Arsenij Roginskij 30. März 1946 – 18. Dezember 2017

Von Jens Siegert (Moskau)

Arsenij Roginskij war ein Kind des Gulags. Buchstäblich. Er wurde am 30. März 1946 im Lagerkrankenhaus einer Strafkolonie in Welsk im Gebiet Archangelsk geboren. Seine Eltern hatten sich in der Verbannung im Norden kennen gelernt. Sein Vater, ein Ingenieur aus Leningrad war 1938 und dann wieder 1951 zu Lagerhaft verurteilt worden. 1956 starb der Vater im Lager und Arsenij Roginskij kehrte mit seiner Mutter zusammen nach Leningrad zurück.

Als Sohn eines Gulaghäftlings und als Jude war es ihm Anfang der 1960er Jahre nicht möglich, in Leningrad einen Studienplatz zu bekommen. Daher bewarb er sich an der historisch-philologischen Fakultät der Universität Tartu. Dort, im Umkreis des Semiotikers Jurij Lotman, fanden viele junge Menschen einen Studienplatz, die aus politischen Gründen anderswo abgelehnt worden waren.

Nach dem Studium kehrte Arsenij Roginskij nach Leningrad zurück. Dort arbeitete er bis zum Ende der 1970er Jahre als Bibliograph und Lehrer für russische Sprache und Literatur an einer Abendschule. Sein Hauptinteresse galt aber schon damals der sowjetischen Repressionsgeschichte, am Anfang der Geschichte der russischen Sozialdemokratie. Arsenij Roginskij hatte erfahren, dass einer der Gründer eines »Sozialdemokratischen Jugendzentrums«, Mark Lewin, nach mehr als 30 Jahren Lagerhaft und Verbannung in seine Geburtsstadt Leningrad zurück gekehrt war. Lewin wurde sein politischer Ziehvater. Arsenij Roginskij bekam durch ihn Kontakt zu vielen politisch Verfolgten der Stalinzeit und begann, was er sein ganzes Leben nicht mehr lassen sollte: das Sammeln von Informationen über politische Verfolgung in der Sowjetunion.

Ab 1975 veröffentlichte Arsenij Roginskij Ergebnisse seiner Arbeit im Samisdat-Sammelband »Pamjat«, dessen Herausgeber er faktisch wurde. Wie bei vielen anderen Dissidenten jener Zeit, ließ die Aufmerksamkeit des KGB nicht auf sich warten. 1979 wurde Roginskijs Wohnung in Leningrad durchsucht. Eine deutliche Warnung. Im Frühjahr 1981 dann bedeutete ihm der Geheimdienst, dass es besser sein könne, das Land zu verlassen. Arsenij Roginskij entschied sich, nicht zu emigrieren (was ein Verlassen des Landes unweigerlich bedeutet hätte, wie viele andere Beispiele deutlich zeigten). Daraufhin wurde er verhaftet und wegen angeblicher »Dokumentenfälschung« zu vier Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt. Seine letzten Worte vor Gericht, ein, ich fürchte dieses große Wort nicht, Neugründungsmanifest einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden sowjetischen (oder wohl besser: russischen) Geschichtsschreibung, wurde kurze Zeit später in der in Paris erscheinenden Zeitung »Russkaja Mysl« unter der Überschrift »Die Lage des Historikers in der Sowjetunion« veröffentlicht.

Die Lagererfahrung veränderte Roginskijs Leben zwar nicht grundsätzlich, blieb aber ein wichtiges, um nicht zu sagen fundamentales Erlebnis, das ihn eng mit dem verband, was man das »echte Leben« in Russland nennen könnte. Sie enthob ihn der Versuchung, sich in dem einzurichten, was in Russland unübersetzbar »Intelligenzija« genannt wird. Roginskij selbst berichtete später darüber so: »Ich wusste mehr als alle anderen über den Gulag, als ich verhaftet wurde. Aber als ich in die Zelle kam, merkte ich, dass ich überhaupt nichts weiß. (…) Das Verhalten den Wächtern und der Gefängnisverwaltung gegenüber ist das Einfachste. (…) Aber ich habe mich in einer riesigen Verbrecherwelt wieder gefunden mit dem Namen Russland.« Und weiter: Solschenizyn und Schalamow, die er vor seiner Haft natürlich gelesene hatte, hätten den Gulag zwar in all seiner Schrecklichkeit beschrieben. Aber das habe nicht darauf vorbereitet zu wissen, »wie man zu stehen, zu sitzen, zu sprechen hat«.

Im Unterschied zu den meisten anderen Dissidenten war Arsenij Roginskij nicht aufgrund eines »politischen« Paragraphen verurteilt worden. Entsprechend wurde er auch nicht zusammen mit anderen Dissidenten in Lagern gehalten, sondern war in der von ihm so bezeichneten »Verbrecherwelt« auf sich selbst gestellt. Als »schwieriger« Gefangener, der sich nicht nur für seine Rechte, sondern auch für die Rechte von Mitgefangenen einsetzte, wurde er mehrfach verlegt. Fünf Lager in vier Jahren waren die Folge.

Während der Zeit im Lager starben Breschnjew, Andropow und Tschernjenko. Als Arsenij Roginskij im Sommer 1985 entlassen wurde, war bereits Michail Gorbatschow KPdSU-Generalsekretär. Erneut in Freiheit (eine übliche Phrase, die aber in diesem Fall nicht wirklich zutrifft) setzt er seine Arbeit dort fort, wo er sie hatte unterbrechen müssen. Die Zeiten änderten sich schnell. Nach dem Tod Anatolij Martschenkos am 8. Dezember 1986 nach 117 Tagen Hungerstreik für die Freilassung aller politischen Gefangenen in der Sowjetunion im Gefängnis der Kleinstadt Tschistopol in Tatarstan, beginnt genau das, was Martschenko gefordert hatte.

An der Gründung Memorials im Januar 1989 war Arsenij Roginskij bereits führend beteiligt, auch wenn er mehr im Hintergrund agierte. In den frühen 1990er Jahren, in denen vor allem der 1990 relativ frei gewählte Oberste Sowjet eine große Rolle spielte, beschäftigt er sich vor allem mit zwei Dingen: der Verabschiedung einer Gefängnisreform und eines Gesetzes zur Rehabilitierung politisch Verfolgter. Bei der Formulierung beider Gesetze spielte er nach Aussage anderer Beteiligter, als, wie man heute so sagt, »Experte« (der er ja tatsächlich sogar in einem emphatischen Sinne war) eine führende Rolle.

Die Gefängnisreform führte auch dazu, dass ich Arsenij Roginskij kennenlernte. Seltsam ist, dass ich mich nicht genau daran erinnern kann. Das war 1991 in Köln in der Heinrich Böll Stiftung. Arsenij Roginskij war, zusammen mit Jelena Schemkowa und Oleg Orlow auf Einladung der Stiftung nach Deutschland gekommen, um auf einer »Gefängnistour« durch Nordrhein-Westfälische Strafanstalten den deutschen Strafvollzug kennenzulernen. Ich war ein beginnender Journalist, Anfang 30, Freund der Heinrich Böll Stiftung und machte eine Radioreportage über die sogenannten »Ostarbeiter«. Das Interview dazu gab mir Jelena Schemkowa. An Arsenij Roginskij kann ich mich nicht erinnern. Das ist komisch. Denn er muss auch damals bereits der Kopf des Ganzen gewesen sein.

Andererseits passt das aber auch. Denn einer der ersten Dinge, die mir an Arsenij Roginskij aufgefallen sind, später dann schon in Moskau bei Memorial, ist, dass er gern im Hintergrund blieb. Arsenij Roginskij führte nach innen und nach außen vor allem durch Autorität, Wissen und Geschick. Dieser Führungsstil scheint mir aus tiefer Erfahrung zu kommen. Aus der Erfahrung der Dissidentenzeit ebenso wie aus der existenziellen Erfahrung im Lager. Dieser Stil (wenn man das überhaupt »Stil« nennen kann) hatte bei Roginskij aber nicht nur praktische Gründe. Er entsprang auch einer tiefen demokratischen Überzeugung und Respekt vor jedem einzelnen Menschen.

Soweit ich das verstehe, ist auch die heutige, demokratische innere Struktur von Memorial ein Produkt dieser durch und durch demokratischen Haltung Arsenijs (wie selbstverständlich auch vieler anderer Freundinnen und Freunde dort). Sie macht Memorial, neben der unermüdlichen und professionellen inhaltlichen Arbeit gleichzeitig beweglich und stabil. Besser noch: Diese innere Lebendigkeit und mitunter auch Widersprüchlichkeit ist eine der wichtigsten Bedingungen der Stabilität von Memorial.

Die Arbeit bei und mit Memorial als Nichtregierungsorganisation spielt hier auch eine große Rolle. Spätestens ab 1993 mit der von Präsident Jelzin befohlenen Beschießung des Parlaments in Moskau und dem im Dezember 1994 beginnenden Tschetschenienkrieg, waren die Flitterwochen zwischen den neuen NGOs und dem (ebenfalls neuen) russischen Staat schon wieder vorbei. Es folgte, was ich die zweite und dritte Politisierung von Arsenij Roginskij nennen möchte (wobei damit nicht in Abrede gestellt, sondern eher unterstrichen werden soll, dass er fraglos bereits vorher ein höchst politischer und strategischer Denker und vor allem Akteur gewesen ist).

Die, ich bleibe bei dieser Formulierung, »zweite Politisierung« hing eng mit der bereits erwähnten Entfremdung von der Jelzin-Präsidentschaft zusammen. Sie hatte drei Etappen: die Parlamentsbeschießung, den Tschetschenienkrieg und die Präsidentenwahlen 1996. In all diesen Fällen fand sich Arsenij Roginskij in scharfer Opposition zum nun formal demokratischen russischen Staat wieder. In allen drei Fällen stellte sich die Frage nach dem Verhältnis von ethischer Integrität und politischer Opportunität. Das Politische in Roginskij drückte sich auch darin aus, dass er (und nicht zuletzt unter seinem Einfluss auch Memorial) in allen drei Fällen unterschiedliche Antworten gab: Im ersten Fall eine Verurteilung der Methoden (Beschießung, Bürgerkrieg in Moskau) des Staates bei gleichzeitiger Kritik der Parlamentsputschisten. Im Tschetschenienkrieg harte und grundsätzliche Kritik des Staates. Bei den Präsidentenwahlen ein schwieriges Abwägen des Für und Wider und ein Aufruf für Boris Jelzin zu stimmen, um eine Wiederkehr der Kommunisten an die Macht zu verhindern. Immer aber, und das ist wesentlich, war es für Arsenij Roginskij außerordentlich wichtig, die eigene Position und den Weg zu ihr öffentlich zu diskutieren und zu erklären.

Ich habe schon in diesen 1990er Jahren viele NGO-Leute in Russland, darunter auch Arsenij Roginskij, damit genervt, dass sie »politische Arbeit« machen würden. Das wurde immer heftig abgewehrt. »Politische Arbeit« galt in NGO-Kreisen als dreckig, unmoralisch und gefährlich. Das änderte sich zum Ende des Jahrzehnts als die Politik die NGOs einholte. Unter dem neuen Präsidenten Putin wurden NGOs schnell zu einer der Gruppen, die sich dem Staat unterzuordnen haben, wollten sie keinen Ärger bekommen. Die bisherige »Politikferne« der NGOs war nun naiv und sogar gefährlich geworden.

Arsenij Roginskij erkannte das als einer der ersten. Zusammen mit anderen begann er rasch die Verteidigung der russischen NGOs zu organisieren – und zwar praktisch ebenso wie symbolisch, also wieder politisch. Erster wichtiger symbolischer Ausdruck dieser Veränderungen war die im Herbst 2000 verabschiedete, öffentlich nicht sehr bekannte sogenannte »Woskresensker Konvention«. In diesem von zahlreichen Partnerorganisationen der Heinrich Böll Stiftung und Einzelpersonen unterschriebenen Papier versicherten sich, soweit ich weiß erstmals in Russland, NGOs aus unterschiedlichen inhaltlichen Bereichen, Ökologen und Menschenrechtler, Frauengruppen und Verbraucherschützer ausdrücklich und öffentlich Solidarität gegen mögliche staatliche Angriffe. Die Idee zu diesem demonstrativen Akt von Solidarität stammte von Arsenij Roginskij. Sie ist ein anschauliches Beispiel in welch praktischen Kategorien er dachte und welchen Stellenwert er dem Aufbau von horizontalen Strukturen und Vertrauen gab.

Wichtigster praktischer Ausdruck dieser (für Russland) neuen NGO-Solidarität war die etwa zeitgleich gegründete »Narodnaja Assambleja«, ein Runder Tisch bekannter russischer NGO-Leute. Der Kreml erkannte die Narodnaja Assambleja sehr schnell de facto als Verhandlungspartnerin in zivilgesellschaftlichen Angelegenheiten an. Die persönliche Autorität von Arsenij Roginskij wie einiger weniger andere Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Narodnaja Assambleja spielten dabei eine entscheidende Rolle. Auf diese Weise wurden in Russland, mit Roginskijs führender Hilfe, einerseits NGOs de facto als politische Subjekte etabliert und sich anderseits dieser Rolle auch selbst gewahr.

Doch all das war ihm wichtig, wenn auch eher Beiwerk. Eine kleine Dankesrede nach Gratulationen und Geschenken zu seinem 70. Geburtstag am 30. März 2016 begann er mit dem Bekenntnis, sein Leben teile sich in zwei Stücke, allerlei Kleinigkeiten wie die Dissidentenzeit, das Lager, verschiedene Artikel und Veröffentlichungen und wissenschaftliche Arbeit einerseits und einer großen, wirklich wichtigen Sache, nämlich Memorial. Es ist nicht zuletzt seine persönliche Autorität und Integrität (vom Ideenreichtum und der ideologischen Unterfütterung der Arbeit von Memorial nicht zu reden), die Memorial in der russischen Gesellschaft zu der Instanz in Fragen der totalitären Vergangenheit Russlands gemacht hat. Selbst der russische Staat rechnete damit und hat damit zu rechnen. Ohne Memorials, eher wohl noch ohne Arsenij Roginskijs persönlichen Segen haftet Initiativen auf diesem Gebiet der Ruch des Unechten an. Ob sich das nach seinem Tod ändert, werden wir sehen.

Neben seinem unzweifelhaften Wissen und seiner scharfen Intelligenz lag der weitreichende Einfluss von Arsenij Roginskij vielleicht noch an einer anderen, durchaus raren Eigenschaft, seiner großen Integrität. Denn das ist wohl mit das Schwierigste heute in Russland: Ich kennen viele Menschen, die Arsenij Roginskij nicht mochten, ihn als Gegner, ja vielleicht gar als Feind betrachteten. Aber niemand bezweifelte seine Aufrichtigkeit.

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