Nawalnyjs Aufstieg
Mit seiner Ankündigung vom Dezember 2016, an den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 teilzunehmen, unterstrich Alexey Nawalnyj seinen Führungsanspruch innerhalb der außerparlamentarischen Opposition. Nawalnyj begann seine politische Laufbahn als Aktivist und Kampagnenstratege der Moskauer Jabloko-Partei, wo er schnell Karriere machte. Im Jahr 2007 schloss ihn die Partei dann jedoch aus, offiziell aufgrund seiner nationalistischen Positionen. Nawalnyj selbst erklärte seitdem stets, der wahre Grund sei seine harsche Kritik am damaligen Parteichef Grigorij Jawlinskij gewesen. Danach gründete er allerdings die Organisation »Das Volk« (NAROD), die sich selbst als »nationaldemokratisch« einstufte und vorgab, die Interessen ethnischer Russen zu vertreten, sich dabei aber rhetorisch von Neonazis abgrenzte und mit anderen demokratischen Oppositionsgruppen zusammenarbeitete. Und obgleich er seine nationalistische Rhetorik aus seiner Kampagne vollständig verbannt hat, erinnern sich manche Liberale und Linke noch sehr genau an seine Teilnahmen bei den »Russischen Märschen« bis ins Jahr 2011 und die nationalistischen Positionen in seinem Blog. Bei den Online-Wahlen im Jahr 2012 zum Koordinationsrat der Opposition, einem kurzlebigen Versuch, die Bolotnaja-Proteste zu institutionalisieren, erhielt Nawalnyj die meisten Stimmen von allen 209 Kandidaten. Erst mit seiner effektiven Kampagne bei den Bürgermeisterwahlen von Moskau im Jahr 2013, bei denen er (offiziell) 27 Prozent der Stimmen erhielt und den Kreml-Kandidaten Sergej Sobjanin beinahe in die Stichwahl zwang, konnte sich Nawalnyj dann als wichtigster Herausforderer der aktuellen Machtverteilung etablieren.
Parallel zu seiner politischen Karriere entwickelte sich Nawalnyj zum berühmtesten Antikorruptionsaktivisten des Landes. Als Kleinaktionär bei mehreren Energie- und anderen Konzernen hat er Zugang zu internen Dokumenten. Zusammen mit öffentlich zugänglichen Datenbanken bilden diese die Basis für seine umfangreichen Recherchen zu Korruption hochrangiger Personen in Wirtschaft und Staat. Gemeinsam mit einem Team aus IT-Spitzenkräften und kompetenten Juristen entwickelte Nawalnyj außerdem Online-Mechanismen zur Aufdeckung von Korruption im Alltagsleben der Bürger des ganzen Landes. Die Ergebnisse dieser Arbeit werden in stylishen (und höchst sarkastischen) Videoclips präsentiert, die in den sozialen Medien nicht selten enorme Klickzahlen erreichen. Sein bisher erfolgreichstes Material, ein 45-minütiger Film über mutmaßliche Korruption des Ministerpräsidenten Dmitrij Medwedew, ist bisher knapp 26 Millionen mal aufgerufen worden. In der Tat sind die sozialen Medien für Nawalnyj, der in den staatlich kontrollierten Massenmedien nur in Schmutzkampagnen auftaucht, und mit dem kein Angehöriger der politischen Führung zu debattieren bereit ist, das wichtigste Instrument zur Kommunikation mit der Wählerschaft.
Choschdenie w narod – Die regionale Kampagne
Ebenso zentral für Nawalnyjs Bestrebungen, seine Popularität im Land zu steigern, ist jedoch der Aufbau eines regionalen Unterstützernetzwerks. Bevor die Zentrale Wahlkommission am 25. Dezember entschied, ihn wegen seiner Vorstrafen nicht zur Wahl zuzulassen, war das Ziel der Kampagne, die hohen formalen Hürden für eine Registrierung als unabhängiger Kandidat zu überwinden. 300.000 Unterschriften aus mindestens 40 Regionen müssen gesammelt werden, dabei dürfen es pro Region höchstens 7.500 sein. Die Unterschriften können erst gesammelt werden, wenn die Wahlen offiziell angesetzt worden sind, was wiederum nicht früher als 100 Tage vor dem vorgesehenen Wahltermin am 18. März 2018 geschehen kann. Die Unterschriften müssen außerdem bereits 45 Tage vor dem Wahltag eingereicht werden. In dem verbleibenden Zeitfenster von 55 Tagen, in das außerdem noch die langen Neujahrsfeierlichkeiten fallen, ist es kaum möglich, eine wirksame Kampagne auf die Beine zu stellen. Diese Regelungen sind Teil einer größeren Strategie, die im elektoralen Autoritarismus häufig zur Anwendung kommt: Wahlen sind zwar das wichtigste Instrument zur Besetzung politischer Ämter, ihre Regeln aber werden in einer Weise gestaltet, die das jeweils aktuelle Machtarrangement stützt.
Die Kampagne Nawalnyjs ist mit dieser strukturellen Benachteiligung stets offensiv umgegangen und hat versucht, ihr Unterstützernetzwerk bereits vor dem Start der Unterschriftensammlung aufzubauen. Seit Februar 2017 hat das Team um Nawalnyj daher im ganzen Land Büros eröffnet – mit dem Ziel in 77 der offiziell 85 russischen Regionen präsent zu sein. In jeder Region zahlt die Kampagne drei bis vier Mitarbeitern Gehälter. Dieser feste Kern rekrutiert Freiwillige für den Wahlkampf – auf der Straße und online – und sammelte bis Dezember die Daten von Bürgern, die bereit waren für die Registrierung von Nawalnyj ihre Unterschrift zu leisten. Nach eigenen Angaben der Nawalnyj-Kampagne haben bisher 700.000 Menschen ein solches Versprechen abgegeben.
Strukturelle Hindernisse als diskursive Vorteile
Mit seiner Kampagne versucht Nawalnyj, das Beste aus den bestehenden Bedingungen zu machen. Wenngleich die Regeln unwillkommene Kandidaten von den Wahlen fernhalten sollen, so motivieren sie, wenn man sie ernst nimmt, dazu, die Wähler intensiv zu umwerben: Freiwillige müssen für die tägliche Mobilisierungsarbeit gefunden werden und Bürger müssen davon überzeugt werden, für die Registrierung ihre persönlichen Daten preiszugeben. Zudem demonstriert eine breite Unterstützerbasis Volksnähe. Denn obwohl Nawalnyjs Kampagne für ein liberales, digitalisiertes und unternehmerisches Russland steht, hat sie stets vermieden, elitär zu wirken – ein Stigma, das noch immer den Rückhalt liberaler Kandidaten in der russischen Bevölkerung untergräbt. Daher rührt die strategische Bedeutung einer Basis außerhalb Moskaus ebenso wie der stetige Hinweis auf Crowdfunding als einzige Finanzierungsquelle. (Wenngleich die Kampagne keine Angaben zu Spendern macht – sicher auch um sie vor Repression zu schützen – so ist dem Autor aus Gesprächen mit der Kampagne nahestehenden Personen bekannt, dass finanzielle Unterstützung nicht ausschließlich von Kleinspendern fließt, sondern auch von kleinen und mittleren Unternehmen.)
Doch trotz – oder vielleicht gerade wegen – der enormen Anstrengungen, die in die Kampagne geflossen sind, darf Nawalnyj nicht kandidieren. Dies entschied die Zentrale Wahlkommission am 25. Dezember 2017. Im Februar wurde er im so genannten »Kirowles«-Fall wegen Betrugs zu einer fünfjährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Da die ihm vorgeworfene Straftat als »schwer« eingestuft wurde, verbietet das Wahlgesetz ihm die Kandidatur. Bis zuletzt hatte es jedoch für ihn die Hoffnung gegeben, dass entweder das Oberste Gericht das Urteil aufhebt (wie in diesem Fall bereits einmal geschehen – infolge einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei einem gleichlautenden ersten Urteil), oder dass die Wahlkommission sich Nawalnyjs Interpretation der Rechtslage anschließt und die Verfassung, die einen Ausschluss vom passiven Wahlrecht nur für Häftlinge vorsieht, über das Wahlgesetz stellt.
Dass beide Szenarien mehr als unwahrscheinlich waren, ist Nawalnyj sicher bewusst gewesen. Doch ein Ausschluss von der Kandidatur lässt sich in die PR-Strategie der Kampagne relativ leicht integrieren. Denn diese ist es, strukturelle Hindernisse in diskursive Vorteile zu verwandeln. Der Versuch, eine (nach den Standards westlicher Demokratien) gewöhnliche Wahlkampagne unter höchst widrigen Bedingungen zu führen, unterstreicht eine der zentralen Botschaften Nawalnyjs: Die Forderung nach »Normalität«. Die Kampagne nutzt daher die Umgebung, in der sie arbeitet, als Framing-Ressource: dem Staat als brutaler und inkompetenter Leviathan wird permanent das Bild eines modernen, effizienten Institutionengefüges gegenübergestellt, das von der Kampagne symbolisiert wird.
Dazu gehört, jeden Fall von Repression sofort in einen Gegenangriff zu verwandeln. Jede Gerichtsverhandlung wird für Nawalnyj zur Bühne für politische Reden. In seinem letzten Wort als Angeklagter im Kirowles-Fall, das später veröffentlicht wurde, wandte sich Nawalnyj unmittelbar an die Richter, den Staatsanwalt und sogar einen Gerichtsdiener und erklärte, sie alle könnten erheblich besser leben, wenn sie ihre Unterstützung einem Regime verweigerten, das nur für die oberen paar Tausend wirklich funktioniere. Bei der Sitzung der Zentralen Wahlkommission im Dezember, bei der Nawalnyj anwesend war, lieferte er sich ein medial vielbeachtetes verbales Scharmützel mit der Vorsitzenden Ella Pamfilowa. Und auch die zahlreichen Nadelstiche gegen die Kampagne in den Regionen (von lokalen Demonstrationsverboten über Durchsuchungen der Büros, so genannten »administrativen Arresten« für Mitarbeiter bis hin zu einigen Strafprozessen) werden in den sozialen Medien gepostet und kommentiert – hämisch oder anklagend, je nach Schwere der Repression.
Politik durch Protest
Am 26. März und am 12. Juni 2017 organisierte die Kampagne landesweit die größten Demonstrationen seit den Bolotnaja-Protesten 2011/2012. Die Anti-Korruptionsbotschaft stand dabei im Vordergrund, sodass sich auch Menschen anschließen konnten, die Nawalnyj als Politiker nicht unterstützen. Es kamen mehrheitlich junge Menschen, Schüler und Studenten, insgesamt Zehntausende, und die Antwort folgte prompt: am 12. Juni wurden über 1000 Menschen festgenommen, 700 davon in Moskau, wo Nawalnyj in letzter Minute den Ablauf änderte und seine Anhänger aufrief, sich unter die Teilnehmer eines Volksfestes im Stadtzentrum zu mischen – entgegen den Vereinbarungen mit den Behörden. Nawalnyj begründete den Schritt damit, dass keine Firma in der Stadt bereit gewesen sei, seinem Team für die angemeldete Demonstration eine Soundanlage zu vermieten. Dahinter stand aber möglicherweise auch der Plan, Festnahmen zu provozieren, und damit erneut Symbolbilder für den gerechten Kampf gegen das Regime zu erzeugen.
Diese Strategie zeigte sich zunächst auch in den Regionen. Zwischen September und Dezember 2017 sollten landesweit insgesamt 50 Demonstrationen stattfinden, die die Kampagne mit demonstrativer Naivität als »Treffen des Präsidentschaftskandidaten mit seinen Wählern« bezeichnete. Diese boten Gelegenheit, auch ältere Wählerschichten anzusprechen, die nicht durch die Kampagnen in sozialen Medien erreicht werden. Nach den ersten beiden Wochenenden, an denen Nawalnyj unter anderem eine Demonstration in Jekaterinburg mit mehreren Tausend Teilnehmern abhielt, begannen die lokalen Behörden allerorten, die Anträge der Kampagne abzulehnen. Laut Versammlungsgesetz müssen Demonstrationen angemeldet werden. Die Behörden haben aber lediglich das Recht, Veranstaltungen am selben Tag auf eine andere Uhrzeit zu verschieben oder an einen anderen Ort zu verlegen. Weder dürfen sie Anträge grundsätzlich ablehnen, noch auf andere Tage verschieben. Beides geschah aber zuhauf. Unter Bezugnahme auf das Gesetz kündigte Kampagnenchef Leonid Wolkow an, solche Fälle als gesetzeswidrig anzusehen und damit die betreffende Demonstration als angemeldet zu betrachten. Wenige Tage nach dieser Ankündigung wurden Nawalnyj und Wolkow wegen des Aufrufs zu unangemeldeten Demonstrationen festgenommen und zu je 20 Tagen Haft verurteilt.
Zwar gelang es, einige Ablehnungen der Behörden erfolgreich gerichtlich anzufechten (wodurch ihre Illegalität bestätigt wurde), doch änderten die Kampagnenstrategen nach Nawalnyjs und Wolkows Freilassung die Taktik: Zusätzlich zu hunderten weiteren Behördenanfragen (die weiterhin abgelehnt wurden), suchten sie nun private Gelände – etwa Parkplätze oder große Hallen – wo für öffentliche Veranstaltung keine Absprachen mit Staatsorganen erforderlich sind. Warum die Kampagne auf diese weniger konfrontative Vorgehensweise umschwenkte, ist unklar. Möglicherweise waren die organisationalen und diskursiven Kosten höher als vermutet: Gerichtsverfahren und Arreste binden Kräfte, und (nicht-oppositionelle) regionale Medien vertrauen im Zweifel eher auf das Urteil der lokalen Behörden als auf die Aussagen der Kampagne. Vielleicht wollte man vermeiden, Berichte über »illegale Demonstrationen« der Anhänger Nawalnyjs zu lesen – selbst wenn diese nach dem Buchstaben des Gesetzes legal waren.
Struktur und Programm als Balanceakt
Hinter der Strategie der Kampagne steckt Leonid Wolkow, ein Programmierer, ehemaliger Unternehmer und liberaler Aktivist mit lokalpolitischer Erfahrung aus Jekaterinburg. Viele Mitarbeiter und Aktivisten schätzen Wolkow wegen seines evidenten Organisationstalents. Doch kommt die beeindruckende Effizienz der Kampagne zum Preis strikter Hierarchien und klarer Arbeitsteilung. Bis Ende Dezember mussten die regionalen Zweigstellen regelmäßig harte Zahlen zu rekrutierten Freiwilligen und gesammelten Unterschriften an die Zentrale liefern. In einigen Fällen wurden Mitarbeiter wegen ineffizienter Arbeit entlassen. Diese Strenge erstaunte viele Beteiligte, doch sind keine Fälle von Widerstand bekannt. Es leuchtet ein, dass schnelle und effektive Befehlsketten notwendig sind, wenn man es mit einem staatlichen Gegner zu tun hat, der ein Vielfaches an Ressourcen aufzubieten hat und nicht zögert, sie einzusetzen. Und doch liegen diejenigen Kritiker, die Nawalnyj einen autoritären Führungsstil bescheinigen und die Kampagne eher mit einem Unternehmen als mit einer Bewegung vergleichen, sicher nicht ganz falsch.
Einen Preis haben auch Nawalnyjs Bemühungen, gleichermaßen Wähler links und rechts der politischen Mitte sowie unpolitische Kreise anzusprechen. Sein Programm (das ohne formale Beteiligung seiner Grass-Roots-Aktivisten zustande kam) legte Nawalnyj erst im Dezember vor. Es ist detaillierter als die sechs vagen Thesen, die fast über die gesamte Dauer der Kampagne die programmatische Basis bildeten, doch noch immer ist es Stückwerk, und bietet Angriffsfläche von vielen Seiten. Linke fürchten eine Rückkehr des Marktradikalismus angesichts der Ankündigung, alle Steuern für kleine Unternehmen abzuschaffen, während Liberale sich kaum für die erhöhten Ausgaben in Bildung und Soziales oder die Anhebung des Mindestlohns auf 25.000 Rubel (zum aktuellen Wechselkurs gut 350 Euro) pro Monat erwärmen können. Doch Nawalnyjs Forderung nach »Normalität« könnte in diesem Spannungsfeld tatsächlich einen gemeinsamen Nenner abgeben, mit dem die demokratisch orientierten Lager (zumindest zeitweise) versöhnt und auch politisch Uninteressierte eingebunden werden können: Eine »normale« Regierung, die in Bildung und Infrastruktur investiert, ein »normaler« Staat mit funktionierenden Institutionen, die politische Freiheiten und Bürgerrechte respektieren, und eine »normale« Marktwirtschaft, wo Profite nicht zuerst in den Taschen ranghoher Staatsdiener und dann in Offshore-Steueroasen verschwinden. All das mag wenig elektrisierend klingen. Aber dieser Zentrismus, zusammen mit Nawalnyjs hartnäckigen Attacken auf Großunternehmer (»Oligarchen«), macht es schwer, Nawalnyj als einen der vollständig diskreditierten Reformer der 1990er Jahre abzustempeln. Und auch seine Aussagen zur Außenpolitik sind vorsichtiger als die von so manch anderem Liberalen: er verurteilt Russlands Intervention im Donbass, doch v. a. mit strategischen, weniger mit moralischen Argumenten, und er stellt sich nicht vollständig gegen die Annexion der Krim. Stattdessen fordert er ein zweites, »normales« Referendum, das internationalen demokratischen Standards genügt.
Die Mischung aus liberalen und linken Programmelementen und seine charismatische, gebieterische Erscheinung machen Nawalnyj zu einem Politiker, der Putin stellenweise nicht unähnlich ist. Wo inhaltliche Differenzen bestehen, unterstreicht er sie jedoch aggressiv: die Pläne, eine umfassende Reform zur Korruptionsbekämpfung zu entwickeln, die Justiz politisch unabhängig zu machen und den politischen Wettbewerb zu liberalisieren – all das sind stets wiederkehrende Elemente in seinen Reden und Videobotschaften. Diese Punkte zu unterstreichen ist wichtig. Doch ebenso wichtig ist es für Nawalnyjs langfristigen Erfolg, das Vertrauen der Bevölkerung in Putin als Person zu untergraben. Und so senden die Enthüllungsvideos über Korruption in Putins Führungszirkel ein ums andere Mal dieselbe Botschaft: Wenn Putin diese Exzesse toleriert, verdient er nicht die Unterstützung der Bevölkerung – ganz unabhängig von seinen politischen Zielen.
Schluss und Ausblick
Bis zu seinem Ausschluss von den Wahlen hat Alexey Nawalnyjs Kampagne versucht, das Beste aus den Regeln und Praktiken des elektoralen Autoritarismus zu machen. Sie nutzte jede Gelegenheit, die der Staat zur Wahrung einer demokratisch-rechtsstaatlichen Fassade gewähren muss – und provozierte ihn, die Grenze zur rechtslosen Repression medienwirksam zu überschreiten. Sollte es beabsichtigt gewesen sein, auf diese Weise genügend Druck zu entfalten, dass eine Zulassung zu den Wahlen für das Regime das kleinere Übel gewesen wäre, so ist der Plan nicht aufgegangen. Der Staat, der seine Instrumente im Interesse der politischen Führung einsetzt, hat mit der Nichtzulassung erneut die Grenzen deutlich gemacht.
Die Kampagne hat nun das Ziel des aktiven Wahlboykotts, des »Wählerstreiks« ausgerufen, um die Wahlbeteiligung möglichst niedrig zu halten und so die Wahlen, bei denen es ohne Nawalnyj keine echte Konkurrenz gebe, zu diskreditieren. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Strategie einen merklichen Effekt haben wird – auch angesichts der Kandidatur Xenia Sobtschaks, die sicher einige Wähler aus Nawalnyjs Zielgruppe motivieren wird, für sie zu stimmen. Doch mit Nawalnyj wird weiter zu rechnen sein. Nicht zuletzt die ästhetische und inhaltliche Ausrichtung der Kampagne auf die Jugend des Landes lässt darauf schließen, dass Nawalnyj seine politische Plattform und seine Anhängerschaft langfristig aufbauen und kultivieren will – und darauf wartet, dass seine Zeit kommt. Mit seiner regionalen Kampagne ist es ihm bereits gelungen, die oppositionellen Strukturen in der Provinz zu bündeln und eine große Zahl junger Menschen für Politik zu interessieren. Ob beabsichtigt oder nicht: die gemeinsame Kampagnenarbeit ermöglicht es, wichtige Erfahrungen kollektiven Handelns zu sammeln, der Kontakt mit echter Repression schafft zudem Solidarität. Die so politisierten Gruppen könnten in Zukunft noch einmal wichtig werden, ob mit oder ohne Nawalnyj.