Die alljährliche Botschaft an die Föderalversammlung
Die Vorbereitung und der Rahmen der diesjährigen »Botschaft an die Föderalversammlung« waren in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Sie wurde – nach wiederholter Verschiebung –erst auf den 1. März terminiert und nicht – wie seit 2008 üblich – auf ein Datum im November oder Dezember. Putin hielt seine Rede nicht wie bisher im Kremlpalast, sondern im Manegensaal, in dem mehr Leute Platz finden, und der auch mehr technische Möglichkeiten bot. Die Botschaft selbst war mit 117 Minuten um 49 Minuten länger als im Vorjahr, und wurde zudem erstmals durch PowerPoint-Graphiken und Videos unterstützt. Inhaltlich überraschte die »Botschaft« durch den großen Zeitanteil – 42 Minuten –, die sie der strategischen Nuklearrüstung widmete.
Im Kern waren es eigentlich zwei »Botschaften«, die der Präsident vortrug: zunächst eine konventionelle, in der er 75 Minuten Fragen der Innen-, Sozial- und Wirtschaftspolitik behandelte, und danach eine 42 Minuten lange zweite »Botschaft«, die sich ausschließlich mit neuen russischen nuklearstrategischen Fähigkeiten befasste. Die beiden Teile fielen in Stil und Inhalt auseinander und hatten wohl auch unterschiedliche Adressaten: Die erste »Botschaft« richtete sich nach innen und orientierte sich an der eigentlichen Aufgabe der Veranstaltung, der Berichterstattung des Präsidenten vor den beiden Kammern des Parlaments. Die zweite sollte einerseits in der Bevölkerung den Stolz auf die militärische Leistungsfähigkeit des eigenen Landes verstärken, andererseits dem Ausland, insbesondere der Führung in Washington, signalisieren, dass Russland den Anspruch erhebt, als Nuklearmacht auf Augenhöhe mit den USA akzeptiert zu werden.
Die Entstehung der »Botschaft«
Die Vorbereitung der »Botschaft« für das Jahr 2017 gestaltete sich offenbar schwieriger als in den Vorjahren. Mitte November wurde bekannt, dass sie nicht mehr vor Jahresende stattfinden sollte, sondern in das nächste Jahr verschoben wurde. Zunächst war vom 8. Februar 2018 die Rede, dann meldete die Zeitung »Kommersant«, der Termin sei der 27. Februar, bis schließlich klar wurde, dass die Veranstaltung für den 1. März angesetzt war.
Naturgemäß fragt man sich nach den Ursachen für die mehrfache Verschiebung. Der Wunsch des Wahlkampfstabes der Präsidialadministration, die »Botschaft« in die Wahlkampagne für Putin einzubinden, erscheint als ein plausibles Motiv für die Terminänderung. Das würde allerdings nur erklären, warum die »Botschaft« nicht im Dezember 2017 vorgetragen wurde, sondern zwei Monate später, in der Nähe des Wahltermins. Die Unsicherheiten bei der Festlegung des konkreten Termins können damit nicht begründet werden.
Im Nachhinein bietet sich eine andere Erklärung an. Es ist üblich, dass bei der Vorbereitung der »Botschaft« die Ministerien und die Fachabteilungen der Präsidialadministration Textabschnitte vorbereiten und sich auch dafür einsetzen, dass Themen, die ihnen wichtig sind, in die »Botschaft« aufgenommen werden. Das ist ein eingespielter Prozess und es ist davon auszugehen, dass der Redevorwurf auch diesmal rechtzeitig vorbereitet worden ist.
Der Unsicherheitsfaktor kommt durch den zweiten Teil der Botschaft hinzu: Diese Abschnitte mit ihren aufwendigen Computersimulationen hat es so bisher nicht gegeben, und sie bedurften einer längeren Vorbereitung, und nach Vorlage der Videos wahrscheinlich auch einer komplizierten Sicherheitsfreigabe. Man kann wohl auch mit Fug annehmen, dass nicht alle Institutionen und Personen, die in die Vorbereitung der Rede eingebunden waren, die Verschiebung des Schwerpunktes auf das Rüstungsthema begrüßten, das von den relevanten ökonomischen und sozialen Sachfragen ablenkte. Interne Diskussionen bei der Vorbereitung der »Botschaft« könnten die Schwankungen bei der Terminfindung erklären.
Es fällt auch auf, dass im Vorfeld – soweit zu überblicken – in den Medien nicht thematisiert wurde, dass nuklearstrategische Aufrüstung ein wesentlicher Punkt der Rede sein werde. Es wurde darüber spekuliert, dass sich der Präsident zur Rolle der Wissenschaft äußern und sich zugunsten größerer Freiräumen für Unternehmer aussprechen werde. Es wurde auch erwartet, dass er Zielvorgaben für die kommende Amtszeit machen würde, etwa im Sinne der (bislang bestenfalls dürftig umgesetzten) »Mai-Erlasse« des Jahres 2012, in denen Putin u. a. Garantien für Einkommenssteigerungen und den Ausbau der sozialen Sicherungen verkündet hatte.
Die Journalisten beriefen sich auf »Quellen« aus den Ministerien und Fachabteilungen, die mit der Vorbereitung der »Botschaft« befasst waren. Niemand von ihnen erwähnte einen Rüstungsschwerpunkt. Man muss daher annehmen, dass dieser Teil der Präsentation in anderen Teilen des Apparats formuliert worden ist, die dann auch durchsetzen konnten, dass die nuklearstrategische Rüstung ein zeitliches und optisches Übergewicht in der Rede erhielt. Das würde darauf hindeuten, dass Befürworter einer Demonstration militärischer Stärke erheblichen Einfluss auf das Auftreten des Präsidenten haben nehmen können.
Der »Botschaft« erster Teil: Zurück zu Medwedew
Präsident Putin leitete den ersten Teil seiner »Botschaft« mit der Feststellung ein, dass sich Russland an einem Wendepunkt befinde, und dass jeder Schritt das »Schicksal unseres Landes« auf Jahrzehnte hinaus bestimme. Das Streben nach Zukunft, »das Amalgan aus Tradition und Werten« garantiere die Kontinuität »unserer tausendjährigen Geschichte«. Es sei gelungen, in allen Lebenssphären Standfestigkeit und Stabilität zu gewährleisten. Russland sei eine Großmacht, auch wenn im sozialen Bereich das Niveau noch zu wünschen übrig lasse. Hier sei es notwendig einen entscheidenden Durchbruch zu erreichen.
In der Tat ist das politische System gegenwärtig ungefährdet. Die Wiederwahl des Präsidenten ist garantiert, breite Proteste wie im Dezember 2011 sind nicht zu erwarten. Der überwiegende Teil der Bevölkerung akzeptiert das Regime, auch wenn insbesondere unter Jugendlichen Widerwillen spürbar ist. Der Administration ist es aber durch Behinderung der Arbeit oppositioneller Parteien und Repressionsmaßnahmen gegen potentielle Führungspersönlichkeiten gelungen zu verhindern, dass sich der Unwillen organisiert. Die Wirtschaft erholt sich nach der Ölpreis-Krise der Jahre 2014 und 2015 allmählich wieder, und die soziale Situation wird von einer Mehrheit als erträglich empfunden, auch wenn das durchschnittliche Realeinkommen seit 2014 spürbar gesunken ist.
Vor diesem Hintergrund formuliert Putin eine recht nüchterne Bestandsaufnahme. Er zeigt auf, dass es nicht gelungen ist, die positive demographische Entwicklung zu verstetigen und stellt fest, dass die Armut wieder zugenommen hat. Er fordert eine Absicherung der Renten und Anstrengungen, die Lebenserwartung zu erhöhen, die in Russland gegenwärtig bei 73 Jahren liegt, in Frankreich, Japan und Deutschland aber bei über 80 Jahren.
Er thematisiert die Notwendigkeit, die Wirtschaftsleistung pro Kopf zu erhöhen – hier lag Russland nach Angaben der Weltbank 2016 hinter Rumänien, Kasachstan und Kroatien an 55. Stelle, die Städte auszubauen, mehr Wohnungen zu schaffen und die Mittelklasse zu fördern. Er lobt die Leistungen beim Ausbau der Verkehrswege, fordert aber eine komplexe Modernisierung der Infrastruktur sowie Anstrengungen beim Umweltschutz. Zivilgesellschaftliche Beteiligung, Pflege der eigenen Kultur, die Verbesserung des Bildungssystems und der Berufsausbildung und ein Abbau der Hindernisse bei der Digitalisierung werden ebenfalls angesprochen. Der Präsident setzt auf die Förderung von Wissenschaft und Innovation. Das Wirtschaftswachstum soll beschleunigt und zu diesem Zwecke umfassend Investitionen angezogen werden. Die Produktivität soll gesteigert und der Export der verarbeitenden Industrie gestärkt werden. Putin lobte die Erfolge der russischen Landwirtschaft. Er forderte auch eine Verstärkung des Wettbewerbs und die Erweiterung unternehmerischer Freiheiten.
Die Punkte, die in der »Botschaft« angeführt werden, fassen prägnant das zusammen, was Ökonomen in Russland, in Europa, den USA und den internationalen Organisationen kritisch erörtern. Insofern ist der erste Teil der »Botschaft« durchaus auf dem Stand der Diskussion. Hier schlägt sich die nüchterne Arbeit der Regierung und der Zentralbank nieder, die sich bemühen, Russlands Wirtschaft nach den Ölpreiskrisen von 2008/2009 und 2014/2015 wieder voranzubringen. Putin verschweigt auch nicht, dass die Bilanz hier vorläufig eher mäßig ausfällt. Insofern erinnert die »Botschaft« 2017/2018 an Medwedews Programm aus dem Jahr 2009.
Medwedew hatte damals in seinem Artikel »Russland vorwärts!« eine wirtschaftspolitische Wende gefordert und in der Folge immer wieder sein Programm der »Vier I’s« propagiert: Institutionen, Infrastruktur, Investitionen, Innovation. All das findet sich im März 2018 in Putins Rede wieder – neun Jahre nach dem gescheiterten Reformansatz Medwedews. Problematisch ist allerdings die Tatsache, dass Putin zwar die Mängel feststellt und Zielvorgaben formuliert, dass er aber keine Maßnahmen benennt, mit denen diese Ziele erreicht werden könnten. Seine Rede verbleibt im Allgemeinen und entwirft keine konzise Reformpolitik. Wie der »Durchbruch« an diesem »Wendepunkt« tatsächlich erreicht werden soll, verschweigt der Präsident.
Der »Botschaft« zweiter Teil: Zurück zu Breschnew
An die nüchterne Bestandsaufnahme der Sozial- und Wirtschaftspolitik schließt sich dann ein zweiter Teil an, der sich auf Russlands Rolle als nuklearstrategische Großmacht konzentriert. Eingeleitet wird er – und das ist vielleicht typisch für das Denken des Präsidenten und eines Großteils der russischen außen- und sicherheitspolitischen Elite – durch eine Klage über den Zerfall der Sowjetunion und den Verlust der Rolle einer nuklearen Supermacht. Die USA und die internationale Gemeinschaft hätten Russland lange Jahre nicht mehr ernst genommen. Am deutlichsten habe sich das im Jahre 2002 in der einseitigen Kündigung des ABM-Vertrages durch die Bush-Administration geäußert.
In der Tat haben die USA mit dem Ausbau der strategischen Raketenabwehr, die vorher durch den ABM-Vertrag reguliert worden war, einen Grundsatz des nuklearen Kräftegleichgewichts aufgegeben: das Prinzip der »gegenseitigen gesicherten Vernichtung« (mutual assured destruction – MAD). Eine leistungsfähige Raketenabwehr schränkt mit ihrem Ausbau in der mittelfristigen Perspektive die russische Fähigkeit zum atomaren Antwortschlag ein. Russland wäre dann nuklearstrategisch nicht mehr auf Augenhöhe mit den USA. Der russische Großmachtanspruch wird so in Frage gestellt. Der internationale Bedeutungsverlust, der damit einhergeht, ist ein Thema, das die russische außen- und sicherheitspolitische Elite seit Jahren beschäftigt. Für sie war die Kündigung des ABM-Vertrages eine traumatische Erfahrung. Putins Thesen auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahre 2007 erklären sich aus der Erinnerung an diese »Demütigung«, und auch die Ausführungen im zweiten Teil der »Botschaft« 2017/18 sind dadurch motiviert.
Der Präsident stellte in seiner Präsentation neue Waffensysteme vor, denen er die Fähigkeit zuschrieb, die amerikanische Raketenabwehr zu durchbrechen – und so das »Gleichgewicht des Schreckens« wiederherzustellen. Es handelt sich um eine neue Interkontinentalrakete namens »Sarmat«, ein neuer Typ Marschflugkörper mit einer – durch Nuklearantrieb – erheblich gesteigerten Reichweite, eine Unterwasserdrohne – ebenfalls mit Nuklearantrieb –, ein neues Raketensystem im Hyperschallgeschwindigkeitsbereich namens »Kinshal« sowie einen Hyperschall-Raketengleiter namens »Awangard«. All diese Waffensysteme präsentierte der Präsident mit Hilfe von Videos, die deren Leistungsfähigkeit per Computersimulation demonstrieren sollten.
Die neuen Waffensysteme befinden sich nach Aussage der »Botschaft« im Endstadium der Entwicklung, einige sind derzeit in der Erprobung oder werden jetzt der Armee zugeführt. Mit ihrer Einführung – und das war die Kernaussage des zweiten Teils der »Botschaft« – macht Russland die amerikanische Raketenabwehr wirkungslos und gewinnt so die nuklearstrategische Augenhöhe mit den USA zurück. Der strategische Gleichstand der Ära Breschnew ist wiederhergestellt.
Das Erschreckende an der Vorstellung des Präsidenten war nicht die Präsentation neuer »einzigartiger« Waffensysteme, sondern das Fehlen jeglicher außenpolitischen Aussage. Außer der Feststellung, dass mit Russland wieder zu rechnen sei, findet sich im zweiten Teil der Rede keine relevante Idee. Putin entwirft keine Vorstellung von einer neuen Rüstungskontrollpolitik, bietet keine Gespräche für eine Revision der Rüstungskontrollabkommen an. Die Situation im Nahen Osten, in der Ukraine, das Fehlen eines funktionierenden Sicherheitssystems in Europa, die Zukunft des postsowjetischen Raumes – zu all dem hatte der Präsident nichts zu sagen.
Dieses Schweigen unterstreicht das Unvermögen (oder den Unwillen) der gegenwärtigen russischen Führung, politische Lösungen für die anstehenden Probleme zu entwickeln. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Fixierung auf das Trauma des sowjetischen Zusammenbruches gegenwärtig die Außenpolitik Russlands paralysiert. Aber bloße Sehnsucht nach der Ära Breschnew kann internationale Sicherheitspolitik nicht ersetzen.
Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Dem Beobachter springen die Unterschiede zwischen den beiden Teilen der »Botschaft« ins Auge: auf der einen Seite eine nüchterne Analyse der inneren Lage, die Reformbedarf aufzeigt, aber kein glaubwürdiges Reformkonzept formuliert, auf der anderen Seite die Prahlerei mit »Wunderwaffen«, bei deren Vorstellung sich Ärger über erlittene Kränkungen mit der Genugtuung mischt, es der Welt so richtig zeigen zu können. Außerstande, die auseinanderfallenden Teile zu einer zusammenhängenden Rede mit durchgehendem ›roten Faden‹ zu organisieren, stellt sich der Präsident als gespaltene Persönlichkeit dar – einerseits der reflektierte Wirtschafts- und Sozialpolitiker, andererseits der Waffennarr, der außen- und sicherheitspolitische Defizite mit Computersimulationen kompensiert.
Warum es nicht gelungen ist, aus den Vorlagen der beteiligten Ressorts ein Redemanuskript zu erstellen, das die verschiedenen Ansätze zu einem glaubwürdigen Gesamtkonzept zusammenführt, ist von außen schwer zu bewerten. Offenbar haben die verschiedenen Zulieferer – Ministerien und Abteilungen der Präsidialadministration – ganz unterschiedliche Vorstellungen über die Politik der kommenden Amtszeit des Präsidenten. Und Putin selbst war anscheinend nicht in der Lage, aus den widersprüchlichen Vorlagen ein plausibles Gesamtkonzept zu entwickeln. Der Einfluss der Gruppen, die Russlands militärische Leistungsfähigkeit herausstellen wollten, um so die Großmachtposition zu dokumentieren, war groß genug, dass sie diese Position in der »Botschaft« dokumentieren konnten. Der Präsident und sein Apparat sind diesen Vorlagen gefolgt, wobei der Wunsch nach Rückgewinnung der Augenhöhe mit den USA gewiss auch dem Denken des Präsidenten und seines engeren Beraterstabes naheliegt.
Ob es sich bei den Fürsprechern der Demonstration militärischer Stärke um Militärvertreter handelte, um Repräsentanten des Rüstungsblocks oder um sicherheitspolitische Nostalgiker, ist von außen nicht zu erkennen. In der öffentlichen Diskussion im Vorfeld der »Botschaft« haben sie jedenfalls keine Rolle gespielt, intern waren sie aber stark genug, um das Bild einer gespaltenen Politik – Jekyll und Hyde – zu vermitteln. In jedem Fall sagt der zweite, nuklearstrategische Teil der »Botschaft« sehr viel über die Grundstrukturen des Denkens russischer außen- und sicherheitspolitischer Eliten aus.
In der Darstellung der eigenen Stärke zielt die Rede gewiss auch auf die Wahlkampagne. Der Stolz auf das eigene Land und die hervorgehobene Rolle Russlands in der Welt spricht einen großen Teil der Bevölkerung an. Die Großveranstaltung, die am folgenden Tag in Luschniki stattfand und die dem Vernehmen nach 100.000 Menschen im dortigen Stadion versammelte, trug denn auch den Titel »Für ein starkes Russland«. Wie dieses Ziel – Russland stark zu machen –, erreicht werden soll, wie man das Wirtschaftswachstum beschleunigen, soziale Gerechtigkeit herstellen und den Anschluss an die internationale technologische Entwicklung erreichen will, darüber ließ der Präsident kaum etwas verlauten. Wie Russland in den nächsten Jahren einen »Durchbruch« erreichen will, ist angesichts dieses Schweigens nur schwer zu erkennen.