Kampf für und gegen die Emanzipation der Frauen
Bereits im vorrevolutionären Russland hat es eine aktive Bewegung für die Rechte der Frauen gegeben; sofort nach der Revolution und der Verabschiedung der neuen Verfassung der RSFSR im Jahr 1918 erhielten die Frauen alle Grundrechte (politische, soziale, reproduktive und Familienrechte), während im progressiven Europa einige Länder noch einige Jahrzehnte bis zur Verabschiedung entsprechender Gesetze benötigten. Durch eine Reihe spezieller Dekrete wurden in Russland neue Normen der Familienbeziehungen etabliert.
So erlaubte beispielsweise das Gesetz über die Zivilehe den Frauen, ihren Geburtsnamen beizubehalten. 1920 wurde Frauen das Recht auf Abtreibung zugebilligt, wodurch die UdSSR der erste Staat wurde, in dem der künstliche Schwangerschaftsabbruch legalisiert wurde.
Das Ehegesetz von 1926 machte eine faktische Ehe (also eine Ehe, die faktisch besteht, aber in keiner Behörde registriert wurde) rechtens, stellte erstmals in der Geschichte eheliche und außereheliche Kinder gleich und führte die sogenannte »Richtigkeitsvermutung der Mutter« bei der Zuerkennung der Vaterschaft ein (es genügte eine Erklärung der Mutter). Männer, die eine Frau mit Kindern heirateten, mussten für diese die Pflichten eines Vaters übernehmen. Das Verfahren zur Ehescheidung wurde maximal vereinfacht: Sie konnte per Postkarte bewerkstelligt, die einer der Ehepartner an das zuständige Standesamt schickte.
Parallel zu den gesetzlichen Änderungen begannen die Ideologinnen der proletarischen Frauenbewegung (Alexandra Kollontaj, Inessa (Inés) Armand, Nadeshda Krupskaja, Konkordija Samojlowa u. a.) den aktiven Kampf »für eine neue Lebensweise«, wobei der Bereich des »Privatlebens« vollkommen verändert werden sollte; dem Staat sollte die Aufgabe paternalistischer Fürsorge vollständig übertragen werden. Es wurde mit der Einrichtung kostenloser Kindergärten und Krippen begonnen, bei den Fabriken entstanden Kantinen und Wäschereien, die ihre Dienste zu niedrigen Preisen anboten. Zweck all dieser Maßnahmen war es, die Frauen von der Hausarbeit zu befreien, wie auch von der Notwendigkeit, sich um den Mann und die Kinder zu kümmern. Die Frauen sollten »Arbeiterinnen« werden, die sich unentwegt für den Aufbau des neuen Sowjetstaates einsetzen. Die zunehmende Urbanisierung der Bevölkerung führte dazu, dass eine Vielzahl von Kommunalwohnungen und Wohnheimen entstand, in denen es ganz wenig Raum für Privatsphäre gab und sich das Privatleben vor aller Augen abspielte.
Jekaterina Gerasimowa schreibt dazu 1998: »Die Einrichtung eines Privatlebens wird im öffentlichen Diskurs als »kleinbürgerlich« gebrandmarkt, als Ausdruck von Individualismus, Egoismus und überkommener Reste der bourgeoisen Vergangenheit […] Die Kommunalwohnung – überbelegt und aus einer stattlichen Wohnung umgewandelt – wird zum Attribut der sowjetischen Genderordnung« (<http://www.isras.ru/index.php?page_id=2384&id=551&l=>)
All diese revolutionären Umgestaltungen führten allerdings zu unerwünschten Nebenreaktionen, die die Institution der Familie zerstörten. Die Liberalisierung von Abtreibungen führte zu einem Rückgang der Geburtenziffern, die bis in die 1930er Jahren auf statistisch nur noch weniger als ein Kind pro Frau sanken. Die neue Politik Stalins bedeutete in diesem Bereich eine nachhaltige konservative Wende.
Ab 1936 waren Abtreibungen wieder verboten, Ärzte konnten strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie eine Abtreibung vornahmen. Diese Maßnahme führte zu einem nur kurzfristigen Anstieg der Geburtenziffern, schuf aber einen ganzen Untergrund, in dem illegale Abtreibungen vorgenommen wurden. Für das Jahr 1937 wurden 568.000 Abtreibungen festgestellt (durch unterschiedliche Methoden), 1940 waren 807.000, und Mitte der 1960er Jahre, zehn Jahre nach der Entkriminalisierung von Abtreibungen, wurde der für Russland historische Rekordwert von 5,6 Millionen Schwangerschaftsabbrüchen pro Jahr registriert.
Auf Grund des Abtreibungsverbots waren 90 Prozent der Abbrüche illegal, wurden also außerhalb medizinischer Einrichtungen vorgenommen. Dadurch wuchs die Zahl der Todesfälle durch Abtreibungen wie auch die der Kindstötungen. Darüber hinaus führte die zum Teil verbesserte demographische Lage zu einer Überlastung der Geburtshäuser und einem Anstieg der Müttersterblichkeit. Viele Maßnahmen der staatlichen Politik wurden seinerzeit ohne jede wissenschaftliche Begleitung oder eine Beteiligung von Experten umgesetzt und waren ausschließlich von politischen Motiven bestimmt.
1934 wurde männliche Homosexualität durch einen speziellen Erlass Stalins kriminalisiert. Das Strafmaß lag zwischen drei und fünf Jahren Gefängnishaft. Homosexualität wurde als »antisowjetisch« deklariert und als verderbliche Verführung der sowjetischen Jugend. Eine Reihe von »Säuberungen« und Repressionen gegen Homosexuelle mündeten in den 1930er Jahren in Urteilen »wegen konterrevolutionärer Tätigkeit«, »wegen Spionage« oder »wegen Zersetzung von Armee und Flotte«. Viele Jahrzehnte lang (bis 1993, als Homosexualität entkriminalisiert wurde) wurde der sowjetische Schwulenparagraph als Instrument eingesetzt, um politischen Druck auszuüben und Andersdenkende, Dissidenten und unliebsame öffentliche Personen zu verfolgen.
Der Zweite Weltkrieg brachte gewisse Korrekturen an der sowjetischen Genderordnung mit sich: Wegen des Männermangels begannen Frauen in jenen Jahren Führungspositionen zu übernehmen, wurden Werkleiterinnen, Unternehmensleiterinnen… Nach Kriegsende wurden Frauen wieder aus ihren Positionen verdrängt – auf Grund des wachsenden symbolischen »Wertes« der Männer.
Angesichts der demographischen Kluft im Lande und des drastischen Männermangels unternahm der Staat einige Maßnahmen zur Unterstützung von Müttern und führte bezahlte Schwangerschafts- und Entbindungszeiten ein. Es wurden nun Hilfen für Kinder alleinerziehender Mütter und geschiedener Frauen gezahlt (Ehegesetzbuch von 1968). Natalja Puschkarjowa schreibt, dass alle diese Maßnahmen »objektiv zu einer Verbesserung der Lage der Frauen beitrugen. Doch die fehlende Gleichstellung zu den Männern im Alltag, die geringeren Möglichkeiten für einen beruflichen Aufstieg, für hohe Gehälter und vollwertige Erholung wurden genauso beschwiegen wie das Thema Abtreibungen« (<http://www.krugosvet.ru/enc/istoriya/FEMINIZM_V_ROSSII.html?page=0,3>)
Gleichzeitig wurde das Thema Mutterschaft immer stärker politisiert. So erschien die Zeitschrift »Fragen des Mutter- und Säuglingsschutzes« (russ.: »Woprosy ochrany materinstwa i mladentschestwa«) mit der Parole »Mutterschaft ist wie die Gesundheit nicht Privatsache jedes Einzelnen, sondern ein staatliches System«. Unter dem Vorwand der Sorge um die Gesundheit von Frauen wurde 1974 eine Liste von 456 Berufen verabschiedet , die Frauen untersagt sind (später, im Jahr 2000, wurde diese von Präsident Putin bestätigt). Diese diskriminierende Liste wird bis heute von Politikern zu populistischen Zwecken instrumentalisiert.
Es lässt sich festhalten, dass über die gesamte Sowjetzeit hinweg die Familien- und Genderpolitik deutlich pronatalistische und paternalistische Züge trug. Auf der Alltagsebene gab es ebenfalls recht polarisierte Genderrollen. In spätsowjetischer Zeit wurde nun von Frauen nicht nur erwartet, dass sie die Aufgaben einer guten Ehefrau und Mutter erfüllt, sondern auch schön und gepflegt ist, schmackhaftes und gesundes Essen zubereiten, nähen, stricken und sticken kann. Es entstand eine ganze Industrie sowjetischer Frauenzeitschriften, die eine Aufklärungs- und gleichzeitig eine Propagandafunktion hatten.
Genderbeziehungen und Genderpolitik heute
In den 1990er Jahren erfuhren die Genderbeziehungen nach dem Zerfall der Sowjetunion starke Veränderungen. Auch wenn der Gendervertrag »der Mann als Ernährer, die Frau als Hausfrau« in der sowjetischen Gesellschaft praktisch wenig verbreitet war (und dabei dem Familienmodell zweier Berufstätiger Platz machte), so wurde der Mann im gesellschaftlichen Bewusstsein und in den Genderstereotypen stets in der Position des Hauptversorgers gesehen. Der Zusammenbruch des sowjetischen Wirtschaftssystems führte zu einer beispiellosen Arbeitslosigkeit und Veränderungen auf dem Arbeitsplatz, da Millionen Bürger des neuen Landes nun ohne staatliche Unterstützung dastanden und sich neue Arten der Beschäftigung aneignen mussten. Während Lehrerinnen und Ärztinnen ihre geringbezahlten Arbeitsplätze verließen, um unternehmerisch tätig zu werden und auf den Märkten Handel zu treiben, kamen viele Männer nicht mit dem Verlust ihres Status als Ernährer zurecht. In der Folge stieg die Anzahl der Fälle von Depression, Alkoholismus, Selbstmord und Tod durch riskantes Verhalten.
In der heutigen Phase ist eher von einer Vielzahl von Genderrollen zu sprechen, von einer Zunahme der Vertragsbeziehungen (wenn die Partner das Verhältnis von Karriere und Hausarbeit selbst festlegen) und der nichtregistrierten Ehen, von einer verringerten Kinderzahl und einem erhöhten Heiratsalter. Das sind gesamteuropäische Entwicklungen in der Veränderung der Familienstruktur, bei denen sich Russland nur wenig von anderen Ländern unterscheidet. In der Politik und Rhetorik des Staates sind allerdings deutlich konservative und traditionalistische erhalten geblieben. Forscher bezeichnen die russische Genderpolitik als »neotraditionalistisch«.
In erster Linie zeigt sich das in einer Reihe von Maßnahmen der staatlichen Politik zur Einschränkung von reproduktiven Rechten der Frauen. Abtreibungen gehören zu den medizinischen Leistungen, die von der gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckt werden. Jede Bürgerin der Russischen Föderation hat also das Recht, auf Kosten des staatlichen Gesundheitssystems eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Durch eine Reihe von Verordnungen der russischen Regierung wurde allerdings eingeschränkt, wann eine kostenfreie Abtreibung angezeigt ist, nämlich nach einer Vergewaltigung und bei Gefahr für Leib und Leben der Mutter. Darüber hinaus wurde in das Gesundheitsschutzgesetz ein Passus aufgenommen, dem zufolge russische Ärzte das Recht haben, aus Gewissensgründen die Durchführung einer Abtreibung zu verweigern, es sei denn, die Abtreibung ist medizinisch notwendig oder es steht kein Ersatzarzt zur Verfügung.
Konservative Wende und Widerstand
Die Duma-Abgeordnete Jelena Misulina (zugleich Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Familie, Frauen und Kinder) hat eine Reihe dubioser Maßnahmen zur Verbesserung der demographischen Situation initiiert oder unterstützt.
Auf ihren Vorstoß hin (und mit intensiver Lobbyarbeit der Russischen Orthodoxen Kirche) sind die genannten Änderungen eingeführt worden. Glücklicherweise haben breitangelegte gesellschaftliche Kampagnen (beispielsweise die Kampagne »Abtreibungen bekämpfen – und nicht Frauen!« <http://www.ikd.ru/node/17131/print>) während der Erörterung dieser Maßnahmen verhindert, dass noch stärker diskriminierende Bestimmungen eingeführt wurden.
Jelena Misulina ist zudem dadurch bekannt geworden, dass sie das Gesetz über das Verbot einer Adoption russischer Kinder durch ausländische Paare unterstützte. Darüber hinaus gehörte sie zur Lobby des sogenannten »Gesetzes über Schwulen-Propaganda gegenüber Minderjährigen«, durch das die öffentliche Arbeit von LGBT-Organisationen extrem eingeschränkt wurde.
Unter anderem hat Jelena Misulina über die Jahre hinweg die Einführung folgender Bestimmungen vorgeschlagen:
bei Abtreibungen eine obligatorische schriftliche Einverständniserklärung durch den Ehemann;Anhebung der Altersgrenze für den Beginn sexueller Beziehungen von 16 auf 18 JahreVerbot von BabyklappenVerbot des Zigarettenverkaufs an junge Frauen, die noch kein Kind bekommen haben;Steuern auf Kinderlosigkeit und Geldstrafen bei Scheidungen.
Daneben forderte Misulina auch, dass in Russland Leihmutterschaften verboten werden; sie bezeichnete diese als »schrecklichste Bedrohung, die ein Aussterben nicht nur Russlands, sondern der gesamten Menschheit« bedeute (<http://tass.ru/obschestvo/758039>). Die meisten dieser Vorstöße gelangten allein auf Grund des Widerstands durch gesellschaftliche Organisationen und feministische Initiativen sowie breitangelegter Kampagnen in den Medien nicht zu einer Erörterung in der Staatsduma.
Dabei spiegeln die Positionen Misulinas die offizielle Ausrichtung des Staates auf Bevölkerungspolitik und eine traditionelle Familienpolitik wider. Auch Präsident Putin hat durch seine aufsehenerregenden Statements über die bevölkerungspolitischen Pflichten der Frau Berühmtheit erlangt. So gab er 2011 auf einem regionalen Parteikongress von »Einiges Russland« einer Geschäftsfrau Folgendes mit auf den Weg (<http://www.mskm.mr7.ru/articles/39765/>):
»Wissen Sie, ich möchte ja niemanden beleidigen und fürchte, dass mir wieder etwas rausrutscht. Aber schauen Sie – viele von Ihnen werden wohl diesen Film gesehen haben, ›Intergirl‹ [populärer Film aus dem Jahr 1989 über eine ›Valutaprostituierte‹] – wir sind von einem Intergirl zur Business Lady herangewachsen. Das ist doch richtig gut! Ich habe aber einen Wunsch, Natascha: Vergessen Sie nicht die Erfüllung der Pflichten im Zusammenhang mit der Lösung der demographischen Probleme«.
Diese Äußerung Putins wurde oft zitiert und wurde zu einer Art Symbol der Haltung des Staates gegenüber Frauen, bei der deren wichtigste Bestimmung in der Pflicht gesehen wird, Mutter zu werden.
Diese Tendenzen spiegeln sich in zwei Konzeptionen wieder, die 2013 auf Initiative von Jelena Misulina verabschiedet wurden, der »Strategie der Familienpolitik bis 2025« und der »Strategie der Bevölkerungspolitik bis 2025«: In beiden Dokumenten wird der Akzent auf die demographischen Pflichten der Frau und das Normative der »traditionellen russischen Familie« gelegt, unter der eine registrierte heterosexuelle Ehe mit anschließender Geburt von mindestens zwei Kindern verstanden wird. Wie viele familienpolitischen Initiativen wurden diese Dokumente unter direkter Beteiligung der Russischen Orthodoxen Kirche ausgearbeitet. Daher auch beruft man sich in einzelnen Absätzen auf die moralischen, sittlichen und geistigen Werte, die nach Ansicht der Autoren dieser Strategien in der normativen traditionellen Familie gefördert werden sollten.
Diese Dokumente haben allerdings nur Empfehlungscharakter und werden angesichts der begrenzten Finanzierung solcher staatlichen Programme aller Wahrscheinlichkeit nach nur populistische Papiere bleiben und in der Praxis keine Kraft entfalten.
Die jüngste konservative Initiative auf staatlicher Ebene erfolgte im Jahr 2017, als der Föderationsrat ein Gesetz verabschiedete, durch das Gewalt in der Familie von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft wurde.
Häusliche Gewalt ist ein ernstes Problem in Russland. Es gibt dazu kein eigenes Gesetz, nur sehr wenig Schutzräume und kein System von Kontaktsperren oder Unterlassungsverfügungen. Wenn also früher die präventive Wirkung des Paragraphen 116 des russischen Strafgesetzbuches eine erhebliche Rolle spielte, so können potenzielle Gewalttäter jetzt auf Straflosigkeit hoffen.Das reale Leben der Bevölkerung ist – ungeachtet der offensichtlichen konservativen Tendenzen in der Politik des Staates – allerdings weit von Konservativismus entfernt. Zu den erwähnten offensichtlichen Veränderungen im Familien-, Ehe- und Reproduktionsverhalten kommt eine zunehmende Kluft zwischen deklarierten Werten und dem Alltag hinzu. Die Anzahl feministischer Initiativen und Verfechterinnen feministischer Ansichten nimmt stetig zu. Parallel zur steigenden Zahl homophober Auftritte und Straftaten nimmt die gesellschaftliche Unterstützung für LGBT-Organisationen zu. Die junge Generation zeigt ein vielfältiges Modell des Genderverhaltens, in dem Egalitarismus nun eine immer deutlichere Rolle spielt.
Fazit
Der Konservatismus in der Genderpolitik ist somit nur ein Instrument der Propaganda oder, wie im Falle der Restriktionen für Abtreibungen, das Bestreben, finanzielle Verpflichtungen des Staates auf die Bevölkerung selbst abzuwälzen. Die heuchlerische Rhetorik der »geistigen Klammern«, die bei Vertretern der Politik beliebt ist, findet bei den Durchschnittsbürgern immer weniger Unterstützung, weil diese nicht wollen, dass sich der Staat wieder in den Bereich des Privaten einmischt und dabei, wenn es notwendig wird, nur sehr wenig Unterstützung gewährt.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder