Staat und Kirche in Russland: Alter Wein in neuen Schläuchen?

Von Regina Elsner (Berlin)

Zusammenfassung
Die Proteste gegen die Übergabe der Isaakskathedrale in St. Petersburg an die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) und die jüngsten Gerichtsverfahren gegen die Zeugen Jehovas und den Blogger Sokolowskij werfen Fragen zum Verhältnis von Kirche und Staat in Russland auf. Ein genauerer Blick zeigt, dass sich die Interessen von Kirche und Staat in vielen Fragen so nah sind, dass ihre Wechselwirkung nur ungenügend als Instrumentalisierung bezeichnet werden kann. Die Ideologisierung der Politik in Putins dritter Amtszeit hat mit ihrer ausgeprägten religiösen Rhetorik der Kirche einen Wirkungsraum eröffnet, der sie an vergangene, vorrevolutionäre Zeiten eines symphonischen Miteinanders erinnern mag. In der Gesellschaft regt sich jedoch auch Widerstand.

Neue Proteste gegen die Kirche

Im Winter 2017 gingen zunächst Hunderte, schließlich Tausende Menschen in St. Petersburg auf die Straße, um gegen die Übergabe der Isaakskathedrale an die ROK zu protestieren (s. den Beitrag von Jens Siegert in den Russland-Analysen Nr. 331). Auch wenn es in den vergangenen Jahren in ganz Russland häufiger zu Protesten gegen Kirchbauten kam, so unterscheidet sich der Petersburger Protest von diesen doch deutlich, u. a. durch seine vehemente Kritik an den offenkundigen, aber nicht öffentlichen Verabredungen zwischen Kirchen- und Staatsvertretern. Jenseits der historischen und juristischen Nuancen der Übergabe des Gebäudes zeigt der Fall, dass sich das Verhältnis von Staat und Kirche, aber auch das von Gesellschaft und Kirche in den letzten Jahren gewandelt hat.

100 Jahre Trennung von Staat und Religion

2017 jähren sich sowohl die Revolution als auch das Landeskonzil der orthodoxen Kirche in Russland (15./28. Aug. 1917 – 7./20. Sept. 1918) zum hundertsten Mal. Während die Kirche auf diesem Konzil ihren Wunsch nach Unabhängigkeit vom Staat formulierte und gleichzeitig auf einer Bewahrung der Privilegien als historisch, moralisch und kulturell staatstragender Institution bestand, wandten sich die Bolschewiki radikal gegen jeden Einfluss oder öffentliches Wirken der Kirche insgesamt. Die rigorose Religionspolitik der bolschewistischen und später sowjetischen Regierung führte zu einer massiven Unterdrückung und Verfolgung der Kirche und der Gläubigen. Nur durch Kompromisse mit der Staatsmacht konnte die Kirche als Institution in der Sowjetunion überleben.

In den 1990er Jahren ermöglichte eine äußerst liberale Religionspolitik die Wiedergeburt der ROK, aber auch das Erstarken und die Verbreitung anderer Religionen. Der Konkurrenz finanziell starker religiöser Gemeinschaften aus dem Ausland war die russische Kirche jedoch weder institutionell noch theologisch gewachsen; sie suchte die Unterstützung des Staates zur Stärkung ihrer Position.

Ihr Appell an die zu wahrende Einheit des Volkes und seine notwendige moralische und kulturelle Stärkung fiel in der politischen Situation des drohenden Zerfalls der Nation und angesichts des gesellschaftlichen Identitätsvakuums Ende der 1990er auf fruchtbaren Boden.

Das bis heute geltende Religionsgesetz von 1997 sichert den sogenannten »traditionellen Religionen« – der Orthodoxen Kirche, dem Judentum, Islam und Buddhismus – eine privilegierte Stellung zu. In einem rechtsstaatlichen Format scheint heute somit das Konzept des Landeskonzils von 1917/18 verwirklicht: Eine unabhängige Kirche, die in ihrer vorrangigen öffentlich-rechtlichen Stellung anerkannt wird. In der aktuellen Situation, angesichts eines autoritären politischen Systems, wird die erneuerte enge Verbindung von Kirche und Staat allerdings zunehmend problematisch.

Repressive Gesetzgebung mit kirchlichem Segen?

Seit 2012 lässt sich eine neue Welle der Einschränkung der Religionsfreiheit beobachten, die im Kontext der allgemeinen Repressionen gegen eine unabhängige Zivilgesellschaft zu sehen sind. Im Juni 2013 wurden als Folge des Falls »Pussy Riot« verschiedene Gesetzesänderungen zum »Schutz religiöser Gefühle« verabschiedet. Diese wurde bisher vorrangig im Sinne der ROK angewendet, aktuell etwa im Verfahren gegen den Blogger Ruslan Sokolowskij. Der wurde am 11. Mai 2017 zu dreieinhalb Jahren Freiheitsentzug auf Bewährung verurteilt, weil er in seinem Blog Aufzeichnungen darüber publiziert hat, wie er in der zentralen orthodoxen Kirche Jekaterinburgs das Smartphone-Spiel »Pokemon Go« spielte und kirchenkritisch kommentierte.

Im Rahmen einer Reihe von Gesetzesänderungen, des sogenannten »Jarowaja-Pakets«, wurden im Sommer 2016 im Religionsgesetz zusätzliche Bestimmungen zur Einschränkung missionarischer Tätigkeit festgeschrieben, die ursprünglich islamistische Prediger betreffen sollten. Sie werden jedoch in erster Linie gegen »nichttraditionelle« religiöse Gemeinschaften angewendet, also gegen Freikirchen und neue religiöse Bewegungen. Im Herbst 2016 wurde aufgrund der neuen Bestimmungen in St. Petersburg gegen einen Yoga-Lehrer ermittelt, und ein protestantischer Bischof wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, beide wegen angeblicher unerlaubter missionarischer Tätigkeit. Im April 2017 stufte man die seit vielen Jahren schikanierten Zeugen Jehovas als »extremistische Organisation« ein, sie sind damit in Russland verboten. Das Vergehen dieser grundlegend pazifistischen Gemeinschaft besteht laut Gericht in erster Linie in der Verbreitung extremistischer Literatur, in der andere Religionen abgewertet würden und die zur Verweigerung staatsbürgerlicher Pflichten wie dem Wehrdienst und der Beteiligung an Wahlen aufrufe.

Die ROK ist größte religiöse Gemeinschaft und in Person von Patriarch Kirill Vorsitzende des »Interreligiösen Rates Russlands«, der 1998 als Vertretungsorgan der sogenannten traditionellen Religionen Russlands gegründet wurde. In dieser Funktion und durch ihre durch Kooperationsverträge geregelte Vernetzung mit den Ministerien nimmt sie an der Ausarbeitung entsprechender Gesetze beratend oder spätestens in der Phase der parlamentarischen Überarbeitung korrigierend teil. Die genannten gerichtlichen Entscheidungen haben auch unter Gläubigen der ROK großes Unverständnis ausgelöst. Allerdings stehen sie im Einklang mit der offiziellen Position der ROK, dass der Staat zum Schutz der moralischen und geistlichen Unversehrtheit der Bevölkerung verpflichtet sei.

Dies gilt umso mehr, als Präsident Putin 2012 den Schutz »traditioneller Werte« – im Kern meint dies konservative Moralvorstellungen, den Schutz des klassischen Familienbilds und nationale Einheit und Souveränität – zu einem Schwerpunkt seiner dritten Amtszeit gemacht hat. Dieser Schwerpunkt illustriert die schrittweise Formierung einer staatlichen Ideologie, die von orthodoxer Rhetorik geprägt ist (etwa bei den Themen »ewiger Werte« und der Bedeutung der Tradition als Fundament der geistlichen Einheit des Volkes) und auf die Mobilisierung der national-konservativen Bevölkerungsteile sowie eine klare Trennung zwischen »Uns« und den »Anderen« abzielt.

Für die Kirche eröffnete sich damit die Möglichkeit, entsprechende Diskurse maßgeblich in ihrem Interesse zu prägen. Bei aller plakativer Distanzierung von politischen oder wirtschaftlichen Interessen besteht doch in Fragen der Tradition und Moral ihre ausdrückliche – und gesellschaftlich anerkannte – Kompetenz. So entsprechen etwa das Gesetz zum Schutz Minderjähriger vor angeblich schädlichen Informationen, u. a. über Homosexualität (2013) oder die Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt als Schutz vor dem staatlichen Eingreifen in die Familie (2016) langjährigen kirchlichen Anliegen. Der gegenwärtig von Kirche und Staat geplante »Rat für Kultur, Religion und internationale Angelegenheiten« beim Vorsitzenden des russischen Parlaments, der sich mit »Fragen des moralischen Klimas in der Gesellschaft, patriotischer Erziehung und der Prävention von kulturellem Extremismus« befassen soll, spricht für den wachsenden offiziellen Einfluss der ROK auf politische Entscheidungen.

In der aktuellen Konstruktion einer auch moralisch überlegenen Identität Russlands sind sich die Interessen von Staat und Kirche sehr nah. Auch die Diskriminierung Andersdenkender bzw. Anderslebender wird so möglich und gerechtfertigt. Die Sehnsucht der Kirche nach dem byzantinischen Ideal einer Symphonie von Staat und Kirche macht sie blind für die Opfer dieser vereinheitlichenden Politik in einer modernen Gesellschaft, und sie bedingt die Tatsache, dass der Protest gegen das korrupte und autoritäre politische Regime immer auch die Kirche trifft.

Der Eindruck einer kirchlichen Unterstützung für den repressiven Staat entsteht jedoch nicht nur durch das synchrone Interesse an einer wertkonservativen und homogenen Gesellschaft. Es darf schließlich nicht übersehen werden, dass die Mehrzahl der Anzeigen und öffentlichen Skandale wegen angeblicher Verletzung religiöser Gefühle von selbsternannten Verteidigern des orthodoxen Glaubens ausgehen. Sogenannte »orthodoxe Aktivisten«, aber auch lokale Priester, Politiker und Richter unterstützen ohne Zögern die neue Kultur der Gekränktheit und Denunziation. Dies gilt im Übrigen auch für den massiven Einsatz orthodoxer Rhetorik durch Politiker und pro-russische Aktivisten in der Auseinandersetzung mit der Ukraine, wo sich die Kirchenleitung bemerkenswert zurückhält. Das Ausbleiben einer offiziellen kirchlichen Distanzierung zu offen hetzenden und oft gewalttätigen Exzessen gegen Andersdenkende im Namen der Orthodoxie stellt ihr Interesse an einer rechtsstaatlichen Gesellschaft weit mehr in Zweifel, als die Beteiligung an Gesetzfindungsverfahren. Die Frage, ob die Kirchenleitung diese orthodoxen Aktivisten selbst fördert oder aber von ihnen getrieben wird, ist allerdings nur schwer zu beantworten.

Kirchbauten als Stein des Anstoßes

Es ist bezeichnend, dass nicht moral- oder religionspolitische Gesetze, sondern Kirchbauten für einen spürbaren Protest gegen die Kirche gesorgt haben. Die Rückgabe von religiösen Gebäuden an religiöse Gemeinschaften ist dabei kein Novum. Seit den 1990er Jahren werden religiöse Gebäude, die in der sowjetischen Zeit zweckentfremdet genutzt oder dem Verfall überlassen wurden, den jeweiligen Glaubensgemeinschaften zurückgegeben. Diese Prozesse wurden von der Bevölkerung und den Gläubigen aller Religionen ausdrücklich begrüßt.

2010 trat ein Gesetz in Kraft, welches die bis dahin geltenden Regeln deutlich lockerte, bürokratische Hürden senkte und die Definition von »religiösen Gebäuden« erweiterte. Das geschah zu einem Zeitpunkt, an dem der tatsächliche Bedarf an Gottesdiensträumen sowohl durch Rückgabe als auch durch Neubauten weitgehend gedeckt war. Das Gesetz löste eine Welle von Protesten in der Bevölkerung und unter Verantwortlichen von Museen aus, die sich um den angemessenen Denkmalschutz und die öffentliche Zugänglichkeit der kulturhistorisch bedeutenden Gebäude sorgten. Die Rückgabeforderungen der ROK betrafen zunehmend prestigeträchtige historische Gebäude, die bereits auf Staatskosten umfassend saniert worden waren, große Einnahmen durch Touristen versprachen und für ein regelmäßiges Gemeindeleben aus verschiedenen Gründen nicht geeignet schienen. Dies gilt auch für die Isaakskathedrale in St. Petersburg. Der Petersburger Gouverneur hatte die Übergabe zunächst mehrfach abgelehnt, seine Zustimmung im Dezember 2016 wird auch auf vertrauliche persönliche Gespräche mit Patriarch Kirill und Präsident Putin zurückgeführt. Im April 2017 teilte das Patriarchat schließlich mit, dass die Kathedrale direkt dem Patriarchen unterstellt würde und dieser sich deshalb direkt an den Absprachen beteiligt hätte. Der Status als Kirche des Patriarchen verstärkte die Kritik, dass der politische Symbolwert der Kirche und nicht die pastoralen Bedürfnisse der Gläubigen im Mittelpunkt stünden. Die Proteste sind auch vor dem Hintergrund einer anhaltenden enormen Bautätigkeit der ROK zu sehen. Das Unverständnis der Menschen entlud sich in den letzten Monaten oft dort, wo neue Kirchbauten die Grünflächen in Wohngebieten verdrängten oder offensichtlich enorme Geldsummen verbrauchten, deren Herkunft unklar und darum zweifelhaft ist.

Schließlich kommt eine politische Spitze hinzu: Patriarch Kirill nannte die Rückgabe im Jahr des Revolutionsjubiläums eine »Verkörperung von Einigkeit und gegenseitigem Verzeihen«. Damit zitiert der Patriarch den Präsidenten, der in seiner Ansprache vor der Föderalversammlung im Dezember 2016 zur Einheit und Versöhnung der Gesellschaft angesichts des Revolutionsgedenkens und im Bewusstsein der »Gefahren« gegenwärtiger Revolutionen aufrief (vgl. Russland-Analysen Nr. 327). Unter dem Stichwort der Einmütigkeit der Bevölkerung und den Gefahren einer Revolution hatte die Kirche bereits 2012 versucht, den wachsenden Protest in der Gesellschaft auszubremsen. Nun argumentiert der Patriarch, die Übergabe der Kirche sei ein Akt historischer Gerechtigkeit und dürfe nicht politisiert werden. Angesichts des Schulterschlusses zwischen Kirche und Staat bei der ideologischen Homogenisierung der Gesellschaft hat diese Berufung auf rein religiöse Angelegenheiten allerdings ihre Plausibilität verloren. Vor dem Hintergrund der hohen Akzeptanz der ROK in der russischen Bevölkerung als moralischer Kompass und zentrales Element der russischen Identität zeigen die unerwartet heftige Proteste gegen die Gebäudeübergabe die Sollbruchstelle im Verhältnis von Kirche und Gesellschaft: Sie verläuft dort, wo kirchliches Handeln nur noch politischen und kommerziellen Interessen folgt und in keinem Verhältnis mehr zu den Bedürfnissen der Menschen steht. Symbolträchtige Kirchbauten gehören offenbar nicht zu diesen Bedürfnissen. Allerdings ist es in der aktuellen Situation auch deutlich ungefährlicher, um Gebäude zu kämpfen, denn gegen staatliche Repressionen.

Fazit

Das Verhältnis von Kirche und Staat in Russland ist komplex und unterscheidet sich von westlichen Modellen. In vielen Fragen sind sich die Interessen von Kirchenleitung und Staatsführung so nah, dass die Rede von einer Instrumentalisierung der Kirche oder einer Klerikalisierung der Politik zu kurz greift. Die patriarchalen Strukturen des Staates und seine Suche nach einer stabilen Identität in vergangenen Zeiten ergänzen sich mit den grundsätzlich bewahrenden und wertkonservativen Prinzipien der Kirche und mit dem Bedürfnis der Gesellschaft nach einfachen Antworten.

Die Ideologisierung der Politik in Putins dritter Amtszeit hat mit ihrer ausgeprägten religiösen Rhetorik der Kirche einen Wirkungsraum eröffnet, der letztere an vergangene Zeiten eines symphonischen Miteinanders erinnern mag. Neben der Tatsache, dass ein kritischer Blick in die Geschichte dieses harmonische Miteinander schnell als Fata Morgana entlarven kann, stößt es auch in der Gesellschaft zunehmend auf Widerstand.

Für die Bewertung der Position der Kirche ist zu beachten, dass sie nicht nur aus einer in die Politik verstrickten Kirchenleitung besteht. Zur Kirche gehören auch große Teile derjenigen, die gegen Repressionen, Korruption und die Politisierung der Kirche auf die Straße gehen. Zu dieser Kirche gehören auch Theologen, die sich nach 100 Jahren erstmalig frei von staatlicher Bevormundung mit dem theologischen Verständnis eines modernen Staates befassen. Zu dieser Kirche gehören aber eben auch große Gruppen radikal konservativer und rechtspopulistischer Stimmungsmacher, darunter Priester, Richter und Politiker, die im Namen der Orthodoxie hetzen. Die Zukunft des Staat-Kirche-Verhältnisses wird u. a. davon abhängen, welche Haltung die Kirchenleitung zu dieser innerkirchlichen Vielfalt und damit zur Vielfalt der modernen russischen Gesellschaft sowie zur wachsenden, politisch forcierten Atmosphäre der Intoleranz findet.

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