Oktoberrevolution in Russland – Kein Erinnern?
Stille, Leere, Aussparung, das sind die Worte, die Beobachter am häufigsten verwenden, um den Umgang des Regimes in Russland mit dem hundertsten Jahrestag der Ereignisse von 1917 zu beschreiben. Diese Worte sind in gewissem Maße eine Übertreibung: Die Internetseite der »Russischen Historischen Gesellschaft«, die von Präsident Putin mit der Organisation von Veranstaltungen aus Anlass des Jubiläums beauftragt wurde, listet 118 Aktivitäten auf – Ausstellungen, Konferenzen, Forschungsprojekte, öffentliche Vorträge, Dokumentarfilme, Monographien usw. –, die den Anlass würdigen sollen. Gleichwohl ergibt sich zwischen dem immensen und nicht zu leugnenden Einfluss der revolutionären Ereignisse auf Russlands Geschichte wie auch weiterhin auf dessen Gegenwart – ganz zu schweigen von ihrer Wirkung weltweit – sowie der Anzahl und Tragweite der Veranstaltungen zum Jahrestag eine markante Diskrepanz.
Beobachter haben darüber hinaus auf das fehlende Interesse der Russen an den revolutionären Ereignissen von vor hundert Jahren verwiesen. Dieser Umstand könnte sowohl Grund als auch eine Folge der Tatsache sein, dass Intellektuelle die Hauptkonsumenten wie auch die Produzenten der meisten Projekt zum Gedenken an die Ereignisse von 1917 sind. Das trifft auf die beiden Projekte zu, die die »Russische Historische Gesellschaft« auf Geheiß des Präsidenten initiiert hat, wie auch auf mehr oder weniger unabhängige Projekte, beispielsweise die Website »1917: Freie Geschichte« (<https://project1917.ru/>). Dadurch ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering, dass Russen, die relativ wenig Interesse haben, über die Bedeutung des Jahres 1917 für die Geschichte des Landes zu reflektieren, zufällig auf das Thema stoßen.
Da die wichtigsten Medien in Russland (landesweite Fernsehsender und große überregionale Zeitungen), die Ereignisse von 1917 weitgehend missachten, gewinnen die Ausstellungen eine besondere Bedeutung. Ausstellungen sind naturgemäß ein Format, das den Austausch mit einem relativ großen Publikum ermöglicht. Im Kontext dieses speziellen Jahrestages gewinnt das Format als publikumswirksamsten Form von Public History (Öffentliche Geschichte) vielleicht eine umso größere Bedeutung. Ausstellungen können dazu beitragen, die Reflexion über 1917 auszuweiten und Raum für neue Interpretationen der revolutionären Ereignisse zu eröffnen, indem sie Möglichkeiten für »zufällige Begegnungen« mit der Vergangenheit schaffen.
Das Jahr 1917 in Ausstellungen
Ausstellungen zum Jahr 1917 sind zwar nicht so häufig, wie sie sein könnten oder wohl auch sollten. Dennoch gibt es eine Reihe von Beispielen, die auf die eine oder andere Weise das Jubiläum behandeln. Diese können nicht allesamt im vorliegenden Beitrag behandelt werden. Stattdessen sollen drei große Ausstellungen zu dem Thema betrachtet und versucht werden, Ähnlichkeiten und Unterschiede bei den Ansätzen zur Reflexion über 1917 herauszuarbeiten. Alle drei werden in staatlichen Museen in Moskau gezeigt: »Ein Jemand: 1917« (russ.: »Nekto 1917«) in der staatlichen Tretjakow-Galerie, »1917. Der Revolutions-Code« im Staatlichen Zentralmuseum der Zeitgeschichte Russlands und »Cai Guo-Qiang. Oktober« im Staatlichen Puschkin-Museum für darstellende Künste. Die beiden ersten sind Teil des Programms der »Russischen Historischen Gesellschaft«. Zwei der Ausstellungen (»Cai Guo-Qiang. Oktober« und »Ein Jemand: 1917«) reflektieren mit den Mitteln der Kunst über die revolutionären Ereignisse, währen die dritte einen historischen Ansatz verfolgt.
Keine der drei Ausstellungen versucht, ein umfassendes Bild aller Lebensbereiche in Russland während der Revolutionsjahre zu zeichnen, das die Ereignisse von 1905 bis 1907, die Februar- und die Oktober-Revolution 1917 und den anschließenden Bürgerkrieg umfassen würde. Im Falle der beiden Kunstausstellungen (deren Strategien sich grundsätzlich unterscheiden) ist das verständlich. Vom Staatlichen Zentralmuseum der Zeitgeschichte Russlands, dem ehemaligen Revolutionsmuseum, kann man indes mehr erwarten.
»1917. Der Revolutions-Code«
Die Ausstellung »1917. Der Revolutions-Code« im Staatlichen Zentralmuseum der Zeitgeschichte Russlands bietet kaum mehr als einen Überblick über die politischen Ereignisse jener Zeit. Sie wurde in Zusammenarbeit mit dem Kulturministerium, der Föderalen Agentur für das Archivwesen und dem Russischen Staatsarchiv für politische und Sozialgeschichte ausgearbeitet. Andere Zeiten des Lebens in Russland werden nur minimal abgedeckt, sieht man davon ab, dass Graphiken die Bevölkerungsstruktur des Landes zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Berufen und Geschlecht sowie nach ethnischen, sozialen und konfessionellen Gruppen gegliedert darstellen. Darüber hinaus gibt es einen kurzen Abschnitt, der dem Verhältnis des frühen Sowjetregimes zur Orthodoxen Kirche gewidmet ist. Dieser kann durchaus als Politikum verstanden werden, war doch die Kirche für lange Zeit ein konstituierender Teil des Staates gewesen. Während der »Code von 1917« den Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05, die revolutionären Ereignisse von 1905 bis 1907, den Ersten Weltkrieg sowie die Februar- und die Oktober-Revolution selbst umfasst (was deshalb bedeutsam ist, weil viel viele Projekte die Ereignisse von 1917 auf den Staatsstreich durch die Bolschewiki reduzieren), ignoriert die Ausstellung bezeichnenderweise völlig den Bürgerkrieg, der den Ereignissen des Oktobers folgte. Es gibt lediglich einen Hinweis auf den Bürgerkrieg, nämlich in Form eines Posters von 1920. Es zeigt eine Karikatur von Alexander Koltschak, einem der Anführer der Weißen Bewegung, die ihn als blutrünstigen, macht- und geldhungrigen Alkoholiker darstellt und den Titel »Jeder zehnte Arbeiter und Bauer sollte erschossen werden« trägt.
Diese Reduzierung kann wohl kaum auf das fehlende Interesse der Russen an den Ereignissen von 1917 zurückgeführt werden. Es zeigt vielmehr zwei wichtige, miteinander verknüpfte Dinge: Auf der einen Seite ist es extrem schwierig, den Ereignissen von vor hundert Jahren Sinn zu verleihen, denn noch gehören sie nicht ins Reich der Vergangenheit. Vielmehr dauert die Revolution gleichsam noch immer an, ist noch nicht aufgearbeitet und überwunden, weswegen ein distanzierter Blick auf sie, eine umfassende Reflexion innerhalb des Landes, schwer möglich ist. Auf der anderen Seite kann sich das derzeitige Regime in Russland nicht entscheiden, wie es sich in Bezug auf das Jahr 1917 positionieren soll. Es versucht die Quadratur des Kreises: Nachfolger der Sowjetunion zu sein, wie auch des Russischen Kaiserreiches; den Sieg im Zweiten Weltkrieg errungen (was wiederum als Grundlage für die heutige Erinnerungspolitik dient) sowie der Anti-Hitler-Koalition angehört zu haben und gleichzeitig ein Gegengewicht zum Westen darzustellen; die orthodoxe Tradition fortzuführen und ein modernisierter, säkularer Staat zu sein. Aufgrund dieses Nachfolge-Durcheinanders würde die Regierung die Ereignisse von 1917 am liebsten überhaupt nicht diskutieren. In einer Situation allerdings, in der es unmöglich ist, dieses Thema vollständig zu ignorieren, zieht man es vor, selektiv darüber zu sprechen.
»Cai Guo-Qiang. Oktober«
Das ist der Grund, warum es Nichtrussen offensichtlich leichter fällt, über 1917 nachzudenken – sei es außerhalb des Landes (keine Ausstellung in Russland reicht in ihrer Breite und Tiefe an die Ausstellung »1917. Revolution. Russland und Europa« im Deutschen Historischen Museum in Berlin heran) oder im Land selbst (»Cai Guo-Qiang. Oktober« im Puschkin-Museum). Auch wenn die letztgenannte Ausstellung sich auf die Oktober-Revolution beschränkt, so repräsentieren die Installationen des chinesischen Künstlers Cai Guo-Qiang gleichwohl eine beispielhafte Reflexion über das Jahr 1917. Im Vorhof des Museums thront seine Arbeit »Herbst«, eine stattliche Konstruktion aus alten Wiegen und Krippen, aus denen Birken wachsen; mit der Zeit werden deren Blättern unweigerlich gelb und fallen ab. Die Installation ist eine kraftvolle Reflexion über das Unausweichliche des Herbstes – oder Niedergangs – jeder Utopie.
Innerhalb des Museums setzt sich die Erinnerungsarbeit in mehreren anderen Werken fort: »Das Land« stellt ein Strohfeld dar, das den Weißen Saal des Museums bedeckt, mit merkwürdigen Getreidezirkeln in der Mitte. In der Reflexion im großen Spiegel darüber werden die Getreidekreise zu Hammer, Sichel und fünfzackigem Stern. Der Zuschauer denkt unwillkürlich an die Zerstörung der russischen Landwirtschaft im Zuge der Kollektivierung wie auch an die Folgen der Revolution allgemein. »Das Land« wird von zwei anderen Kunstwerken flankiert, den riesigen, 20 Meter langen, mit Schießpulver gemalten Gemälden »Fluss« und »Garten«. Diese Gemälde sind eigentlich nur ein Endprodukt von Performences, bei denen Fotografien aus den vergangenen hundert Jahren russischer Geschichte wie auch sowjetische und Revolutionsposter mit Schießpulver bedeckt und von dem Künstler vor einem Moskauer Publikum zur Explosion gebracht wurden.
Der Kulturhistoriker Alexander Etkind schreibt im Ausstellungskatalog: »Die explosive Kunst von Cai Guo-Qiang gedenkt der Vergangenheit, löst sich von ihr in einem himmlischen Begräbnisfest und öffnet uns einen Zugang zu unserem unbekannten Jahrhundert«. Mit anderen Worten: Die Ausstellung im Puschkin-Museum ist der Versuch eines Künstlers, mit der Russischen Revolution abzuschließen. Der chinesische Emigrant Cai Guo-Qiang, dessen Leben in China erheblich durch die revolutionären Ereignisse von 1917 geprägt war, und der seine Vergangenheit nicht loswerden konnte, als er sein Heimatland verließ, versucht mit seiner Erinnerungsarbeit sich selbst – und uns alle – in die Zukunft zu führen.
»Ein Jemand: 1917«
Warum bekommen wir nicht auch in anderen russischen Museen Beispiele solcher Erinnerungsarbeit zu sehen? Einer der Gründe liegt darin, dass die Ausstellung im Puschkin-Museum die Sprache zeitgenössischer Kunst verwendet, die schwieriger zu verstehen und in geringerem Maße durch autoritäre staatliche Kontrolle angreifbar ist. Auch die Tretjakow-Galerie verwendet in ihrer Ausstellung »Ein Jemand: 1917« die Sprache der Kunst, um die Revolutionen zu diskutieren – allerdings nicht in komplexer, »zeitgenössischer« Form, sondern in einer Sprache, die leichter zu verstehen ist und daher stärker diskursive Rahmen benötigt. Ziel der Ausstellung ist zwar, »die schalen Stereotype [über 1917] zu überwinden und sich einem Verständnis des komplexen Bildes dieser wichtigsten Ära des russischen Geisteslebens anzunähern«. Dafür werden die unterschiedlichen Haltungen russischer Künstler zu den revolutionären Ereignissen in den Blick genommen. Trotzdem ruft sie – vielleicht ungewollt – dem Betrachter die Schrecken in Erinnerung, die eine Revolution mit sich bringt. Schon ihr Titel »Ein Jemand: 1917« geht auf Überlegungen des Schriftstellers Welimir Chlebnikow zum Aufstieg und Niedergang der verschiedenen Staaten zurück. Er hatte sie 1912 in der Anthologie »Eine Ohrfeige für den allgemeinen Geschmack« veröffentlicht und prophetisch angedeutet, dass dem russischen Staat 1917 etwas zustoßen werde.
Die Ausstellung präsentiert überwiegend Werke aus den Jahren 1916 bis 1918 und ist in sieben Abschnitte geteilt. Mindestens fünf von ihnen verurteilen die Revolution mehr oder weniger. Der erste Abschnitt unter dem Titel »Mythen über das Volk« enthält Michail Nesterows 1916 entstandenes Gemälde »In der Rus. Die Seele des Volkes«, in dem Russland auf archaisch idyllische Art dargestellt wird. Das Werk ist neben einigen Werken aus dem Zyklus »Raseja« (1917) von Boris Grigorjew zu sehen, die das russische Volk überwiegend kritisch porträtieren. In einer Erklärung wird der Künstler Alexandre Benois zitiert: »Die Nation wird entweder ihre glorifizierte Weisheit zeigen […] oder sie wird ihren zerstörerischen Kräften zum Opfer fallen«. Eine der Botschaften dieses Abschnitts lautet eindeutig: Von den Russen hatte man gedacht, sie seien ein heiliges Volk. Doch hat sich herausgestellt, dass sie eine subversive Kraft sind, die – in den Worten Benois – »zum ‚Gebieter‘ nicht nur der russischen Geschicke wurde, sondern das Schicksals der ganzen Welt bewegte.«
Die anderen Abschnitte folgen dieser Linie: Im Abschnitt »Flucht vor der Realität!« (ein Titel, der für sich selbst spricht) wird der Eskapismus der Künstler angesichts der »destruktiven Tendenzen der Zeit« betont. Der Abschnitt »Künstlerwerkstatt« beschriebt, wie sich Künstler in ihre Ateliers zurückzogen um ungestört von der Revolution arbeiten zu können. In »Gesichter der Epoche« wird die Krise der Portraitmalerei herausgestellt; hier sind auch Nesterows berühmte »Philosophen« (Pawel Florenskij und Sergej Bulgakow) zu sehen, und zwar um die Erklärung ergänzt, dass »Menschen, die sich im Bann ihrer Ideen, Konzepte und Projekte befinden, das wirkliche Leben nicht wahrnehmen, sich vor diesem verschließen, was im Grunde den wichtigsten mentalen Widerspruch der Epoche darstellt«. Interessanterweise unterstreicht der Abschnitt »Utopie einer neuen Welt« (von dem eine Diskussion der großen utopischen Ideen zu erwarten gewesen wäre), dass vor 1917 abstrakte Kunst »nicht mehr als 20 Anhänger hatte und diese »absolute Minderheit« gleichwohl »revolutionäre Ideen und Bestrebungen verkündete«.
Darin liegt natürlich etwas Wahres, doch steht eine solche Zuspitzung im Einklang mit dem, was in der Ausstellung »1917. Der Revolutions-Code« hervorgehoben wird: Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass marxistische Gruppen zur Jahrhundertwende überwiegend aus Angehörigen der Intelligenzija bestanden hätten. Die Bolschewiki seien ursprünglich nur eine kleine Gruppe Radikaler ohne jeglichen Rückhalt in der Bevölkerung gewesen. Und es wird darauf verwiesen, dass die Oppositionsbewegung Zugeständnisse des Zaren in den Jahren 1905 bis 1907 ignoriert habe, was das Land schließlich Schritt für Schritt in die blutigen Ereignisse von 1917 getrieben habe. All dies dient der Illustration einer »nationaler Katastrophe«. In einer der beiden Einleitungen im Ausstellungskatalog wird daher bezeichnenderweise die Frage aufgeworfen: »Warum haben es die russischen Bürger und all die politischen und gesellschaftlichen Organisationen, die sich für die Interessen des Volkes einsetzen wollten, nicht geschafft, eine weniger traumatisierende Lösung für die drängenden Probleme zu finden«, denen sich die russische Gesellschaft damals gegenübersah?
Fazit
Die Ausstellung von Cai Guo-Qiang im Puschkin Museum ist komplex: Sie verbindet das Persönliche mit dem Universellen sowie das Russische mit dem Chinesischen bzw. Internationalen. Während sie eine möglichst multidimensionale, umfassende Erinnerungsarbeit anstrebt, reduzieren die beiden anderen Ausstellungen die Ereignisse des Jahres 1917 auf einen katastrophenartigen Kollaps und einen Zusammenbruch des Staates, der von einer Gruppe intellektueller Extremisten provoziert worden sei.
Erinnerung hängt immer mit der Gegenwart zusammen. Sie sagt uns in Wirklichkeit ebenso viel über das Heute, wie über das Gestern. Die Ausstellungen in der Tretjakow-Galerie und dem Museum der Zeitgeschichte Russlands hingegen erzählen vor allem von der Gegenwart und nutzen dabei den Kontext der Vergangenheit. Und in dieser Gegenwart wird die Revolution zum Schreckgespenst: »Der Hauptgrund für die Niederlage [im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05] war die Revolution, die in Russland ausbrach. Das russische oppositionelle Milieu hatte eine ausgesprochen defaitistische Haltung angenommen«, wie es eine der Erklärungen bei »1917. Der Revolutions-Code« beklagt – ganz in der Logik des gegenwärtigen offiziellen politischen Diskurses.
In Russland war nach 1945 eine Redewendung populär: »Alles, nur keinen Krieg!«. Die Ausstellungen in der Tretjakow-Galerie und im Museum der Zeitgeschichte Russlands zum Jahrestag der Revolution scheinen diesen Spruch abgewandelt zu haben: »Alles, nur keine Revolution!«. Sie zeigen – wie auch eine Reihe anderer russischer Museen – weniger »Ein Jemand: 1917«. Vielmehr schrecken sie den Besucher mit einem imaginierten »Jemand: 2017«, der Russland wieder zum Schauplatz einer Revolution machen könnte, falls man ihm zu viel intellektuellen Freiraum lässt und die Behörden nicht wachsam genug sind.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder