Wahlen ohne Auswahl?
Die Wahlen zur Staatsduma am 18. September 2016 haben das Gleichgewicht von vor 2011 wiederhergestellt, bei dem »Einiges Russland« im Unterhaus des russischen Parlaments eine äußerst dominierende Position innehat. Der Kreml hat aus seinem Versagen bei den vergangenen Parlamentswahlen eine Reihe von Lehren gezogen und seine politischen und institutionellen Instrumente effizient eingesetzt, um eine umfassende Kontrolle über den Wahlprozess zu gewährleisten. In erster Linie wurde das Wahlsystem bei den Dumawahlen erneut geändert. 2007 und 2011 hatten die Wahlen unter reinem Verhältniswahlrecht mit einer Sperrklausel von 7 Prozent stattgefunden. 2016 wurde wieder das gemischte Wahlsystem mit einer Sperrklausel von 5 Prozent (wie bei den Wahlen von 1993 bis 2003) eingeführt: 225 Mandate werden an die Gewinner in den Direktwahlkreisen verteilt. Die übrigen 225 Mandate werden proportional zu den Stimmen für die Kandidatenlisten der Parteien verteilt. Das gemischte Wahlsystem hatte sich aus dem äußerst starken Einfluss lokaler Politik- oder Wirtschaftsgrößen auf die Wahlen in den Direktwahlkreisen ergeben, in einer Zeit, da die politische Kontrolle des Kreml über die Regionen nur schwach war. Der Einsatz des reinen Verhältniswahlrechts hatte den regionalen Regierungschefs hingegen nur begrenzt Vorteile geboten, da sie nur wenig Möglichkeiten hatten, »ihre« Kandidaten auf nationaler Ebene zu platzieren. Gleichzeitig hatten sie aber in der jeweiligen Region die Stimmen für die Kremlpartei zu liefern. Die Wiedereinführung des gemischten Wahlsystems bedeutete für sie eine ausbalancierte Kombination aus positiven und negativen Anreizen für den Ablauf der Wahlen in den Regionen, wo die Gouverneure eine herausragende Rolle in den Direktwahlkreisen spielen. Wenig überraschend wies die Geographie der Direktwahlkreise in vielen Regionen eine Grenzziehung zugunsten ländlicher Gebiete auf, in denen die lokale politische Maschinerie ohne größeren Widerstand mit voller Wucht eingesetzt werden kann. Angesichts der Stärke der regionalen politischen Maschinen gewann »Einiges Russland« dann auch in nahezu allen Direktwahlkreisen, mit Ausnahme jener, in denen sie zugunsten anderer kremltreuer Parteien auf eigene Direktkandidaten verzichtet hatte. Während »Einiges Russland« bei den nach Listen vergebenen Mandaten nur ein wenig besser als 2011 abschnitt, sorgten die Direktkandidaten für eine uneingeschränkte Dominanz der »Partei der Macht« in der Staatsduma (s. Tabellen 5 u. 6 auf S. 20).
Ein weiterer Faktor war der geänderte Wahltermin. Alle bisherigen Dumawahlen waren im Dezember abgehalten worden; 2016 wurden sie für den September angesetzt. Dieser Schritt zielte darauf ab, durch die vorangehenden Sommerferien das Interesse in der Gesellschaft und somit die Wahlbeteiligung zu verringern (wodurch sich dann weitgefächerte Möglichkeiten für Manipulationen am Wahltag ergeben) und eventuelle Effekte negativer Kampagnen (wie bei den Wahlen 2011) zu reduzieren. Gleichzeitig wollte der Kreml größere Skandale und Verwürfe wegen unfairer Wahlen vermeiden. Die Liste der Parteien, denen eine Teilnahme gestattet wurde, wurde auf 14 erweitert (gegenüber 7 Parteien bei den Wahlen 2011), sie umfasste auch »nichtsystemische« Parteien wie »PARNAS« (die dann weniger als 1 Prozent der Stimmen erhielt). Diese Maßnahmen dienten zwar weithin der Dekoration doch trug das Vorgehen des Kreml beträchtliche Früchte. Die offizielle Wahlbeteiligung ging auf unter 48 Prozent zurück; in den großen Städten ging nur rund ein Drittel der Wahlberechtigten zur Wahl. Einigen Schätzungen zufolge, war das Ausmaß der Wahlfälschungen verschiedenster Art ungefähr mit dem von 2011 vergleichbar. Nach dem Wahltag waren allerdings keine größeren Proteste zu verzeichnen. Die russischen Wähler, die bei und nach den letzten Parlamentswahlen politisch engagiert waren, waren 2016 passiv, wenn nicht gar apathisch: Viele gingen nicht zur Wahl und wurden auch nicht in anderer Form politisch aktiv Wie ist das zu erklären?
Angst und Hass in Russland
Die repressive Wende, die der Kreml nach den Protesten von 2011/2012 einleitete, hatte das Ziel, das Risiko einer gegen das Regime gerichteten Mobilisierung bei den anstehenden Wahlen und darüber hinaus zu minimieren. Diese Wende wurde auch durch wirtschaftliche Schwierigkeiten bestimmt: Die wirtschaftliche Rezession angesichts weltweit fallender Ölpreise und die internationalen Sanktionen (wie auch Russlands Gegensanktionen) ließen keinen Raum, um sich weiterhin die Loyalität der Bürger zu erkaufen. Ganz im Gegenteil: Die realen Löhne, Gehälter und Renten in Russland sind vor den Wahlen gesunken und werden auch in den kommenden Jahren weiter zurückgehen.
Der Kreml hat wirkungsvoll eine ganze Reihe repressiver Instrumente eingesetzt: 1) eine Gängelung und Einschüchterung von regimekritischen Personen und Organisationen (in erster Linie von NGOs, die als Schnittstellen eines Netzwerks regimefeindlichen Engagements betrachtet werden; 2) eine zunehmende Kontrolle über den Informationsfluss – die Maßnahmen reichen von einem Austausch der Führungsriege in Medienorganisationen bis hin zu einer Ausweitung der Anti-Extremismus-Gesetze; und 3) eine vom Regime vorangetriebene Hysterie eines »Kulturkampfes«, die wirksam als Mittel zur Konsolidierung der öffentlichen Meinung um das Regime und zur Diskreditierung von Regimegegnern eingesetzt wird.
Die Kombination aus neuen strengeren Vorschriften und deren Anwendung sind zum Kern einer systematischen und konsequenten Politik der Angst geworden, die 2016 bislang ihre Ziele erreichte. Ungeachtet der gestiegenen Zahl wirtschaftlich motivierter Proteste (wie etwa denen der Fernfahrer, die gegen Mautgebühren protestieren), blieben diese weithin lokaler Natur und wurden von den Regionalregierungen eingedämmt. Gleichzeitig ging die Zahl der Teilnehmer an regimekritischen Protesten zurück, Hunderte Aktivisten und Regimegegner sind aus Furcht vor strafrechtlicher Verfolgung und/oder einem weiteren »Anziehen der Schrauben« aus dem Land geflohen. Viele unabhängige Organisationen sind entweder geschlossen worden oder haben ihre Stimme gesenkt, übten Selbstzensur, wurden, als »Nationalverräter« stigmatisiert, in enge Nischen gedrängt und hatten zahlreiche Schwierigkeiten zu bewältigen. 2016 war die Medienholding »RBK« (»rbc.ru«), die Michail Prochorow gehört, gezwungen, ihre Führung auszutauschen und ihre Inhalte moderater zu gestalten. Eine Reihe anderer Medien, einschließlich der »Nowaja Gaseta« und der »Wedomosti« (und eine Menge lokaler Medien) wurden mit Verleumdungsklagen unter Druck gesetzt und mildern manchmal ihren kritischen Ton gegenüber dem Kreml. Die offizielle Liste der »ausländischen Agenten«, die vom Justizministerium geführt wird, ist 2016 auf 148 Einträge angewachsen. Dort sind jetzt auch Russlands größtes Netzwerk von Bürgerrechtsaktivisten »Memorial« und das angesehenste Meinungsforschungsinstitut des Landes, das Lewada-Zentrum« zu finden. Die Zahl politischer Häftlinge ist laut Memorial bis Oktober 2016 auf 52 angestiegen (im gleichen Vorjahresmonat waren es noch 40). Diese Zahl ist, verglichen mit vielen autoritären Regimen, dennoch recht niedrig.
Darüber hinaus wurde die Androhung von Gewalt gegen Regimegegner ausgedehnt; regimefreundliche Aktivisten wie die »Nationale Befreiungsbewegung« (»NOD«) und andere militante Gruppen (etwa die »Orthodoxen Aktivisten«) operierten unter einer informellen Protektion durch den Kreml. Früher war nichtstaatliche Gewalt nur für den Nordkaukasus typisch gewesen; 2016 begann sie sich auch auf andere Landesteile auszudehnen. Wenn auch Gewaltakte wie die Ermordung von Boris Nemzow 2015 in diesem Jahr bislang noch nicht zu verzeichnen waren, hat die Atmosphäre des Hasses auch einige Bereiche jenseits der Politik beeinträchtigt: Die Zahl der Skandale um erzwungene Schließungen von Ausstellungen und Absagen anderer Kulturveranstaltungen hat sich in Russland aufgrund des Drucks durch regimefreundliche Akteure drastisch erhöht. Das sind deutliche Signale an alle.
Die repressive Wende hatte im Vorfeld der Dumawahlen 2016 naturgemäß eine verheerende Wirkung auf die Oppositionsparteien und deren Anhänger. Die »systemischen« Oppositionsparteien – u. a. die »Kommunistische Partei der Russischen Föderation« (KPRF) oder »Gerechtes Russland« – sind mit dem Kreml verbündet und kritisieren nur manchmal Teile dessen Politik: Sie wollen eher eine Wahrung des Status Quo als Veränderungen im Regime. Die nichtsystemischen Oppositionsparteien stehen unter heftigem Druck des Kreml, ihr Mobilisierungspotential bleibt sehr gering. Die Partei »PARNAS«, die beansprucht hatte, verschiedene regimekritische Aktivisten unter ein Dach zu bringen, erlebte mehrere größere Abspaltungen und schaffte es nicht mit der Partei »Jabloko« zusammenzuarbeiten, die dasselbe begrenzte Wählersegment ansprach. Der prominenteste Oppositionsführer, Alexej Nawalnyj, ist aus juristischen Gründen von Kandidaturen ausgeschlossen. Einige seiner Verbündeten haben Wahlen boykottiert, ohne entmutigte Wähler damit irgendwie beeindrucken zu können. Die Dumawahlen unterschieden sich deutlich von den Wahlen 2011, als Nawalnyj und andere Oppositionelle unter dem Motto »Wählt irgendwen, aber bloß nicht ‚Einiges Russland‘!« wirksam eine negative Anti-Kreml-Kampagne organisiert hatten. Anstelle der Begeisterung und der Hoffnungen des »Winters der Unzufriedenheit« von 2011/2012, herrschte 2016 in der politischen Landschaft Russlands Trostlosigkeit.
Fernsehen, Kühlschrank und Rente
Mit Blick auf die nach 2014 entstandene wirtschaftliche Talfahrt haben viele Analytiker und Experten vorausgesagt, dass es trotz der breitangelegten Propagandamaßnahmen des Kreml zu einer Zunahme regimekritischer Stimmungen in der Bevölkerung kommen könnte. Diese Annahmen werden oft im Rahmen eines »Kampfes zwischen Fernseher und Kühlschrank« (sprich: »Propaganda gegen Konsummöglichkeiten«) im russischen Alltag formuliert. 2016 ist die Macht des »Fernsehers« – auch wenn das Vertrauen in die Medien einen gewissen Rückgang erfahren hat – ungebrochen: Eine Reihe von Umfragen belegen eine große und echte Unterstützung in der Bevölkerung für Putin und das Regime in Russland (Im November 2016 meinten in einer Umfrage des Lewada-Zentrums 56 Prozent der Befragten, dass sich das Land in die richtige Richtung bewege, 86 Prozent waren mit Putins Regieren zufrieden und zwei Drittel gaben einer möglichen Fortführung von Putins Präsidentschaft über 2018 hinaus ihre Zustimmung). Allerdings sollte berücksichtigt werden, dass der Rückgang der realen Einkommen nur in Bezug auf die zuvor erreichten Spitzenwerte von 2013/2014 spürbar war (er betrug nach unterschiedlichen Schätzungen 10 Prozent). Immerhin hat der Wohlstand der Russen 2016 wieder das Niveau von 2011/2012 erreicht und ist keineswegs mit dem der 1990er Jahre vergleichbar. Der »Kühlschrank« ist in der Tat noch voll genug, wenn auch die Fülle wegen des allmählichen Konsumrückgangs bei Gebrauchsgütern, Kleidung und Nahrungsmitteln ein wenig geschrumpft ist. Das ist der Grund, warum der Erhaltung des Status Quo zuliebe viele Russen politischen Stillstand bevorzugen. In diesem Zusammenhang besteht das Ergebnis der aggressiven und umfassenden staatlichen Propaganda weniger in einer echten Unterstützung für den Kreml, als vielmehr in dem Bewusstsein, dass es keine realistische Alternative zum derzeitigen Regime gibt. Zumindest im Jahr 2016 scheinen die Russen, die sich zurückgezogen haben, diesem Argument zu glauben; aufgrund dieser Wahrnehmung forderten sie keine politischen Veränderungen.
Während die Politik in Bezug auf die breite Bevölkerungsmasse 2016 ruhig blieb, waren in den Eliten einige erhebliche Umbesetzungen zu verzeichnen. Putin entließ seinen langjährigen Vertrauten Sergej Iwanow als Chef der Präsidialadministration und ernannte Anton Wajno zu dessen Nachfolger. Wjatscheslaw Wolodin, der politische Chefstratege des Kreml, wurde nach den Dumawahlen Vorsitzender der Staatsduma. Im Machtapparat absorbierte der neue Akteur, die 2016 gegründete Nationalgarde unter Putins ehemaligem Bodyguard Viktor Solotow, einen Teil des Einflusses und des Apparates des Innenministeriums und anderer föderaler Behörden. Einige Einschätzungen besagen, dass sich 2016 der verdeckte, aber heftige Konkurrenzkampf zwischen den verschiedenen Behörden (Generalstaatsanwaltschaft gegen Strafermittlungskomitee usw.) verschärft hat, weil die Renten für Putins Kumpane schwinden. Einige aufsehenerregende Strafverfahren, die 2016 eröffnet wurden, führten nicht nur zur Verhaftung eines Gouverneurs (Nikita Belych aus dem Gebiet Kirow gehört nun auch zu den Verdächtigen wie seine ehemaligen Kollegen in der Republik Komi und dem Gebiet Sachalin), sondern es gab auch Anschuldigungen gegen Leiter Föderaler Behörden (etwa den Leiter des Zolldienstes Andrej Beljaninow). Im November 2016 wurde Alexej Uljukajew, Minister für wirtschaftliche Entwicklung und ein langjähriger »Systemliberaler« in der Regierung, der Bestechlichkeit beschuldigt und verlor seinen Posten in der Folge der feindlichen Übernahme der Ölfirma »Baschneft« durch den staatlichen Ölriesen »Rosneft«, an deren Spitze Igor Setschin steht, ein weiterer langjähriger Vertrauter Putins (Uljukajew und sein Ministerium waren gegen diesen Deal gewesen). Der Kampf um die Rentenströme dominierte auch den Entwurf des Haushalts für 2017–2019, der mit Hilfe der Supermehrheit von »Einiges Russland« von der neugewählten Staatsduma verabschiedet wurde. Während die avisierten Ausgaben für die Sicherheit und das Militär anstiegen, wurden viele Positionen für Soziallausgaben (unter anderem für das Gesundheitswesen) entweder gekürzt oder den Regionalhaushalten auferlegt, die ohnehin in Geldnöten sind.
Fazit
Der Kreml hat 2016 erfolgreich die wirtschaftliche und politische Ordnung zementiert und trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der mageren Aussichten auf zukünftiges Wachstum und Entwicklung Herausforderungen gegenüber seiner politischen Dominanz abwenden können. Darüber hinaus stößt der »Drei D«-Ansatz des Kreml auf wenig Widerstand, während andererseits nahezu niemand in Russland realistische positive Entwicklungsszenarien für das Land ausgemacht hat. Im Oktober 2016 erschien das neue Buch des Petersburger Wissenschaftlers und Analytikers Dmitrij Trawin mit dem bezeichnenden Titel: »Wird Putins System bis 2042 überleben?« [Trawin, Dmitrij: Prosuschtschestwujet li putinskaja sistem do 2042 goda?, St. Petersburg: Norma 2016. Das Jahr 2042 ist der 1986 geschriebenen antiutopischen Satire »Moskau 2042« von Wladimir Woinowitsch entlehnt; d. Red.] Es könnte allerdings sehr wohl sein, dass Russland schon viel früher großen Herausforderungen gegenüberstehen wird.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder