"Ausländischer Agent": Wie könnte man in Russland unter dem Druck des Gesetzes überleben

Von Darja Skibo (St. Petersburg)

Zusammenfassung
Im Jahr 2012 wurde in Russland das allgemein so genannte »Agentengesetz« (Gesetz über »ausländische Agenten«) verabschiedet, das die Struktur des Dritten Sektors und den Alltag vieler russischer nichtkommerzieller Organisationen (NKO, im Weiteren auch: NGOs) verändert hat. Unter Vertretern russischer NGOs, ausländischer Stiftungen und gesellschaftlicher Organisationen hat sich die Meinung verfestigt, dieses Gesetz sei repressiv und bezwecke eine verstärkte Kontrolle über unabhängige NGOs. In diesem Beitrag soll erklärt werden, warum dem so ist und was es heute bedeutet, »ausländischer Agent« zu sein.

Historischer und aktueller Kontext

Vor Beginn und während des Zweiten Weltkrieges wurde von der sowjetischen Propagandamaschine erwartet, dass sie zur Abwehr jedweder möglichen Art von »Schädigertum und Sabotage« eine Informationspolitik entwickelt und umsetzt, die der Bevölkerung die Gefahren einer Kommunikation mit »Unbekannten« deutlich macht. Wachsamkeit und Vorsicht erlangten höchste Aktualität und wurden zu einer neuen Dimension im Bewusstsein der Sowjetbürger. Eines der Agitationsplakate jener Zeit ist eine Arbeit von Nina Watolina und Nikolaj Denissow: Das Bild einer Frau, die den Finger vor die Lippen hält, wird mit Zeilen aus einem Gedicht Samuil Marschaks versehen, und mit der Devise jener Zeit – »Ne boltaj!« (»Schwätz nicht!«). Es wurde eines der populärsten Poster – und auch jetzt noch ist das Bild auf praktisch jeder Art Souvenir in Russland zu finden. Dieses Plakat aus dem Jahr 1941 ist aber nicht nur durch seine künstlerische Qualität aktuell, sondern auch durch den Hass im gegenwärtigen Diskurs, und durch die im Plakat enthaltene Idee von der Suche nach dem Feind (dem äußeren und inneren), nach dem Spion, der die nationale Sicherheit bedroht, nach dem Saboteur, der die traditionellen Werte der Gesellschaft Russlands zu zerstören sucht und im Interesse seiner ausländischen Sponsoren vorgeht, durch eine Idee, die so lebendig ist wie nie. Im Laufe der letzten drei Jahre finden sich als »ausländische Agenten« eingestufte NGOs in einer Situation wieder, in der sie mit den Mitteln der Propagandamaschinerie als Feinde und »Schädiger« (»wrediteli«) gebrandmarkt werden.

Das »Agentengesetz«

Eine Rohfassung des Gesetzes über »ausländische Agenten« wurde im Juni 2012 im Unterhaus des russischen Parlaments, der Staatsduma, vorgelegt. In Wirklichkeit ist das »Agentengesetz« kein eigenständiger Gesetzesakt, sondern stellt eine Reihe von Gesetzesänderungen dar. Diese wurden dann bereits im Juli 2012 von Präsident Putin unterzeichnet.

Das unter anderem hierdurch geänderte Föderale Gesetz Nr. 7-FZ »Über nichtkommerzielle Organisationen« vom 12. Januar 1996 regelt die Tätigkeit von nichtkommerziellen Organisationen (NGOs), die auf dem Territorium der Russischen Föderation tätig sind. Eine nichtkommerzielle Organisation ist in Russland eine Organisation, zu deren satzungsgemäßen Zielen nicht die Erzeugung von Gewinn und dessen Verteilung an die Mitglieder gehören. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen kommerziellen und nichtkommerziellen Organisationen ist die fehlende Möglichkeit für letztere, unternehmerisch tätig zu sein. Oft arbeiten staatliche Strukturen in den gleichen Bereichen wie nichtkommerzielle Organisationen, doch können letztere nicht Teil des Staates sein und verfügen über erheblich weniger Ressourcen.

Die im Jahr 2012 verabschiedeten Änderungen dieses Gesetzes haben einen neuen Typus nichtkommerzieller Organisationen geschaffen, den es bislang im Rechtssystem Russlands nicht gegeben hatte. Das Gesetz postuliert nun zwei Merkmale, bei deren Vorhandensein sich eine Organisation als »ausländischer Agent« zu registrieren hat. Der Erhalt von Geldmitteln oder anderer Vermögenswerte von ausländischen Staaten oder deren Behörden, von internationalen oder ausländischen Organisationen, von ausländischen Staatsangehörigen, Staatenlosen oder deren Bevollmächtigten sowie die Beteiligung an politischer Tätigkeit auf dem Territorium der Russischen Föderation, unter anderem im Interesse ausländischer Geldgeber.

Darüber hinaus enthält das novellierte Gesetz eine Definition politischer Tätigkeit. Eine nichtkommerzielle Organisation gilt dann als an politischer Tätigkeit beteiligt, wenn sie sich – unabhängig von den in ihrer Satzung genannten Zielen – an der Organisation oder Durchführung politischer Aktionen beteiligt, die den Zweck haben, auf Entscheidungen staatlicher Stellen Einfluss zu nehmen, auf eine Änderung der staatlichen Politik hinzuwirken oder die öffentliche Meinung zu beeinflussen (§ 2 Abs. 6 des Gesetzes »Über nichtkommerzielle Organisationen«).

Das Gesetz sieht ein Verzeichnis jener Organisationen vor, deren Tätigkeit nicht als eine politische eingestuft werden kann. Hierzu zählen unter anderem wissenschaftliche Einrichtungen, Forschungsinstitute, Kulturzentren, Sportvereine, Umweltbewegungen oder Organisationen, die sich für die soziale Absicherung der Bevölkerung oder die Unterstützung von Müttern und Kindern einsetzen. Dennoch sind im Verzeichnis der »ausländischen Agenten« viele Organisationen zu finden, die in eben diesen Bereichen tätig sind.

Das Gesetz sieht darüber hinaus eine Vielzahl neuer Vorschriften und zusätzlicher Anforderungen für »ausländische Agenten« vor. Mit dem Gesetz wurde ein Register für Organisationen eingerichtet, die Funktionen eines »ausländischen Agenten« ausfüllen; in diesem müssen sich die betreffenden Organisationen registrieren lassen. Das Gesetz führt eine jährliche Wirtschaftsprüfung »ausländischer Agenten« ein; darüber hinaus sind die Organisationen verpflichtet, dem Justizministerium spezielle Berichte vorzulegen, unter anderem mit Informationen über ihre Veranstaltungen und Maßnahmen sowie die Zusammensetzung der Leitungsgremien. Diese Informationen müssen halbjährlich im Internet veröffentlicht werden. Die Tätigkeit der betroffenen Organisationen wird durch planmäßige staatsanwaltschaftliche Überprüfungen unter die Lupe genommen (ein Mal jährlich), sowie durch eine unbeschränkte Zahl außerplanmäßiger Überprüfungen, die aufgrund einer Beschwerde irgendeines Bürgers oder einer anonymen Person initiiert werden können. Alle Materialien, die von einem »ausländischen Agenten« erstellt und vertrieben werden, müssen mit einem Hinweis auf den Status »ausländischer Agent« versehen werden, ebenso öffentliche Veranstaltungen der Organisation.

Nach der Unterzeichnung des Gesetzes hatte keine einzige Organisation freiwillig einen Antrag auf Aufnahme in das Register gestellt. 2013 stellte sich heraus, dass das Gesetz nicht funktioniert. Das zog eine Welle staatsanwaltschaftlicher Überprüfungen von NGOs nach sich (diese wurden im Frühling 2013 bei über 300 Organisationen durchgeführt). Im Juni 2014 dann unterzeichnete Wladimir Putin ein Gesetz, das das Justizministerium dazu berechtigte, Organisationen auch ohne Gerichtsbeschluss in das Register aufzunehmen.

Bürgerrechtlern, die zu diesem Thema arbeiten, wie auch Vertretern der betroffenen NGOs zufolge ist das Gesetz diskriminierend und behindert die professionelle Arbeit. Anfänglich hatte es kein Verfahren für die Streichung einer Organisation aus dem Register gegeben und Organisationen, die einmal dort aufgenommen wurden, sollten dort auch bleiben, selbst dann, wenn der Erhalt ausländischer Gelder und/oder die Ausübung »politischer« Tätigkeit beendet wäre. Erst im Februar 2015 wurde in der Staatsduma ein Verfahren zur Streichung aus dem Register vorgestellt: Den neuen Vorschriften gemäß hat die betreffende NGO hierzu einen speziellen Antrag an das Justizministerium zu stellen. Anschließend führen die Behörden eine außerplanmäßige Überprüfung durch, um festzustellen, ob die NGO tatsächlich ihre Betätigung als »ausländischer Agent« eingestellt hat. Infolge dieser Prüfung kann die Organisation aus dem Register gestrichen werden, irgendwelche Garantien hierfür gibt es allerdings nicht.

Ein Blick auf die weitere Geschichte der Anwendung des »Agentengesetzes« erlaubt eine Zusammenfassung der Erfahrungen der NGOs, die im Register geführt werden oder aber sich hierauf vorbereiten müssen, wie auch einige Thesen darüber, was es heißt, »ausländischer Agent« zu sein.

»Ausländischer Agent« zu sein …

Die »Überlebensstrategien« angesichts des Drucks durch das »Agentengesetz« lassen sich in zwei Gruppen teilen, die Strategien vor einer Aufnahme in das Register und diejenigen nach einer Einstufung als »ausländischer Agent«.

Vor der Einstufung…

1. Freiwilliger Antrag auf Registrierung als »ausländischer Agent«

In diesem Fall kann die NGO eine staatsanwaltliche »Untersuchung« vermeiden und jene finanziellen Kosten verringern, die unausweichlich bei jenen entstanden, die sich einer Aufnahme in das Register zu entziehen versuchten. Zu den negativen Folgen eines solchen Weges gehört der »Schatten« auf der Reputation und ein Schaden für die Solidarität, die angesichts der Verabschiedung des »Agentengesetzes« im Dritten Sektor entstanden war und in einmütigem Widerstand dagegen ihren Ausdruck fand. Darüber hinaus kann die Markierung als »ausländischer Agent« in bestimmten Fällen eine Fortführung des professionellen Engagements behindern.

Zu den Organisationen, die sich freiwillig in das Register aufnehmen ließen gehören unter anderem der »Bund junger Politologen« und der »Kreisverband der Industriellen und Unternehmer Jefremow« (Gebiet Tula).

2. Die Arbeit wie gewohnt fortführen

Viele Organisationen, die diese Strategie wählten, befinden sich in völliger Ungewissheit, da sie jederzeit durch die Staatsanwaltschaft überprüft, vom Justizministerium ins Register eingetragen oder gerichtlich zu Geldstrafen verurteilt werden können.

Zu den Organisationen, die ihre Arbeit im gewohnten Regime fortführen, gehört das »Zentrum für unabhängige Sozialforschung« (St. Petersburg), das am 22. Juni 2015 zwangsweise ins Register eingetragen wurde und mit Geldstrafen von insgesamt 325.000 Rubeln (ca. 4.600 Euro) belegt wurde.

3. Alle finanziellen Kontakte zu ausländischen Stiftungen oder Zuwendungsgebern abbrechen

Diese Strategie wird dann aktuell, wenn es für die Organisation wichtig ist, ihr Ansehen zu wahren und nicht das »Terrain« zu verderben, wenn die Arbeit der Organisation auf Russland konzentriert ist. Das bedroht die NGO jedoch oft in ihrer Existenz, da es nach wie vor reichlich schwierig ist, in Russland Sponsoren zu finden. Es kann allerdings auch geschehen, dass eine NGO trotz einer Beendigung ausländischer Finanzierung aufgrund von bürokratischen Fehlern oder Verfahrensverstößen auf die Liste »ausländischer Agenten« gesetzt wird.

Im Register…

Einmal in das Register gelangt, muss jede Organisation Antworten auf drei Fragen finden: Führen wir unsere Arbeit fort? Sind wir bereit, die finanziellen und manchmal auch die professionellen Kontakte zu ausländischen Stiftungen oder Partnern abzubrechen und in Russland die Suche nach anderen Möglichkeiten aufzunehmen? Werden wir die bestehenden professionellen Ziele und die Agenda ändern?

Je nachdem, wie die Antwort auf diese Fragen ausfällt, können die Organisationen eines der folgenden Szenarien umsetzen.

1. Verzicht auf ausländischer Gelder und der Versuch, aus dem Register »ausländischer Agenten« herauszukommen

Nachdem ein Verfahren für ein Verlassen des Registers im Gesetz festgeschrieben wurde, versuchten einige NGOs dies umzusetzen und waren damit erfolgreich. Zu den erfolgreichen Beispielen für diese Strategie gehören die »Soldatenmütter St. Petersburg« (eine 1991 gegründete Bürgerrechtsorganisation), die im August 2014 auf die Liste gesetzt und im Oktober 2015 wieder aus dem Register genommen wurden, weil sie zu dieser Zeit bereits keine ausländischen Mittel mehr erhielten.

2. Eine neue Organisation gründen / sich in anderer Rechtsform registrieren lassen

In Fällen, in denen es für die Organisation wichtig ist, »sauber« zu bleiben, kann die Leitung beschließen, eine neue juristische Person zu gründen. Wenn die neue Organisation jedoch den gleichen Namen wie die alte hat, unter der gleichen Adresse ihren Sitz registrieren ließ und die gleichen Personen im Führungsgremium sitzen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch die neue Organisation in das Register gerät. Wenn eine NGO sich als kommerzielle Organisation neu registrieren lässt, könnte sie Schwierigkeiten haben, Gelder zu erhalten, da nicht alle russischen oder ausländischen Stiftungen berechtigt sind, Zuwendungen an kommerzielle Organisationen zu geben.

So wurde die 1994 gegründete regionale Organisation »Nuori Karjala« (»Junges Karelien«, Petrosawodsk), die zur Bewahrung der Kultur und der angestammten Sprachen der Karelier, Wepsen und Finnen arbeitet, im Juni 2015 als »ausländischer Agent« eingestuft, nachdem die örtliche Stelle des Justizministeriums eine außerplanmäßige Prüfung durchgeführt hatte. Im August 2015 beschloss »Nuori Karjala«, seine Tätigkeit einzustellen. Das Team der aufgelösten Organisation ging praktisch vollständig in die Belegschaft der neuen juristischen Person mit ähnlichem Namen ein, die im Januar 2016 registriert wurde.

Die Wahl einiger Rechtsformen würde es den Organisationen ermöglichen, nicht unter das »Agentengesetz« zu fallen. In diesem Sinne greift das Gesetz nicht in Bezug etwa auf gesellschaftliche Bewegungen; allerdings ist in diesem Fall der Prozess einer Reorganisation reichlich kompliziert. So wurde beispielsweise das LGBT-Netzwerk, das im März 2013 eine staatsanwaltschaftliche Prüfung erlebte, nicht in das Register »ausländischer Agenten« aufgenommen oder mit Geldstrafen belegt, da es sich eben um eine gesellschaftliche Bewegung handelt.

3. Organisation schließen / Arbeit einstellen

Viele Organisationen sind der Ansicht, dass sie durch die Eintragung in das Register mit einem Schandmal versehen würden. Sie machen ihren Unwillen deutlich, unter den in Russland entstandenen Bedingungen weiterzuarbeiten und betreiben ihre Selbstauflösung. Bisweilen wird dieser Prozess durch anhängige Gerichtsprozesse und verhängte Geldstrafen verkompliziert. Leider ist dies eine der populärsten Strategien. Oft reichen die Organisationen nicht einmal die nötigen Unterlagen bei den zuständigen Behörden ein, sondern stellen ihre Arbeit einfach ein.

Das markanteste Beispiel hierfür ist »Dinastija«, die Stiftung von Dmitrij Simin, die im Mai 2015 als »ausländischer Agent« eingestuft wurde. Im Juni verhängte ein Gericht eine Geldstrafe von 300.000 Rubel (ca. 4.300 Euro) und im Juli verkündete die Stiftungsleitung die Einstellung aller Projekte und die Auflösung der Organisation. Im Oktober 2015 beendete »Dinastija« gänzlich ihre Tätigkeit.

4. Gründung einer NGO im Ausland

Wenn eine NGO ein »Double« oder ein Partnerzentrum außerhalb Russlands gründet, besteht die Hoffnung, dass die Arbeit innerhalb des Landes auf gewohnte Weise fortgeführt werden kann und die russische NGO einer Verfolgung und einer Einschränkung ihrer professionellen Tätigkeit entgehen könnte. Gleichzeitig verlangen die Gesetze in Russland, dass unabhängig von der Herkunft alle Finanztransfers an NGOs, die über 200.000 Rubel (ca. 2.900 Euro) betragen, zusätzlich von den Behörden zu überprüfen sind.

5. Mit dem Status eines »ausländischen Agenten« weiter­arbeiten

Viele Organisationen setzen ihre Arbeit auch mit dem Status eines »ausländischen Agenten« fort und unternehmen keine Versuche, sich neu zu organisieren oder aus dem Register herauszukommen. Sie gründen keine zusätzlichen juristischen Personen, da sie sich wegen der herrschenden Ungewissheit für keine der beschriebenen Strategien entscheiden oder eine neue entwickeln können. Darüber hinaus verfügen viele der Organisationen nur über begrenzte Ressourcen: Jedes der Szenarien, selbst eine Auflösung der Organisation, erfordert erhebliche Finanzmittel wie auch Menschen, die sich mit der Entwicklung und Neuorganisierung der NGO oder der Vertretung deren Interessen vor Gericht befassen. Für diese Organisationen besteht der einzige Weg darin, die Arbeit fortzusetzen und zu hoffen, dass sich die Lage ändert. Zudem müssen sie sich entscheiden, ob sie gegebenenfalls den Beschluss des Justizministeriums oder die vom Gericht verhängten Strafen anfechten wollen oder nicht. Ein Gang vor Gericht bedeutet einen erheblichen finanziellen und zeitlichen Aufwand und keine Garantie, dass die Sache erfolgreich ausgeht. Der andere Weg wäre, die verhängten Strafen zu zahlen und dann wohl leider auch neue zu erwarten.

6. Auflösung der NGO per Gerichtsbeschluss

Im Februar 2016 schufen Gerichte ein neues Szenario, das sich für eine Organisation als »ausländischer Agent« ergeben kann. Leider lässt sich das nicht als Strategie der Organisationsleitung bezeichnen, da die NGO in diesem Fall kaum als Subjekt zu betrachten ist. Das Oberste Gericht der Republik Tatarstan hat am 10. Februar 2016 die Assoziation für Bürgerrechte »AGORA« aufgelöst. Vor und nach ihrer Aufnahme in das Register im Jahr 2014 hatten Mitarbeiter von »AGORA« Organisationen geholfen, die im Frühjahr 2013 von einer rechtswidrigen staatsanwaltschaftlichen Überprüfung betroffen waren. Darüber hinaus hatten sie Auflagen der Staatsanwaltschaften und des Justizministeriums vor Gerichten aller Ebenen angefochten. Die Hilfe war als Obstruktion gegenüber den Staatsanwaltschaften und als politische Tätigkeit gewertet worden. Die Mitarbeiter der Organisation arbeiten weiter, auch wenn die juristische Person Namens »Interregionale Assoziation gesellschaftlicher Bürgerrechtsvereinigungen ‚AGORA‘ « nun nicht mehr existiert.

Die Folgen

Neben dem Umstand, dass »ausländische Agenten« eine erheblich größere »Berichterstattungslast« zu schultern haben als andere Typen nichtkommerzieller Organisationen, ergeben sich für sie aus der Verabschiedung des Gesetzes weitere Folgen.

Öffentliche Meinung und symbolische Bedeutung des Siegels »ausländischer Agent«

Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums vom Oktober 2012 nehmen die Bürger Russlands die Wortverbindung »ausländischer Agent« als negativ wahr (62 % der Befragten). Der Begriff »ausländischer Agent« ist wie »fünfte Kolonne«, »Volksfeind«, »Spion« oder »National-Verräter« Teil des Hassvokabulars geworden. Die negativen Konnotationen wurden in den Medien weiter verstärkt. Nach der Verabschiedung des Gesetzes über [ausländische] »unerwünschte Organisationen« erfolgte eine neue Welle der Diskussion über »ausländische Agenten«.

Finanzieller Aufwand und verschwendete Zeit

Neben den symbolischen Auswirkungen durch eine Brandmarkung als »ausländischer Agent« gibt es eine Reihe spezifischer Folgen wie etwa die Verschwendung von Zeit und Geld oder den sinnlosen Einsatz menschlicher Ressourcen. Die Erstellung zusätzlicher Berichte für das Justizministerium, das endlose Kopieren von Primärbelegen der Buchhaltung, das Einspannen von Mitarbeitern bei außerplanmäßigen Überprüfungen der NGOs sowie die Gerichtsverfahren machen es für die Organisationen erforderlich, zusätzliche Ressourcen zu mobilisieren und bestimmte Kosten zu tragen.

Der durchschnittliche Marktpreis für Wirtschaftsprüfungen, die für »ausländische Agenten« obligatorisch und aus dem eigenen Budget zu bestreiten sind, liegt zwischen 30.000 und 520.000 Rubeln. Die gerichtlich verhängten Geldstrafen für NGOs, die sich nicht freiwillig als »ausländischer Agent« registrieren lassen wollen, liegen zwischen 200.000 und 900.000 Rubeln.

Vorsicht und Selbstzensur

Seit Inkrafttreten des »Agentengesetzes« herrschen im Dritten Sektor eine bedrückende Atmosphäre und die Notwendigkeit, sich vorsichtig zu verhalten. Die Organisationen sind mit Blick auf die eigene Sicherheit genötigt, »gefährliche« oder »sensible« Themen zu meiden oder die Arbeit in bestimmten Themenbereichen ganz einzustellen. Auch das Inkrafttreten des Gesetzes über »unerwünschte Organisationen« hat zu einer gewissen Selbstzensur bei den NGOs in Russland geführt: Jede Erwähnung der ausländischen Stiftungen, deren Arbeit in der Russischen Föderation verboten ist, kann unvorhergesehene Folgen haben. Jeder Mitarbeiter einer als »ausländischer Agent« eingestuften Organisation muss bei öffentlichen Äußerungen behutsam vorgehen, da eine persönliche Stellungnahme als Standpunkt der gesamten Organisation gewertet werden kann.

Ungewissheit

Das »Agentengesetz« ist seit 2012 einige Male geändert worden, was Grund zur Annahme bietet, dass weitere Korrekturen zu erwarten sind. Die bestehende Ungewissheit führt dazu, dass die Leitung einer NGO nicht in Lage ist, eine langfristige Entwicklungsstrategie zu entwerfen oder bestimmte taktische Entscheidungen zu treffen, da sie deren Folgen nicht abschätzen kann. Die Änderungen des Kontextes sind zu beharrlich und gleichzeitig unvorhersagbar, als dass sich man sich einer bestimmten Zukunft als »ausländischer Agent« gewiss sein könnte.

Zusammenarbeit und Partner

Angesichts der zunehmenden Ungewissheit und der Feindseligkeit gegenüber »ausländischen Agenten« wächst die Gefahr, dass professionelle Kontakte und partnerschaftliche Beziehungen zerstört werden. Niemand möchte in eine Affaire mit einem »ausländischen Agenten« hineingezogen werden, da stets ein Risiko besteht, dass die »befleckte Reputation« einer im Register geführten Organisation auch auf Partner abfärbt. Die Strategie einer Distanzierung von »ausländischen Agenten« hängt weniger mit einer Verleugnung oder mit Misstrauen zusammen, als damit, dass diese Organisationen keine zuverlässlichen, belastbaren Partner mehr sind: Nach dem Präzedenzfall in Tatarstan liegt auf der Hand, dass sie Bankrott gehen oder per Gerichtsbeschluss aufgelöst werden können.

Schlussfolgerungen und Ausblick

Gegenwärtig umfasst das Register »ausländischer Agenten« 146 Organisationen; diese Ziffer ändert sich permanent, da das Justizministerium und die Staatsanwaltschaft weiterhin für eine Ausweitung des Verzeichnisses sorgen. Die Befürworter des Gesetzes argumentieren, dass es sich hier um ein kleines, aber unausweichliches Übel handelt, das unter der strengen Aufsicht der Behörden stehen sollte. Diese Logik, die davon ausgeht, dass die »Agenten« den Regeln ihrer ausländischen »Herren« folgen, sorgt bei den Bürgerrechtlern für ständige Empörung und Abscheu. Organisationen, die in das Register aufgenommen wurden, repräsentieren den aktivsten und fortschrittlichsten Teil des Dritten Sektors in Russland und leisten einen bedeutsamen Beitrag zum Aufbau einer Zivilgesellschaft im Land.

Das »Agentengesetz« hat bereits eine über dreijährige Geschichte hinter sich. Die Organisationen, die seine Wirkung zu spüren bekamen, haben unterschiedliche »Überlebensstrategien« eingeschlagen, waren aber nicht immer erfolgreich damit: Viele haben ihre Arbeit eingestellt, wurden bankrott erklärt oder aufgelöst; andere sind genötigt, einen großen Teil ihrer Zeit und Ressourcen für eine Verteidigung ihrer Position vor russischen Gerichten zu opfern. Zusätzlich zu den Ordnungsstrafen sieht eine neue Gesetzesänderung eine strafrechtliche Verantwortung für eine »böswillige Verletzung des Gesetzes« (u. a. eine fehlende oder nicht ordnungsgemäße Vorlage der Berichte oder Dokumente) vor, und zwar Gefängnisstrafen von bis zu zwei Jahren.

In der Überschrift wird mit Bedacht von »überleben« gesprochen. Mein Ansatz war, jene Schwierigkeiten herauszustellen, die das »Agentengesetz« für die professionelle Arbeit der betroffenen Organisationen schafft. Die Anwendung des Gesetzes wird ständig ausgeweitet: Im Februar 2016 hat das Justizministerium das Zentrum »Sibalt« in das Register eingetragen. Diese NGO hat in den vergangenen 20 Jahren Programme zur Vorbeugung gegen HIV-Infektionen und zur Aufklärung über AIDS umgesetzt. Nun ist nur noch die Frage, wer als nächstes in das Register gerät, und was noch alles als »politische Tätigkeit« gewertet werden kann.

Die letzten Änderungen zur (Neu)Definition von politischer Tätigkeit wurden im März 2016 verabschiedet. Nun stellt offiziell jede Veröffentlichung von Ergebnissen soziologischer Umfragen oder Studien eine politische Tätigkeit dar. Es liegt auf der Hand, dass die neue Formulierung im Gesetz Soziologen und andere Wissenschaftler in die entsprechenden staatlichen Institute treibt. Angesichts der Praktiken, mit denen das »Agentengesetz« angewandt wird, lässt sich also wohl kaum behaupten, dass Sozialforscher in Russland eine stabile Zukunft haben.

Ungeachtet der offensichtlich diskriminierenden Natur des Gesetzes hat es im Dritten Sektor für Solidarität und Reflexion gesorgt. »Ausländischer Agent« zu sein, bedeutet »Profi« zu sein, ein gefährlicher Opponent zu sein, der unschädlich gemacht werden muss. Man kann sagen, dass – neben den verleumderischen Bezeichnungen für »ausländische Agenten« wie »fünfte Kolonne«, »National-Verräter«, »Spion«, »Fördergelderschlucker« oder gar »Volksfeind« – das Etikett »ausländischer Agent« gewissermaßen zu einer Art Gütesiegel geworden ist, und zu einem Marker der Zugehörigkeit zu einer fest geschlossenen und kämpfenden Gemeinschaft.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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