Strafverfahren gegen Minister Uljukajew. Fortsetzung der Offensive der "Silowiki" gegen die "Systemliberalen"?

Von Sergey Medvedev (Berlin/Moskau)

Solche Einsätze der Sicherheitsbehörden stärken das Geschäftsklima in Russland

Wladimir Putin, Präsident

»Was soll man hier kommentieren; das müssen schließlich Sicherheits- und Justizbehörden kommentieren. Erst danach kann man etwas zur Sache sagen; aber die Tatsache, dass dies geschehen ist, ist eine sehr traurige Tatsache. […]

Ich möchte aber nur eines sagen, dass wir weiterhin die Arbeit fortsetzen, die darin begründet ist, dass wir jegliche Erscheinungen dieser Art nicht dulden werden. Meiner Ansicht nach bedeuten solche Einsätze der Sicherheitsbehörden nicht nur keinen Schaden für das Geschäftsklima, sondern stärken im Gegenteil das Geschäftsklima in Russland. […]«

Wladimir Putin am 21. November 2016 bei einer Pressekonferenz; <https://ria.ru/incidents/20161121/1481756876.html>.

Für uns ist der Vorfall ein absoluter Schock

Anatolij Tschubajs, Chef des Staatskonzerns Rosnano

»Für uns, die wir Alexej Uljukajew seit mehr als 30 Jahren kennen, ist der Vorfall ein absoluter Schock. Wenn man aber versucht, die Emotionen und ein natürliches menschliches Mitgefühl gegenüber einem Kollegen in Not beiseite zu lassen, und über die Sache, und nicht über Politik nachzudenken, dann sollte man sich an eine goldene Regel halten, nämlich beide Seiten anzuhören. Die eine sagt: Uljukajew hat Rosneft gedroht und Schmiergeld abgepresst. (Wahrscheinlich verstehe ich etwas in dieser Welt nicht mehr). Die andere haben wir bisher noch gar nicht gehört!

Anatolij Tschubais am 15. November 2016 auf Facebook; <https://www.facebook.com/anatoly.chubays/posts/1265388456845005>.

»Ein neues Tauwetter wird es unter Putin nicht geben«

Nikolaj Podosokorskij, Publizist

»[…] Ich erinnere daran, dass Alexej Uljukajew im Juni 2013 Minister für wirtschaftliche Entwicklung geworden ist, wobei er Andrej Belousow ablöste. Davor war Uljukajew mehr als 9 Jahre Erster stellvertretender Vorsitzender der Zentralbank der Russischen Föderation. Er wurde oft den sogenannten »Systemliberalen« des Regimes zugerechnet (neben Dmitrij Medwedew, Arkadij Dworkowitsch, Anton Siluanow, Igor Schuwalow, Elwira Nabiullina und Alexej Kudrin). Die Festnahme von Uljukajew ist wohl der aufsehenerregendste Fall dieser Art nach der Festnahme des Gouverneurs des Gebiets Kirow, Nikita Belych, im Juni dieses Jahres. Damals, nach der Inhaftierung von Belych <schrieb> ich in einem Blog, dass die »Silowiki« den nächsten Schlag gegen Alexej Kudrin und dessen »Komitees der Bürgerinitiativen« richten werden; ich habe mich aber geirrt: sie haben einen anderen Funktionär aus den Reihen der »Syslibs« [Systemliberalen] gewählt.

Es ist offensichtlich, dass ein solcher Einsatz des Ermittlungskomitees nicht ohne Abstimmung mit dem Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, stattfinden konnte, das heißt, er hat es vorgezogen, erneut das Thema »Korruptionsbekämpfung« auf höchster Etage auf die Tagesordnung zu setzen. Irgendjemand muss schließlich für das Scheitern der Wirtschaftspolitik und der Verschlechterung des Lebensniveaus der Bürger verantwortlich sein. Einen besseren Kandidaten für die Rolle des »Sündenbocks« als den Wirtschaftsminister kann man sich da nicht vorstellen. […]

Bemerkenswert ist auch, dass der Fernsehsender »Doschd« an demselben Tag, als Uljukajew festgenommen wurde, von einer Absage des Kreml hinsichtlich vorgezogener Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2017 berichtete, die der Chef der KPRF, <Gennadij Sjuganow>, sowie der wahrsagende Politologe <Walerij Solowej>, Professor an der MGIMO [Moskauer Staatliche Hochschule für Internationale Beziehungen], prognostiziert hatten. Letzterer ergänzte sogar, Putin werde bei diesen Wahlen nicht kandidieren und Dmitrij Medwedew werde ihn erneut ablösen.

In den Worten Solowejs »wird sich die soziale und wirtschaftliche Situation verschlechtern. Das heißt, auch die Stimmung der Massen wird sich verschlechtern. Das sagen heute alle Analytiker, u. a. auch die, die dem Regime zu Diensten sind. Man sagt, dass das Jahr 2018 in dieser Hinsicht äußerst unerfreulich aussieht.« […].

Nikolaj Podosokorskij am 15. November 2016 auf Livejournal; <http://philologist.livejournal.com/8863037.html>.

Er ist ein hundertprozentiger Gauner; eingesperrt wurde er aber nicht deswegen

Alexej Nawalnyj, Oppositionspolitiker

»Die dumme Festnahme von Uljukajew hat unsere Untersuchung über ihn durchkreuzt. Eigentlich sind wir selbst daran schuld – wir haben vor zwei Jahren seine Offshore[-Firma] gefunden, das aber erst mal auf die lange Bank geschoben.

Ich habe keine Zweifel, dass Uljukajew ein Gauner ist:

Hier sind Unterlagen seiner Offshore auf Zypern, die wir vor langer Zeit gefunden haben. Formell gehört die Offshore dem Vater von Uljukajew. Wenn aber Uljukajew selbst sechzig ist, muss sein Vater bestimmt über achtzig sein. Ich bezweifle sehr, dass er irgendein Unternehmen führt und dazu eine Firma auf Zypern braucht.

[…]

Registriert wurde die Offshore am 19. Mai 2011, also zu einem Zeitpunkt, als Uljukajew der Erste stellvertretende Vorsitzende der Zentralbank war; die Firma ist immer noch tätig.

Wir haben nicht festgestellt, was bei der Firma registriert ist, vermuten aber, dass Uljukajew auf diese Weise seine Immobilien im Ausland vor Deklarierung [seiner Vermögensverhältnisse] schützte.

Jetzt ist es nicht mehr so interessant, sich mit dem Fall zu beschäftigen – Uljukajew ist kein Beamter mehr – vielleicht werden Journalisten weitergraben.

2. Einkommen

Im Jahr 2015 hatte Uljukajew 60 Millionen und seine Frau 15. Das ist das Vierfache des Gehalts des Präsidenten der USA. Es ist klar, dass es dasselbe »Geschäft« ist wie bei Wolodin, Surkow und allen anderen Regierungsbeamten – es ist Legalisierung von Korruptionsgeldern.

3. Uljukajew hat mehrere Jahre den <Aufsichtsrat der VTB-Bank> geleitet – dort floriert die Korruption. Geklaut wird alles, was nicht niet- und nagelfest ist, und Uljukajew deckte das alles. Ich erinnere mich, wie Uljukajew solche wie mich auf Aktionärsversammlungen nicht zu Wort kommen ließ und Kostin [VTB-Chef] half.

4. Und überhaupt: Der Typ saß 16 Jahre in der Regierung Putins. Er ist genauso Teil der Vertikale der Korruption wie Setschin, Schuwalow und Jakunin.

Dabei glaube ich keine Sekunde an die Version des Ermittlungskomitees und der FSB. Gegen den Kauf der Baschneft-Aktien durch Rosneft war nicht nur Uljukajew eingetreten, sondern auch Medwedew, Dworkowitsch und Schuwalow.

[…]

Der wahre Grund für die Festnahme ist, meiner Meinung nach, eine turnusmäßige Einschüchterung der Eliten. Die Eliten haben Angst vor Putin und hassen ihn. Er fürchtet ihren Verrat und macht deswegen das, was in diesen Fällen alle autoritären Führer machen: sei es Stalin oder der Häuptling des Stammes Tumbo-Jumbo. Er repressiert ab und zu jemanden ganz unerwartet, damit die Übrigen Angst haben, weniger quatschen und einander aktiver denunzieren. […]«

Alexej Nawalnyj am 15. November 2016 bei navalny.com; <https://navalny.com/p/5131/>.

Die »Systemliberalen« sind momentan nicht in der Lage, ihre Sache zu verteidigen

Georgij Satarow, Präsident des Forschungszentrums »INDEM«

»[…] Eine ähnliche Attacke hatte es früher schon gegeben. Damals war es Kudrin gelungen, seinen Stellvertretenden zu schützen. Ich fürchte, dass die »Systemliberalen« des Regimes momentan nicht in der Lage sind, ihre Sache zu verteidigen. Das heißt, sie werden alle abholen: Nabiullina, Tschubais, Kudrin, Kirijenko und die ganze Liste runter. Das ist alles unausweichlich. Herangereift ist es durch das Jahrzehnt ihrer Gleichgültigkeit dem gegenüber, was im Lande vor sich ging.

Leider ist für Uljukajew die einzige Hoffnung Putin, der ein Ungleichgewicht im Regime befürchten könnte; das sieht er sehr ungern. In dem Fall müsste er Setschin aufgeben. Wenn er das nicht tut, wäre das Schicksal der ganzen von mir genannten Clique womöglich besiegelt. Und wir dann auch. Und das Land. Und die derzeit triumphierenden Silowiki.«

Georgij Satarow am 15. November 2016 auf Facebook; <https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=984506871676092&id=100003503649476>.

Es braucht eine echte Gerechtigkeit. Man sollte sich an die Methoden der zweiten Hälfte der 1930er Jahre erinnern

Wsewolod Tschaplin, ehem. Leiter für Außenbeziehungen der Russischen Orthodoxen Kirche

»Die Festnahme von Uljukajew ist ein äußerst richtiger Schritt im Prozess des Elitenwechsels. Erneut ist klar geworden: Es gibt keine Unantastbaren. Es sind aber weitere Schritte nötig. Auch die wichtigsten Schöpfer der Wirtschafts-»Politik« der 1990er Jahre, die heute aus dem Hintergrund weiterhin viele Prozesse steuern, dürfen nicht unantastbar sein. Es braucht eine echte Gerechtigkeit. Man sollte sich die Methoden der zweiten Hälfte der 1930er Jahre ins Gedächtnis zurückrufen. Schließlich ist die wahre Macht nur diejenige, die das Leben nimmt und gibt; so und nicht anders.

Interessant ist ja auch, welche »Schutzpatrone« Uljukajew bei der Festnahme <anzurufen versuchte> […]? Tschubais, Kudrin, Dworkowitsch, Medwedew? Oder eine der Botschaften? Ich erinnerte mich übrigens daran, dass der heutige Minister einst in den 90er Jahren als Kolumnist bei der Zeitung »Russkaja Mysl« gejobbt hat, die mit Geldern katholischer Stiftungen herausgegeben wurde und eine »Demokratisierung« Russlands propagierte…

Uljukaew tut einem eigentlich etwas leid, er ist ein klassischer Angehöriger der Intelligenzija und war nicht der wichtigste in der Pyramide. Wir hoffen, dass aber auch die anderen dran sein werden, prominentere und einflussreichere Personen. Die Säuberung muss sich in vollem Maße und vordringlich auf Geistliche erstrecken, die in dubiose »Wirtschafts«-Manipulationen« verwickelt sind. Schluss mit dem Verstecken hinter ›Schutzpatronen‹.«

Wsewolod Tschaplin am 15. November bei snob.ru; <https://snob.ru/profile/26107/blog/116559>.

Ausgewählt und eingeleitet von Sergey Medvedev, Berlin (Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)

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Von Il’ja Kalinin
Russlands Führung steht im Jahr 2017 vor einer Herausforderung: Sie muss Erinnerung an die Oktoberrevolution in ein Geschichtsbild verpacken, das Revolutionen als solche ablehnt. Ihre zentrale Botschaft lautet: Versöhnung. Doch es geht nicht um den Bürgerkrieg 1917–1920. Die Vergangenheit ist nur vorgeschoben. Es geht darum, jede Form von Kritik am heutigen Regime als Bedrohung des gesellschaftlichen Friedens zu diffamieren und mit dem Stigma zerstörerischer revolutionärer Tätigkeit zu belegen. (…)
Zum Artikel auf zeitschrift-osteuropa.de
Kommentar

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Von Sabine Donner
Seit 2003 misst der Transformation Index (BTI) alle zwei Jahre die Fortschritte von 128 Transformations- und Entwicklungsländern auf ihrem Weg zu rechtsstaatlicher Demokratie und sozial verantwortlicher Marktwirtschaft (Status-Index) und bewertet die Qualität der politischen Steuerungsleistungen der handelnden Akteure (Management-Index). Die aktuelle Auflage des BTI, der BTI 2010, wurde im November 2009 veröffentlicht.
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