Vom Protest zur Hilfe
Migration als soziales Phänomen, als ein normaler Prozess für Metropolregionen, wird seit geraumer Zeit intensiv von der Gesellschaft wahrgenommen. Zuwanderung wird allerdings auch von Fremdenfeindlichkeit und Furcht vor Migranten begleitet, von denen verschiedene Gesellschaftsschichten erfasst sind. Trotz der Wirtschaftskrise ist die Zahl der Arbeitsmigranten in St. Petersburg hoch geblieben. Dem Jahresbericht 2015 des Chefs der regionalen Verwaltung St. Petersburg und Leningrader Gebiet des Föderalen Migrationsdienstes sind in dem Jahr in der Region 1,7 Millionen Menschen als Migranten registriert gewesen und über das Jahr insgesamt 3 Millionen ausländische Staatsbürger nach St. Petersburg und in das Leningrader Gebiet eingereist.
Gesellschaftliche Organisationen sind Mittler zwischen Gesellschaft und Staat, wenn es um die Lösung der entstehenden Probleme und den Schutz von Arbeitsmigranten geht. Für die Studie, deren Ergebnisse hier vorgestellt werden, sind die zentralen Organisationen und Bewegungen ausgewählt worden, die sich in St. Petersburg für die sozialen und Arbeitsrechte von Migranten einsetzen.
Die Studie wurde mit qualitativen Methoden durchgeführt. Die empirische Basis bildeten Aufzeichnungen einer nicht-teilnehmenden Beobachtung von Hilfegruppen für Migranten in St. Petersburg und 10 biographische Interviews mit Aktivisten dieser Hilfegruppen.
In St. Petersburg hat wie auch in Russland insgesamt nach den politischen Ereignissen von 2011/2012 eine neue Welle bürgerschaftlichen Engagements eingesetzt. Begünstigt wurde dies durch eine Entfremdung zwischen Regime und Gesellschaft, die sich Ende der 2000er Jahre angestaut hatte und ihren Höhepunkt zwischen den Wahlen zur Staatsduma vom 4. Dezember 2011 und den Präsidentschaftswahlen am 4. März 2012 erreichte. Ein Teil der Gesellschaft hatte verstanden, dass es in der Führung des Landes keine Veränderungen geben wird, nachdem bekannt gegeben worden war, dass Wladimir Putin für eine neue Amtszeit nominiert wird.
Der zweite wichtige Katalysator für die Protestwelle 2011/2012 und für die Einbindung von politisch zuvor passiven Bürgern war das Problem der politischen Vertretung: Vielen neuen politischen Parteien und unabhängigen Kandidaten wurde eine Registrierung verweigert; die Bürger sahen zudem in den seinerzeit agierenden Parteien keine Vertreter ihrer Interessen. Aufgrund dieses Misstrauens gegenüber dem Regime stieß die Möglichkeit einer Wahlbeobachtung auf ein reges Interesse in der Bevölkerung: Eine große Zahl ganz gewöhnlicher Menschen meldete sich zur Beobachtung der Stimmauszählung.
Als weiterer Grund für den Aufschwung des bürgerschaftlichen Engagements im Jahr 2011 wäre das Vordringen des Internet und die im Vergleich zu den Vorjahren gestiegen Anzahl der Nutzer von sozialen Netzwerken zu nennen. Die Wahlbeobachter konnten über das Internet ihre Eindrücke mitteilen und Fotos und Videoaufnahmen in Umlauf bringen; das Internet wurde auch zu einem Instrument, um Protestaktionen zu organisieren.
Die Protestbewegung begann Ende 2011, fand im März 2012 ihre Fortsetzung während der Präsidentschaftswahlen, erlebte eine intensive Entwicklung und brachte neue friedliche Formen eines Ausdrucks des Bürgerwillens hervor, angefangen von Wahlbeobachtung und Workshops für Aktivisten bis hin zu sozialer Freiwilligenarbeit, unter anderem zur Unterstützung von Arbeitsmigranten.
In den Erzählungen der Mitglieder der Hilfegruppen lassen sich unterschiedliche Ereignisse ausmachen, die gewissermaßen als Trigger für den Beginn bürgerschaftlichen Engagements wirkten. Viele Aktivisten des Projektes »Deti Peterburga« (»Die Kinder von Petersburg«) haben ihre Tätigkeit, bei der sie Migranten helfen, einen Schulplatz zu finden oder Kurse in russischer Sprache und Kultur zu erhalten, begonnen, nachdem sie ihr Engagement als Beobachter bei den Wahlen 2011/2012 und in der Bewegung »Beobachter Petersburgs« verwirklicht hatten.
»Ich bin zufällig zu dem Projekt gestoßen. Irgendwie war ich auf einem Treffen der »Nabljudateli Peterburga« [dt.: »(Wahl-)Beobachter Petersburgs«], um Neues aus meinem Bezirk zu erfahren, dem Admiraltejskij-Bezirk. Bei dem Treffen war auch D. da und erzählte, dass ein Projekt dieser Art geplant ist. Zu Anfang wollte ich bei der Info-Arbeit helfen. Dann ging ich zu den Seminaren, und jetzt leite ich selbst welche.« (Aktivistin, 21 Jahre)
In der Initiativgruppe »Prawa dlja wsech« (»Rechte für alle«) sind die Aktivisten vielfältiger: Unter ihnen sind Vertreter aus der LGBT-Community, der sozialistischen Bewegung, von Initiativgruppen für behutsame Stadtentwicklung; aber die wichtigsten Organisationen für den Aufbau von »Rechte für alle« waren wiederum die »Beobachter Petersburgs« und die »Hilfegruppe für Festgenommene«, eine Initiative, die sich nach den Festnahmen bei den Protestaktionen gegen die Wahlfälschungen 2011 und 2012 selbst organisiert hatte. Eine der Aktivistinnen der Bewegung »Rechte für alle« erzählt über ihre Motivation, sich an politischer Menschenrechtsarbeit zu beteiligen, wie auch über ihren Wunsch nach Teilhabe am gesellschaftlichen Leben:
»Ich war Wahlbeobachterin bei den Dumawahlen, das war 2011, und bei den Präsidentschaftswahlen auch. Ich weiß nicht. Das scheint mir wichtig zu sein, es schien einfach, dass das ein Thema ist, ein Lebensbereich, der mich etwas angeht, denn einfach nur leben und sich nur mit Mathematik zu beschäftigen, das ist falsch.« (Aktivistin, 26 Jahre).
In den Berichten darüber, wie die Idee entstand, sich für Arbeitsmigranten einzusetzen, erzählen viele Befragte von der Verschärfung der Migrationsgesetze im Jahr 2013, wobei sie die Ereignisse als hereinbrechende Elementargewalt, als Katastrophe, als »Verhängnis« beschreiben; die Kräfte, die dies bewirken, werden nicht genannt. Es gibt viele Beschreibungen von Ereignissen, die nicht über das Persönliche, sondern über ein kollektives »Wir« erfolgen, über das Solidarische in diesem Milieu.
Bei den Hilfegruppen für Migranten in St. Petersburg lassen sich drei Haupttypen von »Aktivistenkarrieren« ausmachen:
1) Die »Rettungshelfer«. Das sind erfahrene Freiwillige mit reich gefüllten Aktivistenkarrieren, die sowohl politisch aktiv waren, als auch für behutsame Stadtentwicklung, im Tierschutz und in anderen Initiativen.
»Das begann mit der Stadtentwicklung, 2008/2009, also eigentlich vor dem Marsch zur Verteidigung Petersburgs. Na, da fiel die Collage mit dem Ochta-Center auf, und es gab die Bitte, zu »Jabloko« zu kommen und Zeitungen zu verteilen. Und ich ging dann hin. So ging die Sache dann immer weiter, dann kam die Wahlbeobachtung, die Hilfegruppe für die, die bei den Demonstrationen festgenommen wurden. Und dann begannen wir, mit Migranten zu arbeiten. Die Sache ist die, dass man sieht, da gibt es irgendwo ein Problem, und dann sieht man, dass es überall Probleme gibt, und man denkt dann, dass man hier was ändern kann, und das gelingt; und diese Erfahrung kann man dann auf andere Dinge anwenden« (Aktivistin, 34 Jahre).
2) »Junge Spezialisten«. Die Hilfe für Migranten erfolgt hier über den Einsatz der eigenen Kenntnisse und sie wird als etwas Natürliches beschrieben, was jeder machen kann:
»Ich hatte früher nicht gedacht, dass ich den Migranten irgendwie helfen könnte, na, es kam mir einfach nicht in den Sinn, dass ich eine linguistische Bildung habe und meine Kenntnisse für eine gute Sache einsetzen kann« (Aktivistin, 22 Jahre).
3) »Eigene Leute«. Das sind Migranten, die sich besser eingelebt haben und Russisch können, oder Angehörige der unterschiedlichen nichtslawischen ethnischen Gruppen, die in Petersburg geboren wurden (meist in Familien aus Zentralasien). Es gibt auch junge Freiwillige aus Migrantenfamilien, die aus Zentralasien zugezogen sind:
»Mir ist klar, wie wichtig es ist, nicht nur Russisch zu können, wenn du hier lebst, sondern auch die Kultur hier zu kennen, die Traditionen. Meine Eltern sind vor 20 Jahren aus Usbekistan hierhergezogen, und wir finden, dass man den Zugezogenen helfen sollte, die haben es in ihrer Heimat und auch hier sehr schwer« (Aktivistin, 19 Jahre).
Anhand verschiedener Materialien und Interviews, die in Deutschland und Russland in der Presse veröffentlicht wurden, lassen sich bei Hilfegruppen für Migranten in Berlin analoge Typen von »Aktivistenkarrieren« ausmachen. Einige Kategorien ähneln den Aktivisten-»Laufbahnen« in St. Petersburg:
»Junge Spezialisten«. Hier handelt es sich auch vorwiegend um Studenten oder Leute, die vor kurzem die Universität absolviert haben, die ihre Kenntnisse für die Arbeit mit Arbeitsmigranten und Flüchtlingen einsetzen. So bietet beispielsweise das Rechtshilfeprojekt »Refugee Law Clinics« studentische Rechtsberatung, Vertretung vor Gericht, Hilfe beim Verfahren und beim Schriftverkehr mit den Behörden. Es gibt Projekte, die von Berufsanfängern in den Bereichen Psychologie, Pädagogik oder Medizin, getragen werden.
Die »Empathischen«. Nach dem Zustrom von Migranten und Flüchtlingen entstand eine Vielzahl Hilfsinitiativen junger Menschen, zum Beispiel bringt die Initiative »Start with a friend« Berliner, Migranten und Flüchtlinge zusammen: Sie erkunden zusammen die Stadt, gehen gemeinsam aus und leisten begleitende Hilfe in den Organisationen: »Der Mann einer Freundin von mir ist aus Hama in Syrien, aber mitzufühlen, mich zur Hilfe zu entschließen, das war erst vor kurzem: die Nachrichten haben mich betroffen gemacht«. Im Unterschied zu den anderen Kategorien helfender Aktivisten sind in dieser Gruppe auch ältere Menschen zu finden, deren Eltern den Krieg erlebt haben, worauf sich zum Teil ihre Empathie und ihr Wunsch zu helfen zurückführen lässt.
Die »eigenen Leute«. Migration gibt es in Deutschland seit längerer Zeit und ist somit ein gewohnteres Phänomen. Es gibt dort viele Migranten aus anderen Ländern, und einige unter ihnen, die selbst das Los eines Migranten oder Flüchtlings erfahren haben, werden zu Freiwilligen, arbeiten in Hilfsorganisationen mit oder gründen ihre eigenen Hilfsinitiativen: »Ich als Migrantin will, wie andere Migranten auch, etwas tun, damit die Leute ihre Rechte bekommen« (Migrantin aus Polen, Aktivistin in einer medizinischen Hilfsorganisation).
Die »Rettungshelfer«. Die größte Kategorie stellen junge Angehöriger politischer Jugendbewegungen dar. Da sie parallel auf verschiedene Art politisch und gesellschaftlich aktiv sind, können sie der Gruppe der »Rettungshelfer« zugerechnet werden. Es handelt sich hier ebenfalls um LGBT-Aktivisten, Grüne, Feministinnen…
Unterschiede bei den Typen engagierter Menschen in St. Petersburg und Berlin treten durch die Gruppe der »Empathischen« in Deutschland zu Tage, also einer Gruppe von Leuten, die weder Aktivisten sind (wie die »Rettungshelfer«), noch junge Spezialisten, noch Migranten, sich aber in der Stadt zu Initiativgruppen zusammenfinden, um den Ankömmlingen zu helfen. In St. Petersburg kommen die Leute eher über bestehende Erfahrungen als Aktivisten sowie mit Ungerechtigkeit, der Bürokratie und dem Gerichtssystem zur Hilfsarbeit für Migranten.
Unter den Problemen, die die Aktivisten nennen, ist die Intoleranz der Gesellschaft gegenüber Zugezogenen der wichtigste Stein des Anstoßes. Aktivisten von Petersburger Organisationen berichten, dass es selbst in ihrer näheren Umgebung Ablehnung gibt: »Meine Eltern sind Küchennationalisten« (Aktivistin, 21 Jahre); »Meine Verwandten… nun, die wissen nichts von meiner Arbeit mit Migranten; ich weiß nicht, wie sie reagieren werden« (Aktivistin, 34 Jahre). Es gibt in den Familien gewisse Probleme mit dem Verständnis für die das Engagement für Migranten; eine Folge ist, dass vor Freunden und Verwandten die eigene Tätigkeit verschwiegen wird.
Die Arbeit in der Organisation »Die Kinder von Petersburg«, die sich auf Russischunterricht spezialisiert hat, wird von den Befragten als sehr wichtig für die Eingliederung von Migrantenkindern beschrieben. Es wird eine Reihe von Schwierigkeiten genannt, unter anderem, dass es keinen Russischunterricht für junge Menschen (im nichtschulpflichtigen Alter) und deren Eltern gibt, dass es zu wenig Freiwillige gibt, um Kurse anzubieten, und dass Migrantenkinder wegen der Migrantenfeindlichkeit psychische Probleme haben:
»… das Problem war, dass ihn nicht nur die Klassenkameraden schlecht behandelt haben, sondern auch die Lehrer, die sich sehr unprofessionell verhielten. Schlimmer noch, er musste sich sogar mit einem anderen Namen anreden lassen, das war nicht mal in der Schule, sondern ein Nachbar, der im gleichen Aufgang oder in der gleichen Wohnung lebte, redete ihn mit einem russischen Namen an, und da nannten sie ihn dann in der Schule und in unseren Kursen »Mischa«, obwohl er doch einen ganz anderen Namen hatte. Er begann sich für seinen eigenen Namen zu schämen« (Aktivistin, 22 Jahre).
In St. Petersburg lassen sich derzeit fünf Bewegungen oder Organisationen finden, die Unterstützung für Arbeitsmigranten leisten. Bei einer genaueren Betrachtung und durch die Interviews wird jedoch klar, dass die Organisationen alle miteinander verflochten sind. Aktivisten der einen Organisation sind auch in anderen Gruppen als Aktivisten tätig. Selbst wenn es auch in St. Petersburg bislang nur wenige solcher Bewegungen und Aktivisten gibt, so ist deren Arbeit überaus wichtig, da der Staat es unterlässt, auf die Lage der Migranten einzuwirken, sich um deren Lebensumstände und Gesundheit zu kümmern.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder