Ljudmila Alexejewa – In Memoriam

Von Maria Klassen (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

Ljudmila Michajlowna Alexejewa kam am 20. Juli 1929 auf der Krim in dem Kurort Jewpatorija zur Welt. Die Eltern – die Mutter eine Mathematikdozentin, der Vater ein Ökonom in staatlicher Anstellung – siedelten bald mit Ljudmila nach Moskau um. Da die Eltern berufstätig waren, zog die Großmutter sie auf, die ihr viele alte humanistische Werte aus der vorsowjetischen Zeit vermittelte. Dennoch wuchs Alexejewa in der Überzeugung heran, im »Land der lichten Zukunft« zu leben. Während des Großen Terrors 1937 wurde ihr Vater verhaftet und verhört, blieb aber wie durch ein Wunder am Leben. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs meldete sich Alexejewa sofort zum Freiwilligendienst und wurde zur Militärkrankenschwester ausgebildet; doch aufgrund ihres zu jungen Alters durfte sie nicht an die Front. Aus Patriotismus blieb sie der Schule fern und verrichtete bis Ende des Krieges schwerste körperliche Arbeit beim Metro-Bau.

Nach dem Krieg studierte sie an der renommierten Lomonossow-Universität (MGU) Geschichte. Die stark ideologisch belastete Atmosphäre an der Universität sorgte bei der jungen Studentin für Zweifel am System, aber ihr Patriotismus bestärkte sie, in die Kommunistische Partei einzutreten, um das Land gestalten zu können. Ljudmila Alexejewa wollte sich allerdings beruflich von der Ideologie des Staates abgrenzen und schloss ihr Studium im Fach Archäologie ab. Es folgte eine Anstellung bei der Redaktion der Zeitschrift »Nauka« (dt.: Wissenschaft) in der Abteilung Archäologie und Ethnographie. Parallel promovierte sie am Forschungsinstitut für Wirtschaft und Statistik im Fach »Geschichte der KPdSU«. Doch nach Stalins Tod 1953 und nach der historischen Rede Chruschtschows auf dem 20. Parteitag 1956 entwickelte sich Alexejewa zur Regimekritikerin. Ihre Promotion brach sie ab und wandte sich dem Kreis von intellektuellen Andersdenkenden zu. Ihre Wohnung wurde zum Treffpunkt von Dissidenten, wo man illegale Literatur (Samisdat und Tamisdat) austauschte, freigeistige und kritische Texte schrieb, vortrug, vervielfältigte und verbreitete. Die ersten Schauprozesse gegen Dissidenten wie Galaskow, Daniel, Sinjawskij und Ginsburg waren für sie Ansporn, sich offen und aktiv für Menschenrechte einzusetzen. Sie trieb der Gedanke, dass sie bei der Verhaftung ihres Vaters als Kind schweigen musste, sich dies aber nie wiederholen dürfte.

In dem geschichtsträchtigen Jahr 1968 gehörte Ljudmila Alexejewa zu den Gründer*innen der Samisdat-Reihe »Chronik der laufenden Ereignisse«, deren erste Nummern in ihrer Wohnung verfasst, von ihr auf der Schreibmaschine getippt und verbreitet wurden. Das blieb nicht folgenlos: Alexejewa wurde aus der Partei ausgeschlossen und aus der »Nauka«-Redaktion entlassen. In den Jahren 1968 – 1972 besuchte sie regelmäßig inhaftierte und verbannte politische Dissidenten, sammelte Hilfe für sie und beförderte Hilfs- und Protestpetitionen in den Westen. Dafür musste sie mehrere Hausdurchsuchungen und Verhöre durch den KGB über sich ergehen lassen.

Nachdem sich die UdSSR 1975 mit der Helsinki-Schlussakte zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet hatte, gründete Ljudmila Alexejewa 1976 mit weiteren gleichgesinnten Dissidenten wie Jurij Orlow und Sergej Kowaljow die Moskauer Helsinki-Gruppe. Doch der KGB verhaftete bald mehrere Mitstreiter und stellte Alexejewa vor die Wahl, ebenfalls inhaftiert zu werden oder ins Ausland zu emigrieren.

Die Jahre 1977 – 1993 verbrachte sie in den USA. Sie war aktiv tätig in den russischsprachigen Redaktionen der Sender »Radio Liberty« und »Voice of Amerika« und schrieb regelmäßig für die russische Emigranten-Presse; bei der Erstellung eines Informationspapiers für den US-Kongress sammelte Alexejewa so viel Material, dass es 1985 zur Publikation ihres Buches »Istorija inakomyslija w SSSR« (dt: Die Geschichte vom Andersdenken in der UdSSR) kam. Ihre Memoiren mit dem Titel »Die Tauwetter-Generation« fanden große Beachtung.

Nach der Perestroika gehörte Ljudmila Alexejewa zu den wenigen emigrierten Dissident*innen, die nach Russland zurückkehrten, um bei den so lang ersehnten und teuer erkauften demokratischen Reformen in ihrer Heimat direkt mitwirken zu können. 1993 war sie zurück in Moskau und aktiv bei der Verteidigung von Menschenrechten und dem Aufbau einer Zivilgesellschaft. Seit 1996 war sie im Vorstand der Moskauer Helsinki-Gruppe, von 1998 bis 2004 war sie Präsidentin der internationalen Helsinki-Föderation; zehn Jahre lang gehörte sie dem Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten an. Nach der umstrittenen Rochade-Wahl Putins 2012 trat Alexejewa aus dem Rat aus. 2004 gehörte sie zu den Mitbegründer*innen des Allrussischen Zivilgesellschaftlichen Kongresses. Ihre stets kritische Haltung den Herrschern im Kreml sowie dem Präsidenten persönlich gegenüber hat sie nie verheimlicht und schien grundsätzlich furchtlos durch das Leben zu schreiten. 2014 verurteilte sie aufs Schärfste die Krim-Annexion und nahm sogleich an einem Ukrainisch-Russischen Dialog in Kiew teil.

Längst eine internationale Legende, erhielt Ljudmila Alexejewa vom Europäischen Parlament zwei Auszeichnungen: 2009 den Sacharow-Preis für geistige Freiheit und 2015 den Vaclav Havel-Preis für Menschenrechte.

An ihrem 80. Geburtstag 2007 meinte Alexejewa, in zehn Jahren (also 2017) würde Russland ein demokratischer Rechtsstaat sein. Leider ist die Vision dieser unglaublich tapferen Frau, dieser bewundernswerten, starken Persönlichkeit mit dem bis zum letzten Atemzug kristallklaren Geist nicht wahr geworden – noch nicht. Denn für den Aufbau einer Zivilgesellschaft und Demokratie in Russland hat sie so viel geleistet wie kaum eine andere.

Lew Schlossberg, ein russischer Menschenrechtler der jüngeren Generation, schrieb vor wenigen Tagen zum Tode von Ljudmila Alexejewa, sie gehöre zu den Menschen, die das moralische Antlitz ihrer Zeit bestimmen, auch wenn sie nicht mehr am Leben seien.

Im Deutschen würde man Ljudmila Alexejewa als Gewissen der Nation bezeichnen. Ihr Lebenswerk wird weltweit gewürdigt. Ihre unerschrockene Natur bleibt unvergessen. Ihre Stimme wird sehr fehlen.

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