Waino und Regimereproduktion
Am 12. August 2016 löste der 1972 im sowjetischen Tallinn geborene Anton Waino Sergej Iwanow (geb. 1953) als Leiter der Präsidialverwaltung (PV) ab, eine Position, die hinsichtlich des »administrativen Gewichts« mit der des Premierministers vergleichbar ist, und deren Amtsinhaber in Meinungs- und Expertenumfragen regelmäßigen zu den einflussreichsten Politikern gezählt werden. In seiner bisherigen Position als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, zuständig für das Protokoll, war Waino nur selten öffentlich in Erscheinung getreten. Iwanows Ablösung entspricht hinsichtlich der Amtsdauer und zeitlichen Nähe zu den Wahlen eher der Regel im postsowjetischen Russland. Waino gehört aber einer neuen, in den 1960–1980er Jahren geborenen Generation von Technokraten an, die nun allmählich zentrale Positionen in der zivilen Staatsverwaltung einnehmen. Der Fall Waino erlaubt es, Rückschlüsse auf die Funktionsweise und Resilienz des Autoritarismus in der Russischen Föderation zu ziehen, der techno-bürokratische und klepto-neopatrimoniale Elemente verbindet.
Kaderreserven in der russischen Staatsverwaltung
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endete auch das bürokratische Führungsmanagementsystem der KPdSU, besser bekannt als »Nomenklatura«. In der Sowjetunion führte die Partei Listen (lat. nomenclatura: »Namensverzeichnis«, »Liste«) mit hochrangigen Positionen in Partei und Staat, die nur mit Zustimmung der zuständigen Komitees besetzt werden durften. Ebenfalls wurden Listen und Dossiers der Personen angelegt, die für solche Führungspositionen zur Verfügung standen bzw. gefördert wurden; in den 1980er Jahren liegen die Schätzungen bei ca. 3 Millionen Nomenklatura-Posten. In der späten Perestroika verlor die Partei erst ihre führende Rolle und wurde dann von Jelzin per Präsidialerlass verboten, womit auch das über Jahrzehnte institutionalisierte Nomenklatura-System der Rekrutierung kollabierte.
1997 war in vielerlei Hinsicht ein Wendejahr, in dem sich Ordnungsvorstellungen von einem starken, vertikal organisierten Staat durchzusetzen begannen, die mit dem Amtsantritt Wladimir Putins endgültig die Oberhand gewinnen sollten. Mit dem Präsidialerlass vom 23. Juli 1997 »Über die Förderung von Verwaltungskadern für die russische Volkswirtschaft« sollten Jahrespläne für die Ausbildung von Nachwuchskräften und die Auswahl von Bildungseinrichtungen für deren Fortbildung aufgesetzt und eine verantwortliche Kommission berufen werden. Jedes Jahr sollten 5000 auf Wettbewerbsbasis ausgewählte Spezialisten im In- und Ausland fortgebildet werden. Viele Föderationssubjekte versuchten ähnliche Programme auf regionaler Ebene umzusetzen. Insbesondere der ehemalige Premierminister und seit 05. Oktober amtierende stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung Sergej Kirijenko tat sich in seiner Funktion als Präsidialbevollmächtigter im Föderalbezirk Wolga in den Jahren 2000–2005 durch die Einführung moderner, internetbasierter Rekrutierungsverfahren inklusive Tests und Simulationsspiele hervor, die auch in anderen Regionen nachgeahmt wurden und die Kirijenko später als Vorsitzender der Staatskorporation »Rosatom« ab 2005 einsetzte und propagierte.
So unterhält »Rosatom« eine eigene Akademie, die in Kooperation mit der »École des hautes études commerciales Paris« (HEC Paris) Führungskader in der Atomindustrie ausbildet. In zwei wegweisenden Gesetzen wurde 2003 die Dreigliederung des Staatsdienstes in Zivilverwaltung, Militär und Rechtsschutz sowie das Ämterregister und 2004 in Artikel 64 des Gesetzes über den zivilen Staatsdienst die Formierung einer Kaderreserve beschlossen. Ganz im Sinne des New Public Management, welches in der ersten Amtszeit Putins durchaus breit rezipiert wurde, sollte die Aufnahme in die Kaderreserve auf Wettbewerbsbasis (»na konkursnoj osnowe«) erfolgen.
Skeptiker wie Aleksandr Obolonskij gehen allerdings davon aus, dass der Wettbewerbsgedanke in der Praxis einfach vergessen würde und sich auf föderaler Ebene eine neue Version der Nomenklatura gebildet habe. In dem unter Protektion des Staatschefs stehenden »präsidentiellen Tausend« will er gar einen Nährboden für eine Art opritschnina (Iwan IV. im 16. Jahrhundert) sehen. Die Vertreter der Militarisierungsthese Olga Kryschtanowskaja und Stephen White gehen davon aus, dass mit dem Amtsantritt von Wladimir Putin vor allem die Machtorgane (Militär und Rechtsschutz) als Kaderreserve für die Verwaltung gedient haben. Nach ihren Berechnungen bestand die politische Elite unter Jelzin 1993 zu 11,2 Prozent, unter Putin 2002 zu 25,1 Prozent, 2008 zu 42,3 Prozent und unter Medwedew 2010 zu 20,7 Prozent aus silowiki, in den höchsten Ämtern lagen die Prozentzahlen noch höher. Dieser Ansatz wurde aus verschiedenen Gründen kritisiert, vor allem konzeptionell, da nicht abschließend geklärt sei, wie silowiki zu definieren sei und mit dem Hinweis, dass die silowiki keine homogene Gruppe darstellen. Empirisch, so ein weiterer Einwand, überwiege trotz der großen Anzahl der Staatsdiener in Uniform immer noch ziviles Personal, anstelle einer Militarisierung sei vielmehr eine Bürokratisierung der russischen Verwaltung zu beobachten.
Hinsichtlich des Wettbewerbsgedankens liegen nur wenige empirische Untersuchungen vor. Wladimir Gimpelson, Wladimir Magun und Robert Brym kamen in ihrer Befragung von jungen Zivilbeamten im Alter von bis zu 35 Jahren, die 2001 und 2002 durchgeführt wurde, zu folgendem Ergebnis: Für den Eintritt in den Staatsdienst waren vor allem persönliche Beziehungen und Bekanntschaften förderlich, Patrone wollten so sichergehen, dass neue Angestellte sich vor allem loyal verhalten. Bei der Beförderung innerhalb des Staatsdiensts selbst, so die Autoren, spielen teilweise entgegen der verbreiteten Meinung, auch meritokratische, auf Leistung basierte Kriterien eine Rolle. Diese Mischung aus Loyalität und Leistung mag auch erklären, warum die russische Bürokratie in manchen Bereichen durchaus funktional und ergebnisorientiert wirkt, andererseits aber auch von Korruption durchdrungen ist und sich unfähig zeigt, Patronagepraktiken zugunsten von Effizienzsteigerung zu reduzieren.
2009 wurden schließlich von 172 Experten nach einem Punktesystem 1211 Personen zu Angehörigen der präsidentiellen Kaderreserve bestimmt, aus der dann die Kandidaten für deren Elite, die »Erste Hundertschaft«, stammen. Die Reserve wird in regelmäßigen Abständen aktualisiert. In der Präsidialverwaltung ist hierfür die Kommission für Staatsdienst und Verwaltungskaderreserve zuständig. Fortbildungsmaßnahmen finden an der Moskauer Präsidialakademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung (RANChIGS) statt, die der sowjetischen Akademie beim Ministerrat entwachsen ist; auch Auslandspraktika sind vorgesehen.
Der lange Weg des Anton Waino an die Spitze der Präsidialverwaltung
Waino wurde 1973 in der estnischen Sowjetrepublik in einer Nomenklatura-Familie geboren: Sein Großvater Karl Waino war bis zum Ende der Sowjetunion Vorsitzender der estnischen KP. Nach Abschluss der Elitediplomatenschule MGIMO wechselte Anton Waino ins Außenministerium, unter anderem mit Station in der russischen Botschaft in Japan. Im Jahr 2002 gelangte er in die Präsidialverwaltung; entsprechend seines Ausbildungsprofils war er in der Protokollabteilung für die Vorbereitung von Reisen ins Ausland und für diplomatische Kontakte des Präsidenten und der Präsidialverwaltung verantwortlich. 2004 übernahm Waino als stellvertretender Leiter der neu formierten Protokoll- und Organisationsabteilung die Planung sowohl für ausländische als auch innerrussische Treffen und Reisen des Präsidenten. Nach der 2008 vollzogenen »Rochade« von Präsident Putin und Ministerpräsident Medwedjew wechselte Waino mit Putin in den Apparat der Regierung und wurde 2009 in die präsidiale »Erste Hundertschaft« aufgenommen. 2012 kehrte er als stellvertretender Leiter in die Präsidialverwaltung zurück. Insbesondere die Wechsel Präsidialverwaltung – Regierungsapparat – Präsidialverwaltung zeugen davon, dass er besonderes Vertrauen des Präsidenten genoss. Wainos Karriereweg ist insofern bemerkenswert, als dass er eine enge Spezialisierung aufweist und seit 2002 im selben Métier Rang um Rang aufgestiegen ist und mit Protokollarbeit betraut war.
Schleichender Generationenwechsel
Anton Waino war der breiteren Öffentlichkeit wenig geläufig, allerdings hatten ihn russische Analysten schon länger auf dem Radarschirm. In einem Bericht aus dem Jahr 2015 wies der Politikberater Jewgenij Mintschenko darauf hin, dass es innerhalb der russischen Elite eine neue Kohorte von Technokraten gebildet habe. Neben Waino nannte Mintschenko auch Oleg Belosjorow (geb. 1969), der 2015 Wladimir Jakunin (geb. 1948) an der Spitze der Russischen Eisenbahn ablöste und damit einen graduellen Generationenwandel andeutete. Erwähnt wurden des Weiteren Denis Manturow (geb. 1969, Minister für Industrie und Handel) und Aleksandr Nowak (geb. 1971, Minister für Energiewirtschaft). Von Mintschenko nicht genannt, aber ebenfalls Vertreter jener neuen Generation sind Nikolaj Nikiforow (geb. 1982, Minister für Kommunikation), Aleksandr Galuschka (geb. 1975, Entwicklungsminister für den Fernen Osten), Michail Abysow (geb. 1972, Minister ohne Geschäftsbereich zuständig für die »Offene Regierung«), Wladimir Tokarew (geb. 1977, Föderale Agentur für Wohnungsbau) oder Ksenija Judajewa (geb. 1970, erste Vizevorsitzende der Zentralbank). Sie alle wurden (mit Ausnahme von Abysow und Galuschka) 2009 in die »Erste Hundertschaft« berufen und 2012/2013 im Anschluss an die Präsidentschaftswahlen in leitende Funktionen befördert. Galuschka war als Unternehmer über einen der wichtigsten Wirtschaftsverbände »Delowaja Rossija« und die »Allrussische Volksfront« (ONF) ins Ministeramt berufen worden – bisher ein eher seltenes Karrieremuster von Kabinettsmitgliedern.
Dennoch stellen mit der Institutionalisierung des Autoritarismus im Russland der 2000er Jahre Akteure des staatlich, von oben gesteuerten intermediären Raums zwischen Staat und Gesellschaft einen wichtigen Rekrutierungspool dar. Insbesondere in der Abteilung für Innenpolitik (UWP) der Präsidialverwaltung wird dies deutlich. Der für Innenpolitik zuständige ehemalige stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung Wjatscheslaw Wolodin (geb. 1964) war – nach einer langen Karriere in der Regionalpolitik (in Saratow) und als Duma-Abgeordneter für »Vaterland – Ganz Russland« und »Einiges Russland« (ER) und in verschiedenen ER-Gremien – im Dezember 2011 in die Präsidialverwaltung gewechselt und kehrte nach den Wahlen wieder als Vorsitzender in die Duma zurück. Tatjana Woronowa, die Leiterin der UWP (geb. 1975), begann wie Wolodin ihre Karriere in der Regionalpolitik (in Irkutsk); über die »Junge Garde«, die Jugendorganisation von ER, und nach einer Legislaturperiode als ER-Abgeordnete in der Duma wechselte sie 2011 in die UWP, zu deren Leiterin sie 2015 nach dem Ausscheiden des Duma-Veteranen Oleg Morosow (geb. 1953, Abgeordneter 1994–2012) berufen wurde. Der für die Koordination mit der Duma verantwortliche Stellvertreter Woronowas, Radij Chabirow (geb. 1964), wurde ebenfalls ausgetauscht. Sein Nachfolger Sergej Smirnow (geb. 1978) entstammt der Moskauer Lokal- und Jugendpolitik und gelangte über Posten in der staatlichen Jugendbehörde »Rosmolodjosch« und als Leiter des Apparates der Gesellschaftskammer in die UWP.
Kaderpolitik und Restrukturierung der Exekutive aufgrund von verringerter Ressourcenbasis
Das Jahr 2016 sah bisher Kaderveränderungen in – verglichen mit früheren Jahren – größerem Ausmaß und Tempo, die nahezu alle Kernbereiche des russischen Staates betrafen, seien es nun Föderalen Bezirke, Ministerien, föderale Dienste und Agenturen, Gouverneure, Staatsunternehmen oder das Militär. Abgelöst wurden unter anderem auch Schwergewichte mit Vergangenheit im sowjetischen KGB und lange in die Vergangenheit zurückreichender Bekanntschaft mit Staatsoberhaupt Putin. Neben den genannten Wladimir Jakunin und Sergej Iwanow seien als weitere Beispiele noch Andrej Beljaninow (geb. 1957) vom Föderalen Zolldienst und Wiktor Iwanow (geb. 1950) vom Föderalen Drogenkontrolldienst genannt.
Eine mögliche und auch weit verbreitete Erklärung dieses Kaderkarussells lässt sich aus der Literatur über coup proofing ableiten: Um an der Macht zu bleiben, versuchen Autokraten, die Bildung einer Gegenelite, deren Koordination oder gar einen Putsch durch sie zu verhindern; eine tiefgreifende Rotation von Führungskadern, insbesondere solcher, die als Teil der herrschenden winning coalition über längere Perioden wesentliche Bereiche von Staat und Wirtschaft kontrollieren, soll somit vorbeugend wirken. Die Entlassungen von Andrej Beljaninow und Wiktor Iwanow waren für beide demonstrativ schmerzhaft. Beljaninow wurde öffentlichkeitswirksam vor laufender Kamera der Korruption überführt, Iwanows Dogenkontrollbehörde wurde komplett aufgelöst und bei 30 % Verringerung der Angestelltenzahl ins Innenministerium verpflanzt, Iwanow bekam dabei– anders, als sonst üblich – keine Sinekure als Ausgleich.
Was als »Kampf gegen Korruption« und »Reform« von Rechtsschutzorganen deklariert wird, ist vielmehr eine Anpassung des Systems an veränderte Umweltbedingungen, die sich durch langanhaltende wirtschaftliche Stagnation und sinkenden Ölpreis vor allem in den letzten Jahren bemerkbar machten. Damit verändern sich auch die Effizienzanforderungen an neue Kader, während der Prozentsatz der staatlichen und staatlich kontrollierten Finanzströme, die für private Bereicherung zweckentfremdet werden können, ebenfalls abnimmt. Für die institutionellen Veränderungen in der Exekutive bedeutet dies insgesamt eine Kontraktion der Beschäftigtenzahl und Abbau redundanter Funktionen. Am Beispiel des Föderalen Migrationsdienst (FMS) und der Drogenaufsicht (FSKN) wurde dies besonders deutlich: beide wurden ins Innenministerium eingegliedert, unter anderem um die Doppelung der Funktionen konkurrierender Behörden zu verringern. Wie die Grafik (Grafik 3, S. 17) verdeutlicht, expandierte die Beschäftigtenzahl im zivilen Staatsdienst ab 2005 besonders in den Dependenzen der Zentralbehörden in den Föderationssubjekten stark, erreichte 2010 mit 635.400 einen Höchststand und lag 2013 noch bei 552.400. In den Zentralapparaten hielt das Wachstum allerdings an, der Anstieg belief sich hier von 26.400 im Jahr 2004 bis auf 36.600 im Jahr 2013. Ein weiteres Anzeichen für die Kontraktion der Exekutive ist die maximale Anzahl der Beschäftigten, die für die Behörden in Präsidialerlassen festgesetzt ist. Wie die Tabelle (Tabelle 4, S. 18–19) verdeutlicht, wurden Ende 2015 und im Verlauf des Jahres 2016 für die meisten Exekutivbehörden, die dem Präsidenten unterstellt sind und die – mit Ausnahme der Archivbehörde – dem Bereich Militär, Sicherheit und Rechtsschutz zuzurechnen sind, eine Reduzierung der maximalen Beschäftigtenzahl festgelegt. Für manche Behörden wie das Katastrophenschutzministerium oder die neu gegründete Nationalgarde wird diese Obergrenze zum ersten Mal bestimmt, ansonsten beläuft sich die Verringerung auf etwa 5–10 % im Verteidigungsministerium und beim Militär, auf etwa 10 % im Justizministerium und auf bis zu 30 % im Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums. Der Abbau von Personal und gedoppelten Funktionen sind somit die zu berücksichtigenden Umgebungsbedingungen, unter denen die derzeitigen Kaderveränderungen stattfinden.
Technokraten im Neopatrimonialismus
Insbesondere mit Bezug auf die bürokratischen Autokratien in Lateinamerika wurde die Rolle von técnicos, mit Expertenwissen ausgestatteten und spezialisierten, aber nicht demokratisch legitimierten Technokraten, und den gewählten políticos debattiert. Diese Erkenntnisse erscheinen in einem postsowjetischen Russland relevant, in dem, wie es Eugene Huskey formulierte, Demokratie bürokratisiert und Politik größtenteils als Administration aufgefasst wird. Das wesentliche Merkmal, das – abgesehen von konkurrierenden Staatslenkungsvorstellungen von silowiki oder Ideokraten (wie der neuen Bildungsministerin Wasiljewa oder der Kinderombudsfrau Kusnezowa) – im russischen Fall eine potentielle Ausschöpfung von pockets of efficiency für junge Technokraten einschränkt, ist die Verschmelzung von Macht (wlast) und Eigentum (sobstwennost). Besonders deutlich wird dies auch an Anton Waino: Zum einen gehört er einer Generation an, deren Väter (in den seltensten Fällen Mütter) Schlüsselpositionen in Staat und Wirtschaft innehatten und die nun selbst zentrale Posten übernimmt. Wainos Vater Eduard war schon seit den 1990er Jahren beim Automobilhersteller »Awtowas« tätig und stieg 2009 zum Vizepräsidenten des Konzerns auf. Anton Waino saß seit 2014 in seiner Funktion als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung im Aufsichtsrat von »Rostec«, einem Konsortium dem u. a. »Awtowas« gehört. Zudem besitzt er in direkter Nachbarschaft zu Sergej Tschemesow (Direktor von Rostec) und Industrie- und Handelsminister Denis Manturow ein Grundstück sowie eine Immobilie im elitären Moskauer Yachtclub Pirogowo.
Sowohl Rostec, Manturows Ministerium also auch das Kommunikationsministerium von Nikolaj Nikiforow (geb. 1982) hatten massiv das sogenannte Jarowaja-Gesetzespaket zur Kontrolle des Internetverkehrs lobbyiert und setzen sich nun für deren technische Umsetzung mit staatlicher Milliardenförderung für »Rostec« und »Rostelekom« ein. Insofern scheint es nur folgerichtig, dass Sergej Kirijenkos an der Higher School of Economics und in Skolkowo ausgebildeter Sohn Wladimir (geb. 1983) Ende September zum Vizepräsidenten von »Rostelekom« ernannt wurde, bevor Kirijenko Senior am 5. Oktober 2016 die Nachfolge von Wolodin als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung antrat.
Fazit
Der Aufstieg Anton Wainos zum Leiter der Präsidialverwaltung setzt einen Trend fort, der etwa 2012 mit der Ernennung einer neuen, in den späten 1960er bis frühen 1980 geborenen Kohorte von Technokraten in das Kabinett und andere staatliche Schlüsselpositionen begann und sich 2015 und 2016 unter verschlechterten Wirtschaftsbedingungen fortsetzte. Diese Entwicklung ist auch Folge einer Kaderreservepolitik auf föderaler und regionaler Ebene, deren elitärste Ausprägung die präsidiale »Erste Hundertschaft« ist. Als modernes Funktionsäquivalent des Zentralkomitees der KPdSU schuf die Präsidialverwaltung in den 2000er Jahren eine Art »Nomenklatura lite«, durch die spezialisierte Nachwuchskader gesichtet, weitergebildet und in Spitzenpositionen der Staatsverwaltung befördert werden. Insbesondere die durch den Ölpreissturz und wirtschaftliche Stagnation verringerten Staatseinnahmen stellen veränderte Anforderungen – vor allem durch eine effizientere Nutzung von Staatsgeldern – an diese neuen Technokraten und führen zu einem langsamen Stellenabbau und Reduzierung von redundanten Funktionen in der Exekutive. Allerdings bleibt Skepsis angebracht, ob sich eine grundsätzliche Änderung an der derzeitigen Ordnung der Macht ergeben wird, die aus einer Mischung von techno-bürokratischen und klepto-neopatrimonialen Elementen besteht und sich durch institutionalisierte Mechanismen der Kaderpolitik verjüngt und somit reproduziert. Persönliche Beziehungen wie Verwandtschaft und Bekanntschaft sind oft notwendige Voraussetzung für die neue Generation, um Zugang zur Kaderreserve und anderen vertikalen Mobilitätskanälen zu bekommen. Gleichzeitig sorgen »Drehtüren« (revolving doors) zwischen Bürokratie und Staatswirtschaft dafür, dass Technokraten als Agenten von Partikularinteressen fungieren. Entscheidend für die weitere Entwicklung des Staatsdienstes und die Eigentumsverhältnisse der derzeit herrschenden Elite wird sein, wann und in welcher Form – durch Elitenkonsens oder Palastrevolte – sich der Generationenwechsel an der Staatsspitze vollziehen wird.
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