Entwicklung der Wahlbeteiligung bei landesweiten Wahlen
In Russland ist die Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen traditionell höher als bei anderen Urnengängen, etwa bei den Parlamentswahlen. Grafik 2 zeigt die Wahlbeteiligung bei den russischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen von 1991 bis 2016. Die Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen ist seit den ersten »Gründungswahlen« 1991 etwas zurückgegangen. Der Wettbewerb ist bei Präsidentschafts- wie auch bei Dumawahlen seit den frühen 2000er Jahren erheblich schwächer geworden. Erfahrungen aus vielen Demokratien zeigen, dass die Erwartung eines engen Wahlausgangs die Wahlbeteiligung erhöht, da diese einen Anreiz für Wähler darstellen kann, zur Urne zu gehen. Gleichzeitig bewegt eine entsprechende Erwartung politische Parteien dazu, ihre Anstrengungen zur Wählermobilisierung zu erhöhen. Im Unterschied hierzu ist bei landesweiten Wahlen in Russland das Ergebnis zunehmend vorhersagbar, was nicht zu steigender Wahlbeteiligung führt. Diese lag bei den Präsidentschaftswahlen 2012, die Wladimir Putin bequem mit 63,6 Prozent der Stimmen gewann, bei 65,3 Prozent.
Die Entwicklung der Wahlbeteiligung bei Parlamentswahlen folgte im Großen und Ganzen dem Muster der Präsidentschaftswahlen. Die Beteiligung bei diesen Wahlen, die bis 2016 stets in kurzem zeitlichem Abstand voneinander abgehalten wurden, bewegte sich eng in die gleiche Richtung. Bei den Dumawahlen 2016 fiel die Beteiligung drastisch auf nur 47,8 Prozent, was gegenüber 2011 einem Rückgang von über 12 Prozentpunkten entspricht. Gleichzeitig war es die niedrigste Wahlbeteiligung bei einer landesweiten Wahl in Russland seit 1991. Das legt nahe, dass die russische Regierung erhebliche Anstrengungen unternehmen muss, um bei den kommenden Präsidentschaftswahlen die Beteiligung anzukurbeln.
Die Zahlen für ganz Russland verdecken jedoch erhebliche Unterschiede, die zwischen einzelnen Landesteilen bestehen. Eine geographische Streuung der Wahlbeteiligung gibt es in vielen Ländern, doch sind die Unterschiede zwischen den Regionen in Russland im internationalen Vergleich auffallend groß. Aus Grafik 3 ist ersichtlich, dass bei den Präsidentschaftswahlen 2012 die höchste Wahlbeteiligung in der Republik Tschetschenien registriert wurde, mit sowjetisch anmutenden 99,6 Prozent. In vielen anderen Regionen Russlands hingegen war nur knapp über die Hälfte der Wähler zur Wahl gegangen. Die geringste Wahlbeteiligung gab es mit 53 Prozent im Gebiet Wladimir (Zentraler Föderalbezirk). Somit betrug die Spanne zwischen der höchsten und der geringsten Wahlbeteiligung auf Regionsebene bemerkenswerte 46,6 Prozentpunkte.
Bei den Wahlen 2012 lag die Wahlbeteiligung in einer Reihe ethnisch begründeter Republiken bei über 90 Prozent, beispielsweise in der Republik Dagestan und der Republik Tywa. Studien haben ergeben, dass bei landesweiten Wahlen die höchste Beteiligung eher aus Regionen mit einem hohen Bevölkerungsanteil von Angehörigen nationaler Minderheiten, aus Regionen im Nordkaukasus und aus rohstoffreichen Regionen vermeldet werden.
Darüber hinaus kann die Wahlbeteiligung bei landesweiten Wahlen in Russland ebenso stark zwischen den Kreisen (Rajons) innerhalb der Regionen wie zwischen den Regionen variieren [Rajons entsprechen in ungefähr den Land- und Stadtkreisen in Deutschland – Anm. d. Red.]. Die Wahlbeteiligung in Russland ist tendenziell in ländlichen Gebieten höher als in den städtischen Zentren. Auch Rajons, die zu großen Teilen von nichtrussischen Ethnien bewohnt sind, vermelden sehr viel höhere Wahlbeteiligungen als andere Gegenden. Hier stechen insbesondere Gebiete hervor, in denen Titularethnien leben, wie beispielsweise die Tataren in Tatarstan. Diese Muster spiegeln wohl die Anfälligkeit für klientelistische Mobilisierung wider.
Grafik 4 stellt die Unterschiede zwischen der durchschnittlichen Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen 2012 in drei verschiedenen Rajon-Typen dar. Es ist zu erkennen, dass ländliche Rajons eine höhere Beteiligung verzeichnen als der Landesdurchschnitt. Dieser Unterschied (rund 16,5 Prozentpunkte) ist noch größer, wenn die Wahlbeteiligung in überwiegend von der Titularethnie bewohnten Rajons mit dem Landesdurchschnitt verglichen wird. Hinter der gesamtrussischen Wahlbeteiligung verbirgt sich also eine ganz spezifische Wahlgeographie, in der die Wahlbeteiligung in ländlichen Rajons und in Gegenden mit ethnischen Minderheiten wie auch auf regionaler Ebene in Regionen mit einem höheren Bevölkerungsanteil ethnischer Minderheiten sowie in den Regionen des Nordkaukasus tendenziell sehr viel höher ist. Diese Merkmale spiegeln wider, dass Wahlmanipulationen wie auch auf Wahlklientelismus relevant sind. In der Tat haben Studien gezeigt, dass Fälle von Wahlmanipulation im Nordkaukasus und in bestimmten Regionen mit besonderer ethnischer Prägung tendenziell häufiger sind.
Wählermobilisierung in Wahlautokratien
Wahlen in elektoralen autoritären Regimen wie dem russischen sind meist eine im Vorhinein entschiedene Angelegenheit, die keine Gefahr für die Machthaber darstellen. Allerdings hält diese Art Wahlen für die Regierung andere Dilemmata parat. Ein zentrales Problem besteht darin, wie eine »anständige« Wahlbeteiligung bei Wahlen ohne Wettbewerb erreicht werden kann. Wählermobilisierung zur Ankurbelung der Beteiligung, wie sie üblicherweise in Demokratien erfolgt, etwa über Medien und politische Parteien, kann in elektoralen autoritären Regimen Risiken bergen, da diese Methoden auch Anhänger der Opposition an die Urnen bringen kann. Wahlautokratien profitieren von der Apathie von Oppositionsanhängern und versuchen die Wahlen so weit wie möglich von »echten« politischen Kampagnen frei zu halten. Andererseits verringert der »langweilige« und nicht von inhaltlichen Debatten geprägte Charakter solcher Wahlen auch die eigentlichen Anreize für Wähler zur Wahl zu gehen.
Eine niedrige Wahlbeteiligung kann selbst bei einem überwältigenden Sieg für das Regime die Legitimität des Wahlergebnisses beeinträchtigen und eine »versteckte« Opposition in der Bevölkerung signalisieren. Daher greifen elektorale Autokratien gewöhnlich auf eine »selektive Wählermobilisierung« zurück, also auf eine Mobilisierung nur bestimmter Teile der Bevölkerung (vom Staat abhängige oder sozio-ökonomisch bedürftige Gruppen) durch klientelistische Appelle, während der Kontext der Wahlen möglichst frei von programmatischen Debatten gehalten wird. Diese Bevölkerungsteile bedienen sich oft staatlich kontrollierter Medien, vor allem des Staatsfernsehens, um sich politisch zu informieren.
Wählermobilisierung in Russland und die Präsidentschaftswahlen 2018
Bei den Dumawahlen 2016 hatte es einen beträchtlichen Rückgang der Wahlbeteiligung gegeben und die Umfragedaten deuten darauf hin, dass sich diese Entwicklung bei den Präsidentschaftswahlen 2018 fortsetzen könnte. Einer Umfrage des »Lewada-Zentrums« vom Dezember 2017 zufolge hatten »nur 30 Prozent der Befragten ‚unbedingt‘ die Absicht, zur Wahl zu gehen, und weitere 28 Prozent wollen ‚wahrscheinlich« zur Wahl gehen.
Die Regierung in Russland hat versucht, das öffentliche Interesse für die Wahlen zu steigern, indem sie frische Namen auf den Stimmzettel brachte, etwa den Kandidaten der Kommunistischen Partei, Pawel Grudinin, und die Kandidatin der Partei »Bürgerinitiative«, Ksenija Sobtschak. Der Amtsinhaber, Präsident Putin, ist weiterhin populär, und ein Teil der Wähler wird zweifellos aus programmatischen Überlegungen heraus zur Wahl gehen. Allerdings liegt es nahe, dass der Druck, eine »ausreichend hohe« Wahlbeteiligung sicherzustellen, dazu führen wird, dass die Anstrengungen zur »selektiven Wählermobilisierung« bei den anstehenden Wahlen intensiviert werden.
Bei vorherigen landesweiten Wahlen hatte die Wählermobilisierung auf Bevölkerungsgruppen abgezielt, die vom Staat abhängig sind, auf Angestellte staatlicher oder vom Staat kontrollierter Unternehmen, auf Studenten oder auf Menschen in einer schwierigen sozio-ökonomischen Lage wie Rentner oder die ländliche Bevölkerung.
Die Mobilisierung zum Erreichen einer bestimmten Wahlbeteiligung war bei früheren landesweiten Wahlen auch mit dem Einsatz von zwei besonderen Arten der Stimmabgabe verbunden, nämlich der Stimmabgabe mithilfe eines Wahlscheins am Arbeitsplatz oder an der Universität oder der Stimmabgabe außerhalb des Wahllokals mit einer »mobilen« Wahlurne. Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 hatte es für diese beiden Arten der Stimmabgabe Rekordzahlen gegeben: Über zehn Prozent aller abgegebenen Stimmen waren entweder mithilfe eines Wahlscheins oder »mobil« abgegeben worden. Wahlergebnisse können auch durch direkten Wahlbetrug gesteigert werden, indem die Ergebnisse der Stimmauszählung gefälscht werden oder Stimmzettel stapelweise abgegeben werden. Da ein echter Gegenkandidat fehlt und der Ausgang mehr als deutlich abzusehen ist, steht die Regierung bei den russischen Präsidentschaftswahlen unter wachsendem Druck, die offiziellen Zahlen über die Wahlbeteiligung hochzuschrauben.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder