamt nicht von der Logik einer Westintegration abrückte (auch wenn die Bedingungen, denen die russische Führung zustimmte, sich natürlich mit der Zeit änderten).
Der Gerechtigkeit halber sei angemerkt, dass es nach dem Kalten Krieg eine Zeit gab, in der Russland die Vorteile offener Beziehungen zum Westen nutzte, nämlich die erste Hälfte der 2000er Jahre. Damals war es Wladimir Putin gelungen, die Lage nach dem Chaos der 1990er zu stabilisieren, das System der staatlichen Verwaltung wiederherzustellen und dadurch das Interesse eines Teils der westlichen Unternehmerschaft zu wecken. Die Auswirkungen der Rubelabwertung von 1998 in Kombination mit dem beginnenden Ölboom schufen attraktive Voraussetzungen; Russland kam als ein »emerging market« in Mode. Diese Zeit war darüber hinaus durch eine höchst ambitionierte Agenda für die Beziehungen zum Westen gekennzeichnet: Zusammenarbeit mit den USA bei der Terrorbekämpfung, Erörterung »Gemeinsamer Räume« mit der EU, und sogar vorsichtige Hinweise auf ein mögliches Interesse Russlands an einer NATO-Mitgliedschaft. Die Wiederherstellung der Wirtschaft Russlands und die hohen Wachstumsraten in jener Zeit sind zum Teil auf diese günstigen Umstände zurückzuführen.
Im Rückblick lässt sich feststellen, dass der Zeitraum ungefähr von 2001 bis 2006 die Hochzeit eines Ansatzes war, in dessen Zentrum das Bestreben stand, Teil eines »erweiterten Westens« zu werden. Das Bestreben war groß: Nicht einmal Erschütterungen wie der Rückzug der USA aus dem ABM-Vertrag, der US-amerikanische Einmarsch in den Irak oder die »farbigen« Revolutionen in Georgien und der Ukraine, die in Moskau mit großer Empfindsamkeit wahrgenommen wurden, konnten den Zug nicht zum Entgleisen bringen. Zum Kulminationspunkt wurde der G8-Gipfel 2006 in St. Petersburg: Russland wurde formell als vollwertiges Mitglied des elitären Klubs anerkannt (auch wenn ein solcher Schritt für die Bereiche Finanzen und Wirtschaft ausblieb und zwar über die gesamte G8-Mitgliedschaft Russlands, die bis 2014 andauerte).
Die innere Dimension russischer Außenpolitik
Allerdings war zu diesem Zeitpunkt bereits klargeworden, dass ein Eintritt Russlands »in den Westen« nicht die Aufgaben lösen würde, die die Führung Russlands sich vorgenommen hatte. Russland wurde – zum Teil wegen seiner objektiven wirtschaftlichen Lage, teils aus politischen Gründen – in der Welt nur als Rohstoffquelle betrachtet, als ein Markt, als bestenfalls zweitrangiges Glied in der Produktionskette.
Nicht Russland als Staat integrierte sich in die globale Umgebung, sondern das oberste Segment der russischen Gesellschaft. Die reale politische Ausgestaltung einer Mitgliedschaft des Staates Russland im »elitären Klub« blieb hingegen aus (genauer gesagt erfolgte sie nur formal, nämlich durch die Teilnahme an den Gipfeltreffen der G8). Die führenden westlichen Mächte betrieben die Umsetzung ihrer Agenda und nahmen dabei die Unzufriedenheit Moskaus nicht ernst (NATO-Erweiterung, Demokratieförderung im Nahen Osten, Expansion des Geltungsbereichs von EU-Normen usw.). Versuche Russlands, einen vollwertigen Anschluss an moderne Technologien herzustellen, stießen auf offene Gegenwehr (Weigerung von »General Motors« der russischen »Sberbank« den Autohersteller »Opel« zu verkaufen).
Die Integration Russlands in die globale Wirtschaft fand zwar statt, allerdings auf höchst spezifische Weise. Das Land hat die negative Seite der Globalisierung in vollem Umfang zu spüren bekommen: Es fand sich in einer ernsthaften Abhängigkeit von der Außenkonjunktur wieder, auf die es im Prinzip nicht Einfluss nehmen konnte. Aus seiner Position in der globalen Umgebung Nutzen zu ziehen (wie es China lange Zeit getan hat) hat es im Großen und Ganzen nicht gelernt. Gleichzeitig erfolgte innerhalb der Gesellschaft eine Spaltung in eine »fortgeschrittene« Minderheit, die sich an dem globalen Umfeld orientiert, und eine »nationale« Mehrheit. Das trat besonders markant 2011/2012 zu Tage, als die hauptstädtische creative class gegen die Rückkehr Wladimir Putins als Präsident Russlands aufbegehrte, wie auch gegen den Abschied Dmitrij Medwedews, der zuvor für eine gewisse Zeit das »integrierte« Russland verkörpert hatte.
Im Winter 2011/2012 bekam es Putin mit dem gleichen Phänomen zu tun (natürlich in einer charakteristisch russischen Variante), dem sich heute die herrschende Klasse des Westens gegenübersieht, nämlich der Kluft zwischen einer immer stärker kosmopolitischen Elite und dem Volk, das nach wie vor den lokalen Wurzeln verbunden ist und sich vor der Außenwelt fürchtet. Während jedoch in Großbritannien (Brexit), den USA (Trump, Sanders) und den Staaten Kontinentaleuropas (allerorts populistische Parteien) ein Aufstand der Massen stattfindet, die ihre Politiker nicht mehr verstehen, war es in Russland vor viereinhalb Jahren anders herum. Damals erhob der internationalisierte Teil des Establishments seine Stimme; diese Menschen waren unzufrieden, dass das politische System hinter ihren Ansprüchen zurückblieb. Putin hat mit der »Rochade« und seinem anschließenden Vorgehen eine Wahl zugunsten der Mehrheit getroffen und sich (und somit auch die Maschine des russischen Staates) der einflussreichen Minderheit entgegengestellt, die sich an der Außenwelt, genauer: am Westen orientiert. Somit erfolgte die ursprüngliche Legitimierung der dritten Amtszeit Wladimir Putins als Präsident vor dem Hintergrund einer unverhohlenen Ablehnung der Figur Putin durch die gesamte westliche Gemeinschaft. Die Kombination dieser Umstände (die konzeptuelle Entscheidung Putins zugunsten der »antiglobalistischen« Mehrheit in Russland und die feindliche Einstellung der USA und der EU hinsichtlich seiner Rückkehr auf den Thron) ist zum inneren Keilriemen der Konfrontation geworden, die nach dem Beginn der Ukraine-Krise ihren Höhepunkt erreichte.
Ein Wechsel der russischen Politik
Ein Vierteljahrhundert nach dem radikalen Wandel in Europa und der Welt ist die Führung Russlands zu dem Schluss gekommen, dass der Weg der Offenheit, den man in der zweiten Hälfte der Regierungszeit Michail Gorbatschows beschritten hatte, nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht hat. Russland ist es weder gelungen, einen gehörigen Platz in der Welt einzunehmen, noch, ein nachhaltiges und aussichtsreiches Entwicklungsmodell für Wirtschaft und Gesellschaft auszuarbeiten. Im Grunde haben 25 Jahre Transformation in eine Sackgasse geführt. Ein weiteres Argument für eine Absage an dieses Modell liegt in der Überzeugung, dass das globale System in eine Transformationsphase eingetreten ist, und dass die Philosophie der universellen Offenheit von einem Protektionismus neuer Qualität abgelöst wird: Standards, Megablöcke, das Primat der Unternehmensinteressen gegenüber den staatlichen (das kommt vor allem in Initiativen wie dem TTIP oder der Transpazifischen Partnerschaft (TTP) zum Ausdruck). Es ist eine Ironie des Schicksals, dass sich diese Ansicht zu einem Zeitpunkt herausbildete, als Russland – nach 18 Jahren qualvoller Verhandlungen – der WTO bereits beigetreten war.
Die Welle der neuen Souveränitätsbestrebungen, die durch die Welt geht, trifft in Russland auf einen Staat, der von Souveränität und Sicherheit besessen ist, und in dem die Traditionen einer offenen Gesellschaft fehlen. Historisch gesehen hat Modernisierung in Russland zu keiner Zeit unter Bedingungen stattgefunden, die volle Offenheit und gegenseitigen Austausch bedeuteten. Modernisierung stützte sich in Russland stets auf die Entlehnung von Elementen ausländischer technologischer und wirtschaftlicher Ordnungen; und sie wurde immer auf Initiative der Regierung und unter deren penibler Aufsicht unternommen. In der Vergangenheit verlangte das ein praktisch totalitäres Regierungssystem; im heutigen Russland ist ein solches zum Glück nicht möglich. Daher ist die Führung des Landes bestrebt die aus ihrer Sicht richtigen Entwicklungsbedingungen dadurch zu erreichen, dass das Niveau von Offenheit oder Verschlossenheit über den Versuch gesteuert wird, äußere Einflüsse auf die eigene Gesellschaft zu regulieren. Dieser Kurs ist von Wladimir Putin sofort nach seiner Entscheidung von 2011 über seine Rückkehr auf den Präsidentenposten eingeschlagen worden; er lässt sich deutlich durch die Serie seiner Wahlkampfartikel im Januar und Februar 2012 nachvollziehen.
Die Notwendigkeit, der inneren Entwicklung neue Impulse zu verleihen – als Putin auf den Präsidentenposten zurückkehrte, war in Russland Menschen mit ganz unterschiedlichen Einstellungen klar, dass sich das bisherige Modell erschöpft hat – wie auch die schwieriger werdende internationale Lage setzten dann den wichtigsten Mechanismus zur Konsolidierung Russlands in Gang, nämlich die Betonung einer äußeren Bedrohung. Die Ukraine-Krise, die durch den hartnäckigen Wunsch der EU provoziert wurde, Kiew über ein Assoziierungsabkommen in ihren normativen Orbit aufzunehmen, schuf die gesamte für diese Konsolidierung notwendige »Infrastruktur«. Und der NATO-Gipfel 2016 in Warschau rundete das Bild ab.
Aussichten auf ein Ende der neuen Konfrontation?
Am Vorabend des Gipfels, auf dem praktisch das »Containment« Russlands als Hauptaufgabe des Bündnisses verkündet wurde, hat es ein wichtiges Ereignis gegeben, das nur am Rande wahrgenommen wurde. Wladimir Putin kam bei seinem Besuch in Helsinki mit seinem finnischen Amtskollegen Sauli Niinistö überein, Flüge von Kampfflugzeugen mit ausgeschalteten Transpondern über der Ostsee zu untersagen. Sofort nach seiner Rückkehr erließ Putin eine entsprechende Anweisung an den Verteidigungsminister (der diese umgehend ausführte, indem er einen Befehl an die Luft- und Weltraumstreitkräfte gab) und erörterte diese Frage auf einer Sitzung des russischen Sicherheitsrates. Insofern besteht die Hoffnung, dass die Reihe von Zwischenfällen mit Flugzeugen und Schiffen von Russland und der NATO, die im letzten Jahr zu einer gefährlichen Routine geworden sind, ein Ende findet.
Bedeutet dies, dass die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen eine Chance auf Besserung haben? Wohl nicht, da eine Vereinbarung über ein Einschalten von Transpondern keine Annäherung ist, sondern eher eine Feststellung der Konfrontation bedeutet, nämlich das endgültige Eingeständnis, dass Russland und die NATO sich gegenseitig als Gegner wahrnehmen. Und wenn denn die Konfrontation zweier mächtiger Militärmaschinen stattfindet, dann muss das, so besagen es die Lehren des Kalten Krieges, ernst genommen und die »größte Vorsicht« geübt werden, wie es in dem 1972 unterzeichneten Abkommen zwischen den USA und der UdSSR über die Vermeidung von Zwischenfällen auf und über Hoher See geschrieben steht. Seit Beginn der 1990er Jahre sind die Regeln zur Steuerung der Konfrontationsrisiken allmählich auf null zurückgefahren worden, da sie nicht mehr als notwendig betrachtet wurden. Das Leben jedoch zeigt nun, wie sehr sie vonnöten sind.
Die Ergebnisse des NATO-Gipfels bestätigen, dass die Rückkehr zur »guten alten« Mission des Containment Russlands tatsächlich stattgefunden hat und insgesamt innerhalb der Allianz keine besonderen Meinungsunterschiede hervorruft. Das ist nicht darauf zurückzuführen, dass in der NATO ausnahmslos alle Moskau als Quelle der größten Bedrohung sehen, eher ist das Gegenteil der Fall: die arithmetische Mehrheit der Mitgliedsstaaten verhält sich Russland gegenüber gleichgültig. Die westlichen Staaten (von denen die meisten Mitglied sowohl der NATO als auch der EU sind) haben jetzt dermaßen viele innere Probleme, dass für eine Beruhigung der nervösen osteuropäischen Bündnispartner und einen Aufbau der schwierigen nuancierten Beziehungen zu Russland einfach keine Zeit ist und es an Kraft und intellektuellen Möglichkeiten mangelt. Also ist es sehr viel einfacher, zu einem wohlbekannten Paradigma zurückzukehren, zumindest so lange, bis die Knoten aus Widersprüchen sich auf irgendeine Art von innen gelöst haben.
Somit schließt sich der Kreis: Beide Seiten haben gewichtige interne Gründe, sich auf eine Konfrontation zu verlegen. Die Führung Russlands hofft auf diese Weise, ein neues Entwicklungsmodell zu formulieren und ihr Setzen auf die Mehrheit zu legitimieren. Im Westen ist das Motiv merkwürdigerweise sehr ähnlich. Die Häufigkeit, mit der die Erwähnung von Putin in den Kampagnen und Wahlkämpfen der »Parteien des Establishments« (Cameron und sein Lager in Großbritannien, Clinton in den USA) gegen die »Aufrührer« eingesetzt wird, ist erstaunlich: Die Figur Putin wird als Instrument zur Einschüchterung der Wähler benutzt, damit diese nicht vom Mainstream abweichen.
Wie dem auch sei – es lässt sich konstatieren, dass das Vierteljahrhundert »ohne Konfrontation« vorbei ist. Eine Imitation des Kalten Krieges wird keines der Probleme lösen, wegen derer sie veranstaltet wird. Äußere Bedrohungen können nur vorübergehend (wenn überhaupt) jene tiefen Spaltungen in der Gesellschaft übertünchen, die praktisch überall in der Welt bestehen; Spaltungen, die auf die widersprüchlichen Folgen der Globalisierung zurückzuführen sind.
Die Risiken sind dennoch groß, da selbst eine nur erdachte, künstliche Konfrontation ihre Logik hat und zur Eskalation neigt. Daher wird die Aufgabe der politischen Führer für die nächste Zukunft in einem Risikomanagement bestehen, das neu erlernt werden muss. Es ist gefährlich, wenn sich das Bestreben, den jeweils anderen zu beeindrucken, in eine systematische Militarisierung und in einen neuen Rüstungswettlauf verwandelt. Angesichts der realen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wäre das zudem völlig sinnlos.