Einführung
Nach einer Zeit starken Wirtschaftswachstums in den 2000er Jahren erlebte Russland während der Krise 2008/2009 eine tiefe Rezession. Die anschließende Erholung mündete in eine Phase der Stagnation und eine erneute Krise 2014–2016. Wir versuchen in diesem Beitrag, die Instabilität der russischen Wirtschaft durch eine fehlende Bereitschaft der führenden Elitegruppen zu erklären, die eigenen Ambitionen zu zügeln und die Interessen anderer Akteure zu berücksichtigen. Unsere Analyse basiert auf dem Konzept der Limited Access Orders (LAO), wie es von Douglass North, John Joseph Wallis und Barry Weingast formuliert wurde (s. den Kasten S. 3).
Die bisherige Entwicklung des politischen und wirtschaftlichen Systems im postsowjetischen Russland lässt sich in zwei Phasen unterteilen: Zunächst gab es das Modell der 1990er Jahre mit dem Versuch, eine liberale Demokratie und Marktwirtschaft zu schaffen; dieses wurde vom Modell des »Staatskapitalismus« der 2000er Jahre abgelöst. Die herrschende Koalition, die sich in dieser Phase herausbildete, bestand aus drei Gruppen: der Bürokratie des föderalen Zentrums, dem Establishment des Militär- und Sicherheitsapparates (den sogenannten Silowiki) und den »Oligarchen« (Großunternehmern mit starken politischen Verbindungen). In der ersten hatte der politische Einfluss der »Oligarchen« zugenommen. In den 2000er Jahren erfolgte eine »Revanche« der Zentralbürokratie und der Silowiki. Innerhalb des Systems entstanden neue Elitegruppen, unter anderem die Bürokratien in den Regionen, erfolgreiche mittelgroße Unternehmen und Eliten des öffentlichen Sektors, die jedoch angesichts der bestehenden Ordnung (Limited Access Order; siehe hierzu den Kasten Seite 3) nicht die notwendigen Ressourcen mobilisieren und akkumulieren konnten, um auf die politische und wirtschaftliche Agenda einzuwirken.
Die Wirtschaftskrise von 2008/09 und die politische Krise von 2011 spielten eine zentrale Rolle bei der Transformation des Staatskapitalismus in Russland und dem Übergang zu einer ideologischen Opposition zum Westen im Rahmen des Modells einer »belagerten Festung«. Der Anstieg der Sozial- und Militärausgaben, der diese Phase prägte, lässt sich als Folge der politischen Begrenztheit des bestehenden Herrschaftsmodells erklären. Die Wirtschaftskrise von 2014–2015 ist eine Folge der Entscheidung von 2012 für das Modell der »belagerten Festung«. Dieses Modell verliert wegen der gestiegenen Haushaltsprobleme zunehmend an Tragfähigkeit.
Reaktionen auf die Krise von 2008–2009 und Versuche, das Modell des staatlich dirigierten Kapitalismus zu transformieren
Die herrschende Elite in Russland (wie auch die Mehrheit der Bevölkerung) war nicht auf die enormen Auswirkungen der Krise von 2008/09 auf Russland vorbereitet. Als die Krise da war, versuchte die Elite, die Folgen auf Kosten der Reserven der Zentralbank (kontrollierte Rubelabwertung) und zu Lasten des Haushalts (aufwendiges Krisenbewältigungsprogramm) abzumildern. Im Unterschied zu dem Ansatz im Westen, Firmen zu unterstützen, nicht jedoch deren Besitzer zu retten, versuchte Russland stärker, die Besitzer zu »retten«. Allerdings bestand die Besonderheit der russischen Reaktion darin, dass die Bevölkerung breit unterstützt wurde. Allem Anschein nach ist diese Ausrichtung dem Wunsch der Elite zuzuschreiben, die soziale und politische Stabilität aufrecht zu erhalten.
Die sozialpolitische Komponente des Krisenbewältigungsprogramms umfasste erhebliche Änderungen am russischen Rentensystem. Hierzu gehörten eine Rentenanpassung und die Einführung von zusätzlichen Sozialleistungen, um den jeweiligen Lebensstandard der Rentner zu gewährleisten. Bis Ende 2010 war die durchschnittliche Altersrente durch diese Anpassungen und Reformen um 40 Prozent gestiegen.
Diese Maßnahmen verbesserten zwar die materielle Lage von Millionen Rentnern, brachten aber einen beträchtlichen Anstieg der Sozialausgaben im Haushalt mit sich. 2009 wurden über 50 Prozent des Reservefonds zur Deckung des Haushaltsdefizits aufgewendet, über die Jahre 2009 und 2010 waren es zusammen über 80 Prozent. Das untergrub erheblich die finanzielle Lage der herrschenden Koalition. Die war es gewohnt, auf eigenständige Fonds als Sicherheitspolster zählen zu können, welche größere Spielräume gewährleisteten.
Insgesamt zeigte die Krise von 2008/09 die Fragilität des Herrschaftsmodells der 2000er Jahre auf, die auf dessen Abhängigkeit von regelmäßigen hohen Öleinnahmen zurückzuführen ist. Diese Erkenntnis zwang die russische Regierung dazu, nach strategischen Lösungen zu suchen. Erwähnenswert ist hierzu insbesondere Dmitrij Medwedews programmatischer Artikel »Vorwärts, Russland!« (»Rossija, wperjod!«; <http://www.kremlin.ru/events/president/news/5413>), der am 10. September 2009 erschien. Er enthielt eine recht nüchterne Einschätzung der zentralen Probleme der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes und zielte auf stimulierende Innovationen ab. Gleichzeitig bekräftigte Medwedews Artikel Russlands Bestreben, sich in die internationale Gemeinschaft zu integrieren, sowie den Umstand, dass Russland die Effektivität des Staatsapparates erhöhen muss. Letzterer Aspekt spiegelt sich auch darin wider, dass seinerzeit das Antikorruptionsgesetz verabschiedet und eine radikale Reform des Innenministeriums unternommen wurde.
Die konservative Wende in der Innen- und Außenpolitik, ihre Gründe und die Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung
Nach der Krise erfolgte in der Elite eine allgemeine Konsolidierung konservativer, nationalistisch ausgerichteter Gruppen, die auf eine Reihe von Umständen zurückzuführen ist: Erstens unternahm der Kreml den Versuch, angesichts sichtbar schwindender Spielräume im Haushalt finanzielle Verluste aufgrund von Korruption einzudämmen. Das hatte einen erheblichen Einflussgewinn der Silowiki zur Folge.
Zweitens führten die Krise von 2008/09 und die damit verbundene Ungewissheit hinsichtlich der Wirtschaftspolitik zu einem heftigen Kapitalabfluss aus Russland. Die Regierung reagierte auf die Kapitalflucht mit dem Versuch, Unternehmer stärker wegen Steuerhinterziehung und dem Einsatz von Offshore-Netzwerken zu belangen.
Drittens trugen die politischen Proteste gegen Wahlfälschungen, die 2011/12 in Moskau und anderen Großstädten erfolgten, zu einem erheblichen Teil zu einer Konsolidierung der Position der Silowiki bei. Die herrschende Elite in Russland nahm die Folgen des Arabischen Frühlings und insbesondere die Entwicklungen in Ägypten und Libyen als persönliche Bedrohung wahr. Gegen die aktivsten Vertreter der politischen Opposition wurden Strafverfahren angestrengt. 2012 wurde das »Gesetz über ausländische Agenten« verabschiedet, um die Tätigkeit von NGOs erheblichen Beschränkungen zu unterwerfen, und im Frühling 2013 startete die Generalstaatsanwaltschaft eine Kampagne zur Aufdeckung »ausländischer Agenten«.
Diese Verschiebungen im politischen Leben wurden von der Schaffung einer ideologischen Basis für ein »Mobilisierungsszenario« begleitet. In diesem Zusammenhang verdient der im September 2012 gegründete »Isborsker Club« Beachtung. Zu den Hauptthesen des im Januar 2013 veröffentlichten Manifests des Clubs gehören eine forcierte Entwicklung des militärisch-industriellen Komplexes (MIK), die Positionierung des öffentlichen/staatlichen Sektors als Kern der Volkswirtschaft und die Notwendigkeit, die nationale Elite zu »säubern« und zu erneuern. Die Experten des Isborsker Clubs sind der Ansicht, dass all diese Maßnahmen durch den intensiveren geopolitischen Kampf um die Kontrolle über Ressourcen sowie durch die Gefahr eines Dritten Weltkrieges diktiert werden, der von der in den USA ansässigen globalen Finanzoligarchie losgetreten werden könnte.
Diese Verschiebungen in der Innen- und Außenpolitik hatten für die Wirtschaftspolitik zahlreiche Implikationen.
Zum einen gewannen politische Überlegungen wie »Opposition gegen den zerstörerischen Einfluss des Westens« zunehmend die Oberhand gegenüber langfristigen wirtschaftlichen Entwicklungszielen. Die Rolle der Wirtschaft innerhalb des Modells einer »belagerten Festung« lief zunehmend darauf hinaus, vor allem die notwendigen Ressourcen zu liefern, damit die politische Macht in den Händen der derzeitigen Elite verbleibt.
Zum anderen hat die Logik der »Vertikale der Macht«, des überzentralisierten Systems der Regierungsführung, das in den 2000er Jahren entwickelt worden war, in der höheren Bürokratie die Illusion einer totalen Steuerbarkeit von wirtschaftlichen Prozessen erzeugt.
Blockaden im Modell der »belagerten Festung«
Das schwindende Wirtschaftswachstum vor dem Hintergrund hoher Ölpreise Ende 2012 und im Jahr 2013 wie auch angesichts der sich häufenden Haushaltsprobleme führte zu einem Absinken der Umfragewerte der Regierung. Um unter diesen Umständen die Umfragewerte aufrechtzuerhalten, waren nicht-wirtschaftliche Instrumente notwendig, mit denen die Loyalität der Bevölkerung gewährleistet und diese um den Anführer geschart werden konnte. Da man der Logik einer politischen Mobilisierung folgte, griff man zu Restriktionen für Medien und die Zivilgesellschaft. Die Folge war eine weitere Zerstörung der ohnehin schwachen traditionellen Feedback-Kanäle.
Neben den restriktiven Maßnahmen fügten sich auch imagefördernde Projekte zur Erbauung der Bevölkerung in die Logik politischer Mobilisierung. Die Olympischen Spiele 2014 in Sotschi waren hier ein zentrales Ereignis. Die politische Krise, die sich gleichzeitig in der Ukraine entwickelte, zog eine extrem negative Reaktion der russischen Führung nach sich, die befürchtete, dass sich möglicherweise ein ähnliches Szenario in Moskau wiederholen könnte. Allerdings ist es dem Kreml recht schnell gelungen, die Situation wieder in die Hand zu bekommen: Die ukrainische Revolution wurde mit Hilfe der Medien in den Augen der Bevölkerung erfolgreich diskreditiert, die Krim annektiert und später die Separatistenbewegung im Donbass unterstützt. So eröffnete sich die Möglichkeit, für eine längere Zeit den Schwerpunkt der Agenda von der Wirtschaft hin zur Politik zu verschieben und in einer Atmosphäre zwangsläufig negativer Reaktionen und zunehmender interner Wirtschaftsprobleme die Basis für eine patriotische Mobilisierung zu stärken.
In den Jahren 2014 und 2015 kamen zu den erwähnten Mängeln des Wirtschaftsmodells die zunehmende internationale Isolierung aufgrund des Konflikts in der Ukraine, die gegenseitigen Sanktionen des Westens und Russlands, fallende Ölpreise und die anschließende Abwertung des Rubel hinzu.
Die Einschränkungen beim Zugang zu ausländischer Finanzierung, die 2014 wirksam wurden, bedeuteten einen besonders schweren Schlag für die Interessen der Oligarchen. Auch das Topmanagement von Unternehmen und Banken mit staatlichen Besitzanteilen, die ja die Hauptkreditnehmer auf den globalen Finanzmärkten waren, war erheblich betroffen. Das Volumen der Kreditressourcen, die der Wirtschaft Anfang 2016 zur Verfügung standen, hatte sich gegenüber Mitte 2014 um 217,5 Milliarden US-Dollar verringert.
Die Talfahrt der Ölpreise von 2014 und die anschließende Volatilität haben sowohl zu Verlusten bei den Öl- und Gasfirmen geführt, als auch zu einem Rückgang der finanziellen Reserven, die sich unter Kontrolle der herrschenden Koalition befinden (siehe Grafik 3 auf S. 9). Das Exportvolumen Russlands ging 2015 um 158 Milliarden US-Dollar zurück und sank 2016 weiter.
Die Schocks von 2014 führten zu einem wirtschaftlichen Rückgang von 2,8 Prozent 2015 und von 0,2 Prozent im Folgejahr. Die Reaktion des produzierenden Sektors auf die Krise fiel wegen der vorangegangenen Stagnation diesmal milder aus als 2008/09. Gleichwohl zeigten alle großen Marktsektoren 2015 eine negative Entwicklung – mit Ausnahme der Landwirtschaft (+3 %), der Lebensmittelindustrie (+2 %), der Förder- und Bergbauindustrie (+0,4 %) und der Chemieindustrie (+6,3 %) (s. Tabelle 1 auf S. 9).
Kennzeichnend für die Krise von 2014–2016 ist der Umstand, dass für das negative Wachstum des Bruttoinlandsprodukts der Rückgang beim Endverbrauch der Haushalte entscheidend war, während 2008/09 vor allem die Außennachfrage und die Kapitalbildung gelitten hatten. In der Krise von 2015–2016 konzentrierte sich die Krisenbewältigungspolitik aufgrund der fehlenden Haushaltsreserven eher auf makroökonomische Stabilität, denn auf eine Stützung der Verbrauchernachfrage, wie dies bei der vorherigen Krise der Fall war. Das Bestreben der herrschenden Koalition, selbst in Krisensituationen Reserven vorzuhalten und ein Ausufern der Schulden abzuwenden, befand sich zwar im Einklang mit den Grundsätzen einer verantwortungsvollen Haushaltspolitik, entsprang aber wohl eher der Logik der »belagerten Festung« und weniger dem Anspruch, Bedingungen für eine Rückkehr des Wirtschaftswachstums zu schaffen. Die Weigerung, die Bevölkerung zu unterstützen, war recht demonstrativ und wurde von der Schaffung einer neuen Sicherheitsstruktur begleitet, der Nationalgarde, die die innere Sicherheit gewährleisten soll. Nachdem sich die Krim-Euphorie erschöpft hatte und der Konflikt mit dem Westen in eine etwas ruhigere Phase eingetreten war, zeigten die herrschenden Eliten ihre Bereitschaft, neben einzelnen unabhängigen Organisationen und politischen Aktivisten auch mögliche soziale Proteste gewaltsam zu unterdrücken.
Das Schrumpfen der Haushaltsressourcen hatte nicht nur für den Lebensstandard der Bevölkerung negative Folgen, es verschärfte auch den Kampf innerhalb der Elite und wurde zur Herausforderung für die Eliten im öffentlichen Sektor. Gleichwohl fehlte der russischen Elite 2016 immer noch eine allgemeine Vision, auf welchem Wege schlummernde Potentiale geweckt werden könnten. Dieses Problem ist recht typisch für Länder mit mittlerem Einkommensniveau und hängt mit der Fragmentierung in Gruppen zusammen, die zur Elite gehören bzw. (noch) nicht gehören, wie auch mit der Unfähigkeit dieser Gruppen, eine Koalition zur Förderung der Modernisierung zu bilden. Im Falle Russlands gab es eine Trennung der aufsteigenden Eliten (regionale Eliten, erfolgreiche mittelgroße Unternehmen und Eliten des öffentlichen Sektors) aufgrund ihrer Positionen hinsichtlich der Haushaltsprobleme und einer Erhöhung der Steuerlast. Ein weiteres für Russland spezifisches Merkmal ist die beträchtliche ideologische Spaltung innerhalb der Elite, da viele Gruppen eine Nostalgie in Bezug auf die Rolle als Supermacht hegen, die die UdSSR einige Jahrzehnte lang innehatte.
Wer kann die Überwindung der Krise befördern und wenn, dann wie?
In der Phase des Modells einer »belagerten Festung« überwogen in den Entscheidungsprozessen eindeutig politische Überlegungen (meist kurzfristiger Art) gegenüber wirtschaftlichen Argumenten. So meinte beispielsweise die Erste stellvertretende Finanzministerin, Tatjana Nesterenko, in einem Interview: »Das Finanzministerium wurde nicht gefragt, wieviel die Entscheidung zur Krim kosten wird« (s. »Forbes«, 05.03.2015; <http://www.forbes.ru/forbes-woman/karera/281919-minfin-ne-sprashivali-vo-skolko-oboidetsya-reshenie-po-krymu>). Recht bezeichnend sind auch die Kommentare führender Unternehmer zu den Ergebnissen eines vertraulichen Treffens von Wladimir Putin mit Vertretern der Großunternehmen, das am 24. Dezember 2015 im Kreml stattfand. Teilnehmer des Treffens meinten drei Monate später anonym, dass der Präsident »über Geopolitik sprach, wobei es um die Ukraine und die Türkei ging, und darum, dass die Situation politisch defizil sei«. Die Probleme der einzelnen Unternehmen seien allerdings nicht angesprochen worden, und »es sprach nur einer bei dem Treffen – der Präsident«.
Wir sind der Ansicht, dass der Fall der Ölpreise Anfang 2016 auf unter 30 Dollar pro Barrel Wladimir Putin und seine engsten Mitstreiter zu der Erkenntnis brachten, dass Änderungen in der Wirtschaftspolitik unausweichlich sind – trotz der Zurückhaltung der Elite selbst gegenüber geringfügigen Änderungen. Es war nämlich deutlich geworden, dass bei einer Fortführung der bisherigen Politik und solchen Ölpreisen im Laufe von ein bis anderthalb Jahren alle Reserven aufgebraucht sein würden. Der anschließende Anstieg der Ölpreise auf 50–60 US-Dollar verbesserte die aktuelle Haushaltslage zwar ein wenig, er beseitigte aber nicht die grundlegenden Probleme, die zu der Wirtschaftskrise geführt hatten.
Ungeachtet des Umstandes, dass das Hauptproblem der Wirtschaft in den politischen Restriktionen der in Russland gegebenen Limited Access Order besteht, bewegt sich die Diskussion in ihrem inhaltlichen Kern entlang der Standarddebatte zwischen den Anhängern von Milton Friedman (Reduzierung der staatlichen Einmischung in die Wirtschaft) und jenen von John Maynard Keynes (Intervention zur Stimulierung des Wirtschaftswachstums).
Das erste, liberale Lager verfolgt immer noch das allgemeine Ziel, eine offene und liberale Wirtschaft aufzubauen. Dieses Modell soll sich auf Privatunternehmen (auch ausländische Firmen) als wichtigste Triebfedern der Wirtschaft stützen. Darüber hinaus wird angenommen, dass die Unternehmen Investitionen anlocken, unter anderem von den globalen Finanzmärkten. Das wichtigste Manko ist hier allerdings, dass es in Russland bereits mehrere Versuche gegeben hat, eine solche Wirtschaft aufzubauen, die dann letztendlich nie in vollem Umfang umgesetzt wurden. Die Gründe für das Scheitern dieser Versuche sind einigermaßen klar: Mangelnde Qualität der (meist staatlichen) Institutionen und das geringe Vertrauen – sowohl bei den Unternehmen, als auch bei der Bevölkerung – in die Wirtschaftspolitik der Regierung. Man kann nur schwerlich davon ausgehen, dass ohne radikale Veränderungen in den genannten Bereichen ein weiterer Versuch zu positiven Ergebnissen führt. Es bestehen nämlich hinsichtlich der Vorschläge des liberalen Lagers Schwierigkeiten, die noch stärker ins Gewicht fallen: Die Welt hat sich seit 2014 dramatisch verändert – die Angliederung der Krim und der militärische Konflikt in der Ostukraine haben starke Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Russland und anderen entwickelten Ländern gehabt, so dass der Point of no return mehr als erreicht wurde. Selbst wenn der Westen morgen schon sämtliche Sanktionen aufheben würde (was kaum vorstellbar ist), blieben die informellen Hürden beim Zugang zu europäischem Kapital und Technologien für russische Unternehmen erhalten, schlicht und einfach, weil Russland vom Westen nun als potentieller Feind wahrgenommen wird. An dieser Situation wird sich viele Jahre nichts ändern lassen.
Wie sieht die Alternative zu diesen Programmen aus? Zum Verständnis einer Antwort hierauf ist ein Rückgriff auf das Konzept der Limited Access Orders (LAO) notwendig (siehe den Kasten unten). Eine herrschende Koalition erfährt innerhalb einer bestehenden LAO keinen Anreiz, irgendetwas zu ändern, es sei denn, sie sieht sich starkem Druck gegenüber. Ein solcher Druck kann interner Art sein, falls die bestehenden Rentenquellen erschöpft wären, soziale Spannungen sich nicht hinreichend dämpfen ließen und die Befähigung der Staatsbediensteten nicht aufrechterhalten werden könnte. Es kann auch äußerer Druck eintreten, wenn die betreffende LAO starke internationale Konkurrenz erfährt. Russland war in den letzten Jahren mit beiden Phänomenen konfrontiert.
Ein Rückblick auf Transformationen, die andere LAO in ähnlichen Krisensituationen durchlaufen haben, ergibt, dass in diesem Kontext zwei Szenarien möglich sind. Das eine beinhaltet die Demontage der bisherigen LAO und eine veränderte Zusammensetzung der Eliten. Beispiele hierfür sind der Iran nach der Islamischen Revolution von 1979 und Ägypten nach dem Arabischen Frühling bis zum Militärputsch 2013. Das zweite Szenario ist eine friedliche Transformation des Regimes aufgrund eines Abkommens zwischen der herrschenden Koalition und anderen Elitengruppen. Beispiele sind hier Spanien nach Francos Tod, Chile am Ende der Herrschaft Pinochets und Südkorea am Ende des Regimes von General Chun Doo-hwan. In allen Fällen hat der Pakt zwischen den Eliten für eine breitere Partizipation neuer Elitengruppen am wirtschaftlichen und politischen Geschehen bei gleichzeitigen Garantien für die alten Eliten gesorgt. In den Begriffen von North und seinen Mitautoren hat dies praktisch zu einer »Zugangserweiterung« geführt, und zu einer parallelen Entwicklung von Mechanismen zur kollektiven politischen Kontrolle über Gewalt. Allerdings wechselte das Regime nicht automatisch in den Zustand einer Open Access Order – diese Prozesse bedeuteten lediglich, dass die LAO reift und stabiler wird (um den Preis einer Ausdehnung der herrschenden Koalition).
Fazit
Wir sind der Ansicht, dass in Russland eher eine politische, denn eine wirtschaftliche Agenda die Hauptrolle bei der Überwindung der gegenwärtigen Krise spielen wird, auch wenn bislang nur Wirtschaftsprogramme erörtert werden. Die politische Agenda beinhaltet im Moment allerdings nicht eine Demokratisierung, da die Eliten in Russland damit das Risiko eines Abrutschens ins Chaos assoziieren, sondern in einen anzustrebenden Konsens zwischen den wichtigsten Gruppen der alten und neuen Eliten in Bezug auf eine »Zukunftsvision« und mögliche Entwicklungspfade der Nation. Diese »Zukunftsvision« kann allerdings nur im Zuge einer öffentlichen Diskussion der verschiedenen Ideen und Ansätze entwickelt werden. Es wäre hilfreich, bei dieser Erörterung Vertreter aller einflussreichen Interessengruppen einzubeziehen.
Seit Anfang 2014 haben die zunehmende internationale Isolation durch die gegenseitigen Sanktionen des Westens und Russlands in Folge der Ukrainekrise sowie die Auswirkungen der sinkenden Ölpreise und der Abwertung des Rubel die bereits bestehenden wirtschaftlichen Probleme des Modells einer »belagerten Festung« verschärft. Die schwindenden Möglichkeiten für einen Zugang zu ausländischer Finanzierung waren ein Schlag vor allem für die Geschäfte der Oligarchen. Fallende Ölpreise brachten Verluste für Vertreter der Primärindustrie und reduzierten die Finanzressourcen, die der Elite zur Verfügung stehen. Gleichzeitig wurden die Positionen der Produzenten im agrarindustriellen Komplex gestärkt, da nach der Einführung des Lebensmittelembargos durch Russland neue Quellen für Rentenströme entstanden. Das Einfrieren der Haushaltsausgaben und die Einschnitte bei den Sozialprogrammen sind mit dem Risiko behaftet, die Ungleichheit zu verstärken und den Lebensstandard der Bevölkerung zu untergraben. Gleichzeitig gewinnt die Erfahrung jener Eliten im öffentlichen Sektor an Bedeutung, die einnahmeträchtige Dienstleistungen entwickelt und in einem wettbewerbsartigen Umfeld gearbeitet haben.
Schließlich sind auch die Bedingungen für einen Übergang zu einem neuen Modell wirtschaftlicher Entwicklung zu berücksichtigen. Folgt man dem Konzept der Limited Access Orders von North und anderen, wird die herrschende Koalition nur dann zu einem Wandel motiviert, wenn sie sich innerem oder äußerem Druck gegenübersieht. Russland hat in den vergangenen Jahren einen solchen Druck erfahren. Bei der Suche nach einem erfolgreichen Wirtschaftsmodell, das Russland auf den Pfad nachhaltigen Wachstums führen würde, müssen die politischen Realitäten der zunehmenden internationalen Isolation berücksichtigt werden. Gleichzeitig sollte die Suche nicht nur auf eine Harmonisierung der Interessen der drei »alten« Elitengruppen abzielen – der Zugang muss auf Vertreter aufstrebender regionaler Eliten, mittelgroßer Unternehmen und Eliten des öffentlichen Sektors ausweitet werden.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder
Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Aufsatzes für den Sammelband »Economics of European Crisis and Emerging Markets: International Comparison and Country Studies«, herausgegeben von Peter Havlik und Ichiro Iwasaki, der voraussichtlich im Herbst 2017 bei Palgrave erscheinen wird. Die Einzelnachweise sind dort zu finden.