Einleitung
Ungeachtet der konsequenten Behauptung, dass alle in den wichtigen europäischen und UNO-Dokumenten gefassten Menschenrechte unteilbar seien, ist umstritten, welchen Platz soziale Rechte wie das Recht auf Wohnraum, medizinische Versorgung und soziale Fürsorge innerhalb der internationalen »Menschrechtshierarchie« einnehmen. Die Interpretation dieser hängt stark von dem jeweiligen politischen Kontext ab, in dem sie ausgestaltet und angewandt werden. Die prekäre Stellung, die diese Rechte derzeit einnehmen, lässt sich zum Teil mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime erklären, die soziale Rechte stark gegenüber bürgerlichen und politischen Rechten und Freiheiten betont hatten. Hinzu kam, was Marius Pieters einst eine »Herabwürdigung« der mit sozialistischen Werten und sozialistischen Systemen assoziierten sozialen Rechte nannte. Allerdings haben offensichtlich auch andere Faktoren für diese Entwicklung gesorgt, nicht zuletzt das gleichzeitig und zunehmend erfolgte Aufblühen neoliberaler Ideologien, die Ende des 20. Jahrhunderts selbst unter sozialdemokratisch geführten Regierungen die Oberhand gewannen. Diese schienen die Notwendigkeit einer Deregulierung der Arbeitsmärkte und einer Anpassung an die Marktkräfte akzeptiert zu haben.
Im postsowjetischen Russland unterschied sich die Erfahrung mit Marktreformen und Liberalisierung deutlich von der in den meisten anderen europäischen Ländern, auch von der in den postkommunistischen und osteuropäischen Ländern, die jetzt Mitglieder der Europäischen Union sind. Charakteristisch für die Regierungen unter Putin und Medwedew war, dass sie hinsichtlich des Zugangs zu bestimmten Arten sozialer Absicherung einen weitgehend neoliberalen Ansatz verfolgten, indem in der Praxis der freie Zugang zu sozialen Dienstleistungen reduziert wurde und eine Verschiebung zu verstärkter Eigenverantwortung in der Wohlfahrt erfolgte.
Diese Entwicklung wird allerdings in den letzten Jahren durch einen politischen Diskurs »maskiert«, der die Verantwortung des Staates für das Leben seiner Bürger sowie die Entschlossenheit des Staates betont, den Ansprüchen auf Wahrung der sozialen Rechte zu genügen. Dieser Ansatz berücksichtigt eine große Zustimmung zu sozialen Rechten, die in Russland weiterhin besteht (siehe Umfrage S. 14) – teilweise als Ergebnis einer besonderen Gewichtung der Vormachtstellung des Staates bei der sozialen Sicherung und der Gewährung sozialer Rechte während der Sowjetzeit. Zu großen Teilen ist diese Entwicklung auch auf das Gefühl von Ungewissheit und Haltlosigkeit zurückzuführen, das während der chaotischen Reformzeit unter Jelzin in den 1990er Jahren und der explizit neoliberalen Sozialreformen in der ersten Amtszeit Putins von 2000 bis 2004 entstanden war (s. in d. Lesetipps: Hemment: Soviet-Style …).
Während sich der russische Diskurs über die Bedeutung und das Gewicht sozialer Rechte von dem in vielen anderen europäischen Ländern unterscheiden mag, bestehen gleichwohl erhebliche Übereinstimmungen bei den Ansätzen, mit denen diese Rechte in der Praxis gewährt oder eben nicht gewährt werden. Insgesamt hat es den Anschein, dass soziale Rechte weniger aus klar definierten und weitgehend unumstrittenen Menschenrechtsnormen nach Art der bürgerlichen und politischen Rechte wie beispielsweise der Meinungsfreiheit bestehen, sondern ihre Umsetzung vielmehr in sehr viel stärkerem Maße vom politischen Willen nationaler Regierungen und internationaler Organisationen abhängt.
Soziale Rechte als Menschenrechte
Geht man der Frage nach, welche Bedeutung soziale Rechte heute in Russland haben und wie sie Entscheidungen in der Sozialpolitik beeinflussen, muss das Erbe der offiziellen sowjetischen Rhetorik berücksichtigt werden. Die hatte einen starken Staat, soziale Rechte und soziale Sicherheit betont. Dieses Erbe hatte zweifellos einen beträchtlichen Einfluss auf die Erwartungen in der Bevölkerung hinsichtlich der Verpflichtung des Staates zur Wahrung sozialer Rechte. In mancher Hinsicht formt dieses Erbe bis heute die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die öffentlichen Wohlfahrtsleistungen des Staates.
Allerdings müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden, die die sozialpolitischen Erwartungen der Bevölkerung bestimmen, etwa die Auswirkungen der Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991. In dieser Zeit sind große Teile des vormaligen Wohlfahrtssystems demontiert worden. Hinzu kamen in jüngerer Zeit unpopuläre Reformen im Sozialbereich, etwa die »Monetarisierung« bestimmter sozialer Vergünstigungen 2004/05 und die Tarifsteigerungen der Versorgungsunternehmen Ende 2012 und Anfang 2013. Die Bevölkerung in Russland betrachtet im Allgemeinen eine Reihe sozialer Rechte als die wichtigsten »Menschenrechte«, auch nach den politischen Protesten nach den Wahlen 2011/12.
Gleichzeitig ist sich die Bevölkerung bewusst, dass eine Umsetzung dieser Rechte eher unwahrscheinlich ist, und dass für bestimmte Gruppen wie Kinder, Ältere und Behinderte das Risiko einer Verletzung dieser Rechte am größten ist. Doch trotz der »aktiven und interventionistischen« Rhetorik zur Rolle des Staates bei der sozialen Absicherung durch die Politik (s. in d. Lesetipps: Cook: Russia’s Welfare Regime S. 23) und eines eher proaktiven Ansatzes zur Einbeziehung von »nützlichen« sozial-orientierten NGOs dürften die Erwartungen der Bevölkerung an den Staat und dessen Verpflichtungen im Bereich des Sozialen nicht erfüllt werden.
NGOs als Anwälte für soziale Rechte
Der Einfluss des sowjetischen »Erbes« auf die Wahrnehmungen von Menschenrechten in der Bevölkerung war in mancher Hinsicht beträchtlich. Einen nicht weniger tiefgreifenden Einfluss hatte das sowjetische »Erbe« auf die heutige Menschenrechtsbewegung, in der viele NGOs (im Russischen: nichtkommerzielle Organisationen – NKO) weiterhin von ehemaligen sowjetischen Dissidenten geleitet werden. Diese ehemaligen Dissidenten haben sich eher einer »liberalen« Definition von Menschenrechten verschrieben, die sich stärker mit bürgerlichen und politischen, denn mit sozialen Rechten befasst. Eine solche Herangehensweise entspricht den früheren Erfahrungen beim Kampf gegen das Sowjetregime und für bürgerliche und politische Freiheiten sowie der Selbstwahrnehmung von Dissidenten als elitäre Gruppe, die sich vom Mainstream der öffentlichen Meinung und der Regierungspolitik abhebt. Sie deckt sich zum Teil auch mit dem neoliberalen Menschenrechtskonzept, das individuelle bürgerliche und politische Rechte und Freiheiten gegenüber eher kollektiven sozialen Rechten Vorrang einräumt.
Während viele Menschenrechtsaktivisten sich des Sinngehalts sozialer Rechte und deren Bedeutung für breite Bevölkerungsschichten in hohem Maße bewusst sind, ist dennoch festzuhalten, dass soziale Rechte nur relativ selten Gegenstand ihrer Kampagnen oder Projektarbeit sind. Viele NGOs betätigen sich eher selten als effektive »Übersetzer« von Menschenrechtennormen aus dem internationalen in den lokalen Kontext, weshalb es ihnen weitgehend misslang, eine Basis gesellschaftlicher Unterstützung zu schaffen oder Themen zu bearbeiten, die in der breiten Bevölkerung Widerhall finden. Es fiel ihnen auch schwer, eine breitere gemeinsame Grundlage mit anderen NGOs aus dem sozialen Bereich zu finden. Denn bei vielen ihrer Kollegen im Dritten Sektor haben sie den Eindruck erzeugt, dass sie eine exklusive Elite bilden, die sich auf viele Jahre bestehende persönliche Beziehungen gründet. Ihr Konzept befindet sich in deutlichem Kontrast zu den Ansätzen eher »sozial-orientierter gemeinnütziger Organisationen« (SONGOs), die mit schutzbedürftigen Gruppen wie Kindern, Älteren und Behinderten arbeiten, um deren Zugangsmöglichkeiten zu essentiell wichtigen Dienstleistungen zu verbessern, und die sich dabei nicht als Organisation von »Rechteverteidigern« (»prawosaschtschitniki« [»Menschenrechtler«, d Red.]) verstehen.
Sozial-orientierte Organisationen scheinen sehr viel stärker in die lokale Gemeinschaft eingebunden zu sein, indem sie erfolgreich Freiwillige rekrutieren und Sponsoren aus der Wirtschaft vor Ort gewinnen. Hinzu kommt, dass sie sich auf Themen wie Wohnung, Gesundheit, Behinderung und den allgemeinen Lebensstandard konzentrieren, was in weiten Bevölkerungsteilen Resonanz findet. Darüber hinaus verfolgen sie einen pragmatischeren und kooperationsfreudigeren Ansatz gegenüber den Behörden vor Ort. Gleichzeitig müssen sie trotzdem innerhalb jener Schranken arbeiten, die ein autoritäres Regime setzt. Hierzu gehörte in den letzten Jahren eine merkliche Beschränkung für NGOs beim Zugang zu ausländischer Finanzierung für ihre Arbeit sowie eine entsprechende Zunahme von staatlichen Zuwendungen für SONGOs, insbesondere für jene, die bereit sind, formale soziale Dienstleister zu werden. Das hat verständlicherweise die Besorgnis entstehen lassen, diese Organisationen seien oder würden zu »[…] apolitischen Organisationen, die sich vor allem mit der Bereitstellung von sozialen Dienstleistungen und/oder öffentlichen Gütern befassen« (s. in d. Lesetipps: Ljubownikow/Crotty: Civil Society…, S. 762).
Das komplexe, hybride und oft lückenhafte Wohlfahrtswesen in Russland sowie der Umstand, dass es im Sinne einer Stabilisierung des Regimes wichtig ist, bestimmte öffentliche Güter und Dienstleistungen bereitzustellen, hat für gesellschaftliche Organisationen einen Raum geöffnet. Hier können diese Organisationen versuchen, die Auswirkungen der staatlichen Sozialpolitik auf jene abzufedern, die nicht von dem »marktwirtschaftlichen Gesellschaftsvertrag« profitieren, der in Kraft zu sein scheint. Daher schaffen es SONGOs oft, Advocacy und die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen miteinander zu verbinden, indem sie eine pragmatische, kooperative Haltung gegenüber lokalen Behörden und anderen staatlichen Stellen, etwa den regionalen Menschenrechtsbeauftragten einnehmen. Das scheint ihnen – in einem gewissen Rahmen – die Möglichkeit zu geben, Einfluss auf die Regierungspolitik und -praxis in ihrem Arbeitsbereich zu nehmen.
Die Einflussmöglichkeiten von SONGOs auf die Politik könnten noch erheblich wachsen, falls solche Organisationen eine noch größere Rolle bei der Bereitstellung von sozialen Dienstleistungen spielen würden, worauf die russische Regierung in den letzten sieben Jahren ja zunehmend Wert gelegt hat. Ulla Pape zeigt in ihrer Arbeit zur HIV/Aids-Politik in Russland (s. in d. Lesetipps, S. 245), dass NGOs, die sich in Russland am Kampf gegen die Immunschwächekrankheit beteiligen, auf lokaler Ebene bis zu einem gewissen Grade über Einflussmöglichkeiten verfügen und politische Veränderungen vorantreiben können, wenn sie Koalitionen mit lokalen Beamten eingehen, und wenn sie Advocacy mit praktischen Leistungsangeboten kombinieren.
Viele Organisationen lassen sich nicht durch den Staat kooptieren und versuchen in Wirklichkeit zumindest einen gewissen Grad an Unabhängigkeit von den Behörden zu wahren und stehen dem Vorgehen der Regierung im Bereich der Sozialpolitik oft höchst kritisch gegenüber. Sie widerstehen darüber hinaus oft Versuchen des Staates, sie durch ihren Status als formale Anbieter sozialer Dienstleistung konkreter in den Zuständigkeitsbereich des Staates zu bringen. In der Tat ist es so, dass die Politik einer Auslagerung sozialer Dienstleistung in Russland weiterhin an Fahrt gewinnt und der Staat diese NGOs in stärkerem Maße brauchen könnte, als dass diese Organisationen selbst eine Unterstützung der Behörden benötigen würden. Es stellt sich heraus, dass viele SONGOs sehr geschickt dabei sind, ein Verhältnis zu regionalen oder lokalen Regierungen auszuhandeln, das ihnen erlaubt, sich verdeckt für die sozialen Rechte ihrer Klientel einzusetzen, ohne dabei die Machthaber vor den Kopf zu stoßen.
Schlussfolgerungen
Unternimmt man einen Ausblick, so scheint es im gegenwärtigen Kontext relevanter zu sein, ein breiteres und flexibleres Verständnis davon zu entwickeln, woraus das Feld der Zivilgesellschaft »russischer Art« besteht und wie unterschiedliche Organisationstypen versuchen, ihre Agenda zu vertreten und sich für die Interessen ihrer Klientel einsetzen. Darüber hinaus kann Sozialpolitik in autoritären Regimen nicht nur ein Ort für wichtige politische und soziale Auseinandersetzungen sein. Als ein Bereich der Regierungspolitik bietet sie zivilgesellschaftlichen Akteuren eine gewisse Möglichkeit, in einem autoritären Regime einen anderen als die zu erwartenden Wege auszuhandeln, um dem Staat gegenüberzutreten, und dann eben nicht entweder unter den Folgen zu leiden zu haben oder aber vollständig durch den Staat kooptiert zu werden.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder