Einleitung
Hat Russland die Krim völkerrechtswidrig annektiert oder sie rechtmäßig in sein Hoheitsgebiet eingegliedert? Im Zuge der Auseinandersetzung um den Status der Halbinsel und des anhaltenden bewaffneten Konflikts in der Ostukraine ist die internationale Staatengemeinschaft erneut mit komplexen Entwicklungen im postsowjetischen Raum konfrontiert. Zentrale Grundsätze des Völkerrechts und der internationalen Politik scheinen zunehmend in Frage gestellt – darunter das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Verbot der Gewaltanwendung und die territoriale Integrität von Staaten. »Annexion«, »humanitäre Intervention«, »Abspaltung«, »Besatzung« oder »Krieg« – die Wortwahl ist entscheidend. Denn der Gebrauch bestimmter völkerrechtlicher Begriffe kann Staaten zur Legitimierung und Delegitimierung politischer und militärischer Handlungen dienen.
Vor allem seit dem Frühjahr 2014 ist in öffentlichen Debatten und Fachdiskussionen viel Energie darauf verwendet worden, den russischen Umgang mit dem Völkerrecht (d. h. seinen Gebrauch oder Missbrauch durch Russland) und vermeintliche »Kollisionen« zwischen einem russischen und einem »westlichen« Rechtsverständnis zu ergründen.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich: Wir wissen zu wenig über den konkreten Inhalt aktueller lokaler Debatten und »Kollisionen« zwischen ukrainischen und russischen ExpertInnen hinsichtlich der rechtlichen und rechtspolitischen Fragen rund um den Fall »Krim«. Wir lesen und hören quasi nur aus zweiter Hand darüber. Doch die daran beteiligten ExpertInnen aus dem betreffenden Raum kommen bei uns nur selten direkt zu Wort. Das hat unterschiedliche Gründe. Zum Teil hat es mit den Besonderheiten der völkerrechtlichen Forschung, Lehre und Praxis im postsowjetischen Raum zu tun. Auch Sprachbarrieren haben natürlich einen Anteil.
Und wenn ExpertInnen über die völkerrechtspolitischen Implikationen der Krim-Angliederung debattieren, spielen nicht zuletzt auch persönliche und fachliche Interessen, Zwänge und Empfindlichkeiten eine Rolle.
Wie soll man also nun in der Sprache des Völkerrechts über den Fall »Krim« reden, wenn bestimmte Begriffe tabuisiert werden – in Russland etwa darf die Angliederung der Krim nicht als Annexion bezeichnet werden.
Welche Rolle kann das Völkerrecht überhaupt in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Krim wahrnehmen?
Diese herausfordernden Fragen diskutieren drei Völkerrechtsexpertinnen: Kateryna Busol, Maria Issaeva und Cindy Wittke. Sie kommen nicht nur aus drei verschiedenen Ländern – der Ukraine, Russland und Deutschland – sondern haben auch unterschiedliche Studien- und Berufslaufbahnen absolviert. Keine von ihnen beansprucht, die völkerrechtliche Forschung, Lehre und Praxis ihres Landes zu repräsentieren. Sie stellen jeweils ihre individuelle Sicht zur Diskussion und berücksichtigen dabei die Vielfalt und die wichtigsten Nuancen in den aktuellen völkerrechtlichen Debatten zur Krim und der sogenannten »Ukraine-Krise«.
In den öffentlichen Debatten über die Recht- oder Unrechtmäßigkeit des Krim-Referendums und damit darüber, ob die Halbinsel rechtswidrig annektiert oder rechtmäßig in das russische Staatsgebiet eingegliedert wurde, wird häufig auf den Fall »Kosovo« verwiesen. Von der politischen Rhetorik abgesehen: Inwiefern ist dieser Vergleich mit der Intervention der NATO im Jahr 1999 und die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Jahr 2008 aus Ihrer Sicht völkerrechtlich relevant?
Kateryna Busol: Der Verweis auf eine Ausnahme ist im Völkerrecht immer schwierig. Das gilt umso mehr, wenn diese Ausnahme äußerst umstritten ist. Der einstmals ehrenwerte Begriff der humanitären Intervention ist leider kompromittiert worden, besonders seit dem Jugoslawien- und dem Irakkrieg. Russlands Versuch, sein Eingreifen auf der Krim anhand eines solchen rechtlich fragwürdigen Präzedenzfalls zu rechtfertigen, ist deshalb von vorneherein zum Scheitern verurteilt.
Auch die Verweise auf die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo scheinen aus mindestens zwei Gründen verfehlt:
Erstens hat sich Russland vor 2014 sehr vernehmlich gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen des Kosovo gewandt. Diese Haltung erklärte sich unter anderem aus Russlands Besorgnis über sezessionistische Aufrufe im eigenen Staatsgebiet.
Zweitens sind abgesehen davon die »Unabhängigkeit« des Kosovo und die der Krim rechtlich unterschiedlich zu bewerten. Die Geschehnisse auf der Krim wurden von einem fremden Staat in Gang gesetzt, dessen Militärs und Paramilitärs die Durchführung des hastig organisierten »Referendums« anstelle internationaler Beobachter garantierten – ohne jede Zustimmung des betroffenen souveränen Staates, der Ukraine. Dies war im Kosovo nicht der Fall. Damit ist auch Russlands zweites Argument beim Vergleich von Krim und Kosovo hinfällig.
Um es mit Rabindranath Tagore zu sagen: »Wenn der Friede seinen Schmutz fegt, gibt es Sturm.« Die stürmische Art und Weise, auf die Russland in die Krim – den integralen und legitimen Teil eines anderen souveränen Staates – eingedrungen ist und dort »Frieden« erzwungen hat, lässt es fraglich erscheinen, ob es ihm ursprünglich oder überhaupt jemals wirklich um Frieden ging.
Maria Issaeva: Der Vergleich zwischen der Sezession der Krim und der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo wäre nur dann haltbar, wenn die letztere innerhalb der sehr kurzen Zeitspanne von zwei Wochen über die Bühne gegangen wäre – unter einseitigem Einsatz von Militärgewalt durch ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates, welches das neue Gebilde dann innerhalb weniger Tage in sein Hoheitsgebiet eingegliedert. Russland lässt mit diesem Vergleich seine Missachtung für die Bedeutung multilateraler Zusammenarbeit und für geregelte internationale Verfahren als Voraussetzung völkerrechtlicher Legalität und Legitimität erkennen.
Die Argumentation russischer Völkerrechtler aus Wissenschaft und Praxis nach 2014 ist – wie auch die offizielle russische Position – plötzlich ganz anders als in der Auseinandersetzung um die Rechtmäßigkeit der Sezession des Kosovo: Zuvor legte Russland großen Wert auf die Verpflichtung, jegliche Maßnahmen zu unterlassen, die gegen die territoriale Integrität eines Staates gerichtet sind. Dabei berief es sich unter anderem auf die KSZE-Schlussakte von Helsinki von 1975. Im Fall der Krim wurde mit dem Selbstbestimmungsrecht argumentiert, ohne die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine auch nur zu erwähnen. Seit 2014 ist in Russland oft zu hören, die Schlussakte von Helsinki sei »nur ein politisches Dokument«, das die Staaten zu nichts verpflichte. Einige Rechtfertigungsversuche berufen sich sogar darauf, dass die Ukraine ein gescheiterter Staat sei (und somit auch nicht in der Lage sei seine Souveränitätsrechte effektiv auszuüben).
Cindy Wittke: Meiner Meinung nach sind alle wissenschaftlichen Argumente in Bezug auf den Kosovo-Konflikt und seine Vergleichbarkeit mit der Krim-Annexion bereits »ausdiskutiert« – wir werden hier nichts Neues mehr hören.
Aufgrund meiner Forschungsinterviews mit ukrainischen, georgischen und russischen VölkerrechtsexpertInnen bin ich zu dem Schluss gelangt, dass »Kosovo« zur Projektionsfläche für verschiedene Narrative hinsichtlich der Legitimität und Illegitimität von russischem und »westlichem« Exzeptionalismus geworden ist.
Kurz gesagt, »Kosovo« ist zu einer Chiffre für verschiedene Formen von »lawfare« – Kriegsführung mit den Mitteln des Rechts – geworden. Der Bezug auf »Kosovo« steht auch dafür, dass Recht und Politik selten getrennt voneinander betrachtet werden können.
Der Verweis auf den Kosovo ist letztlich keine bloße politische Rhetorik, aber er ist auch nicht (mehr) nur Gegenstand dogmatischer juristischer Diskussionen: Er ist Symptom für einen Konflikt über die Rolle(n) des Völkerrechts in der internationalen Politik. Verschiedene Vermittler des Völkerrechts füllen den Begriff »Kosovo« mit unterschiedlichen Inhalten und Kontroversen, die über das hinausreichen, was sich im und mit dem Kosovo ereignet hat.
Ist die Krim ein Sonderfall (sui generis)? Oder erleben wir allgemein Prozesse der Umdeutung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, der abhelfenden Sezession und schließlich der staatlichen Souveränität im postsowjetischen Raum?
Maria Issaeva: Bei der Krim geht es weder um eine Neuinterpretation noch handelt es sich um einen »sui generis«-Fall. Vielmehr handelt es sich um den endgültigen Rückfall Russlands in alte sowjetische Verhaltensmuster mit einem entsprechenden Verständnis des Völkerrechts.
Russland hat nie aufgehört, die Vorherrschaft im postsowjetischen Raum als Priorität zu betrachten. Entsprechend hat es auch das Völkerrecht innerhalb des Bereichs, den es seit 1991 als seine »Einflusszone« betrachtete, immer auf seine Weise ausgelegt.
Wie vor 1991 schon die Sowjetunion, so hat auch Russland die eigene Souveränität immer für wichtiger erachtet als die Souveränität der Länder, die es als seine Satelliten betrachtet. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass es im Zusammenhang mit der Krim zu neuen rechtlichen Entwicklungen bezüglich der abhelfenden Sezession und der Selbstbestimmung kommt. Denn dies ist ein recht eindeutiger Fall des Verstoßes gegen das Gewaltverbot, bei dem die Berufung auf »Selbstbestimmung« als Rechtfertigungsgrund nicht wirklich eine völkerrechtliche Basis hatte.
Cindy Wittke: Es ist interessant, genauer zu betrachten, was geschieht oder geschehen könnte, wenn wir ein Ereignis oder einen Vorgang als »einzigartig«, »unvergleichbar« oder »Ausnahmefall« bezeichnen.
Aus rechtlicher Sicht kann das etwa die Frage aufwerfen, ob ein solches Ereignis oder ein solcher Vorgang womöglich »außerhalb des Rechts« steht. Wenn Not- und Ausnahmesituationen zur neuen »Normalität« werden, kann das meiner Meinung nach die Umdeutung des Völkerrechts und seiner Grundsätze nach sich ziehen. Es kann zum Beispiel Auswirkungen darauf haben, was sich in den Argumentationslinien unterschiedlicher Akteure im Rahmen ihrer Politik und Kriegsführung als legal und legitim darstellen lässt.
Ich würde dem entgegenhalten, dass eine rechtliche und/oder politische »Normalität« seit jeher äußerst selten ist und war. Das Völkerrecht hat vielmehr die Aufgabe, Streitigkeiten nach vereinbarten Regeln zu handhaben und beizulegen. Dafür ist keine »Normalität« erforderlich, und es gibt auch nicht so etwas wie »außerhalb des Rechts« – ob nun in Bezug auf den Kosovo oder die Krim.
Kateryna Busol: Einerseits könnte man auf die Situationen in Transnistrien, im Kosovo, in Katalonien, in den besetzten palästinensischen Gebieten und in Nordzypern verweisen. Sie zeigen, dass die Fragen der Besatzung oder angeblichen Selbstbestimmung und Abspaltung, die im Zusammenhang mit der Krim aufgeworfen wurden, keine Ausnahme sind. Zugleich gibt es jedoch eine Reihe faktischer und rechtlicher Gesichtspunkte, die den Fall Krim besonders machen:
Erstens handelt es sich um einen unerwartet heftigen Ausbruch eines anhaltenden bewaffneten Konflikts und eine Okkupation in Europa im 21. Jahrhundert. Dies wirkt sich zwangsläufig auf Anstrengungen rund um die rechtlichen Dimensionen von Verantwortung und Versöhnung aus. Zum Vergleich: Der russisch-georgische Krieg von 2008 hat fünf Tage gedauert, und der Internationale Strafgerichtshof hat fast acht Jahre gebraucht, um eine Untersuchung einzuleiten. Der Fall der Krim und die Situation der Ukraine im Allgemeinen sind äußerst komplex. Deshalb ist kaum zu erwarten, dass internationale Gerichtsverfahren hier schneller ablaufen würden.
Zweitens wird das ukrainische Problem durch die neuen Elemente der hybriden Kriegsführung verschärft, die sich im postfaktischen Zeitalter in hohem Tempo entwickeln, etwa Cyberangriffe und die Nutzung sozialer Medien.
Drittens gibt es immer mehr Belege für mutmaßliche »sui generis«-Verstöße auf der Krim. Dazu gehören die verfälschende Restaurierung des Khanpalasts der Krimtataren in Bachtschyssaraj, die darauf zielt, sie kulturell auszulöschen, und die Errichtung der Brücke von Kertsch, die Russland mit der Krim verbindet. Die Bauarbeiten gingen mit Enteignungen sowie nicht-autorisierten archäologischen Ausgrabungen einher, die nach den Regeln des humanitären Völkerrechts sämtlich unzulässig sind.
Welche rechtlichen Fragen und Probleme sollten mit Bezug auf die jetzige Situation der Krim, im März 2019, vorrangig diskutiert werden? Ist das Völkerrecht fit für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Krim?
Cindy Wittke: Wie ich schon gesagt habe: Es gibt keinen Bereich »außerhalb des Rechts«. Ich würde für eine pragmatische Wende beim Umgang mit Fragen plädieren, die auf das regulierende Potential des Völkerrechts im Alltag abzielen – und dem Dilemma zwischen rechtlichem und faktischem Status der Krim Rechnung tragen.
Mit Blick auf andere langwierige inner- und zwischenstaatliche Territorialkonflikte im postsowjetischen Raum scheint es mir wichtig, auf eines hinzuweisen: Wenn die Ukraine das Territorium und die Menschen auf der Krim »wiedergewinnen« möchte, dann ist es nicht unbedingt die beste Strategie, sie sich zu entfremden – trotz der eklatanten Verletzung der territorialen Integrität.
Auch die Erfahrung mit anderen Statuskonflikten außerhalb der Region spricht aus meiner Sicht für einen pragmatischen Ansatz, der es ermöglicht, in begrenzten Bereichen technische Übereinkünfte zu erzielen. Oder etwa mit ihrer Hilfe Alltagsprobleme zu lösen, etwa in den Bereichen Infrastruktur, Straßenbau, Strom- und Wasserversorgung.
Kurz, eine pragmatische Zukunftsstrategie könnte die Bedürfnisse der Einwohner berücksichtigen und geregelte Interaktionen anstreben, ohne damit eine rechtliche oder politische Anerkennung zu verbinden – oder zukünftigen Statusregelungen vorzugreifen.
Maria Issaeva: Im 19. Jahrhundert oder davor hätte die gewaltsame Annexion der Krim ganz dem üblichen Vorgehen vieler anderer europäischer Staaten entsprochen. Wenn sich der Gedanke durchsetzte, das Völkerrecht sei für die Krim-Frage nicht angemessen, wäre das ein gewaltiger Rückschritt für das heutige Völkerrecht. Das gegenwärtige Völkerrecht wurde geschaffen, nachdem als unmittelbare Folge der Kriegspolitik der europäischen Mächte die beiden Weltkriege ausgebrochen waren.
Es scheint nach wie vor entscheidend zu sein, dass die richtige Balance gewahrt wird. Einerseits braucht es einen pragmatischen Umgang mit dem heutigen Russland, andererseits muss angesichts der Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine das Recht der Staatenverantwortlichkeit zur Anwendung kommen.
Kateryna Busol: Aus internationaler Sicht stimme ich Maria Issaeva zu: Erstens würde es die gesamte Rechtsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg in ihren Grundfesten erschüttern, wenn konzediert würde, dass das Völkerrecht nicht auf den Fall der Krim anwendbar sei. Und zweitens ist das einfach nicht wahr. Die völkerrechtliche Bewertung steht weitgehend fest: Gewaltanwendung oder deren Androhung sind verboten, Grenzen können nicht einfach einseitig geändert werden, die Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung besteht nicht uneingeschränkt, und das Verhalten eines Besatzungsstaats ist Regeln unterworfen.
Am Vollzug, an der Umsetzung, hapert es, weil aus realpolitischen Erwägungen heraus zu bereitwillig Zugeständnisse gemacht werden. Wenn dies der Fall ist, dann wird eine Anpassung der Normen des Völkerrechts jedoch kaum die gewünschte Änderung herbeiführen. Vielmehr muss die internationale Gemeinschaft sich konsequenter bereit zeigen, sie durchzusetzen.
Was die nationale Seite betrifft, so werden viele völkerrechtliche Prozesse durch Schritte auf nationaler Ebene ausgelöst oder angestoßen. Ob Ermittlungen durch den Internationalen Strafgerichtshof eingeleitet werden und wie schnell sie vonstattengehen, hängt beispielsweise in erheblichem Maß von den nationalen Verfahren wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ab. Die Qualität dieser Verfahren wiederum ist abhängig von der nationalen Rechtspraxis und der Sachkenntnis der nationalen Ermittler, Staatsanwälte, Strafverteidiger und Richter. Dies ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie sehr die internationale und die nationale Seite des Völkerrechts miteinander verflochten und aufeinander angewiesen sind. Das wirkt sich zwangsläufig auf seine Effizienz aus, auch im Fall der Krim.
Der Völkerrechtsexperte Stefan Talmon sprach 2014 in einem Artikel für die FAZ von einer »Pflicht zum Ärgern« Russlands. Es bedürfe einer aktiven Nichtanerkennung des Status der Krim, um der, nach seiner Einschätzung, widerrechtlichen Annexion zu begegnen.
Andererseits besagt ein humanitärer politischer Grundsatz, dass die Zivilbevölkerung eines annektierten Gebiets nicht zusätzlichem Leid durch internationale Maßnahmen ausgesetzt werden sollte, etwa durch Verhängung von Sanktionen, von denen dieses Territorium betroffen wäre.
Was bedeutet das Ihrer Einschätzung nach für die Praxis im Jahr 2019 und darüber hinaus?
Cindy Wittke: Sanktionen gegen Angriffshandlungen und Völkerrechtsverletzungen durch Russland sind natürlich wichtig – aus rechtlichen wie politischen Gründen. Trotzdem stellt sich auch hier die Frage: Was können wir aus der Alltagsrealität anderer langandauernder territorialer Statuskonflikte lernen?
Welche Bedeutung hat die politische und rechtliche Lage in diesen Gebieten – nicht nur in humanitärer, sondern auch in humaner Hinsicht – für die von der Krim-Frage unmittelbar betroffenen Menschen? Also für die Bewohner der Halbinsel, für die Flüchtlinge, die sich hauptsächlich in anderen Teilen der Ukraine niedergelassen haben, und für die Menschen, die in den ukrainischen Nachbarregionen der Krim leben?
Die bereits angesprochenen technischen Übereinkünfte und Zusammenarbeit mittels begrenzter Absprachen – »Islands of Agreement« – könnten auch Kanäle des politischen Dialogs offen halten und zukünftige technische Arrangements erleichtern. Auch wenn damit die rechtliche und politische Ambivalenz zur Strategie erhoben wird.
Maria Issaeva: Die Krim-Frage hat Russland weit zurück in die Vergangenheit katapultiert – intellektuell, wirtschaftlich und anderweitig. Die ersten Opfer dieses massiven Verstoßes gegen das Völkerrecht waren, von der Ukraine mal abgesehen, die Menschen in Russland sowie die Bewohner der Krim als Folge ihrer Eingliederung.
In gewisser Weise hat der Krim-Konflikt gezeigt, dass die Russen gegenüber ihrer politischen Führung an einem »Stockholm-Syndrom« leiden. Der »Krieg der Sanktionen«, mit denen wohl die erwähnte »Pflicht zum Ärgern« umgesetzt werden soll, sollte zwischen Staaten geführt werden und nicht zwischen Menschen.
Kateryna Busol: Diese Fragestellung ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Erstens wird mit dem Wort »ärgern« eine Dimension der Rechtfertigung eingeführt – in dieser Sicht könnten dann auch manche Reaktionen Russlands als berechtigte, durch angebliche »Ärgernisse« wie die fortgesetzte Nichtanerkennung des Status der Krim oder Sanktionen provozierte Antworten verstanden werden. So verhält es sich aber nicht. Sanktionen und Gegenmaßnahmen sind im Völkerrecht durchaus üblich. So wurden etwa im Zusammenhang mit dem Lockerbie-Anschlag umfangreiche Sanktionen gegen Libyen verhängt. Dass ein Staat, der das von ihm besetzte Gebiet aktiv annektiert, mit vergleichbaren Konsequenzen zu rechnen hat, erscheint nur natürlich.
Zweitens ist ein Staat zwar verpflichtet, die Rechte und Freiheiten seiner Bevölkerung in einem Gebiet, das besetzt oder vorübergehend nicht von ihm kontrolliert wird, nach besten Kräften zu gewährleisten. Diese Pflicht besteht jedoch nicht unbegrenzt. Es wäre schlicht nicht realistisch, wenn ein geschädigter Staat uneingeschränkt verpflichtet wäre, seiner Bevölkerung in Gebieten, die von einem anderen Staat kontrolliert werden, das volle Spektrum an Rechten und Privilegien einzuräumen. Das ist eine sehr schwierige Situation – rechtlich, politisch, diplomatisch, humanitär und vor allem menschlich. Maßnahmen der Ukraine, die darauf zielen, die Versorgung der Halbinsel mit Nahrungsmitteln oder anderen lebenswichtigen Ressourcen zu behindern oder andere Staaten und Organisationen dazu zu drängen, wären wohl kaum rechtlich zulässig.
Zugleich sind solche Situationen selten ganz schwarzweiß zu sehen. Es müsste von Fall zu Fall beurteilt werden, inwiefern die Bemühungen seitens der Ukraine, ihrer Bevölkerung auf der Krim zu helfen, angemessen und ausreichend sind.
Die größte Schwierigkeit besteht darin, einerseits an der Politik der Nichtanerkennung und der damit einhergehenden Sanktionen festzuhalten und andererseits die Beziehungen zu den Bewohnern der Krim wieder anzuknüpfen und zu pflegen, die ja zudem noch massiven Einflüssen durch die Massenmedien ausgesetzt sind.
Gibt es denn nun ein universelles gültiges Völkerrecht, das das Verhalten aller Staaten regelt? Oder bleibt uns nur übrig, über russische, ukrainische, westliche und andere Auslegungen des Völkerrechts und seine Rolle in der internationalen Politik zu diskutieren?
Cindy Wittke: Aufgrund meiner Forschungsarbeit würde ich unterstreichen, dass Völkerrecht und Politik kaum als völlig getrennt voneinander betrachtet werden können. Andererseits ist die Sprache des Völkerrechts mehr als nur ein Instrument im Werkzeugkasten der internationalen Politik.
Der Gebrauch dieser Sprache wurzelt häufig in der Überzeugung, dass das Völkerrecht eine objektive Institution ist, die es uns ermöglicht, zwischen Recht und Unrecht in den Handlungen von Staaten zu unterscheiden. Dieser Glaube an die normative Kraft des Völkerrechts bedarf jedoch der kritischen Reflexion. Jüngste Debatten in der Völkerrechtswissenschaft drehen sich etwa darum, ob es nicht russische (und andere) Ansätze im Völkerrecht gibt – und letztlich darum, inwieweit das Völkerrecht wirklich international ist.
Wer und/oder was bestimmt denn, welche Normen und Interpretationen gelten? Meiner Meinung nach müssen wir uns bewusst machen, dass die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion seit 1991 vor der Herausforderung stehen, im Zuge ihrer Staatenbildung und umfassender Transformationsprozesse ihre eigene Politik des Völkerrechts in der internationalen Politik zu formulieren und umzusetzen. Die Interaktion der Staaten im postsowjetischen Raum ist von einer starken Konfliktdynamik gekennzeichnet – die Annexion der Krim und der Ausbruch gewaltsamer separatistischer Konflikte in der Ostukraine im Jahr 2014 ist ein Beispiel dafür. In der Folge wurde die internationale Staatengemeinschaft mit unterschiedlichen Auslegungen des Völkerrechts konfrontiert, die grundlegende Prinzipien der internationalen und regionalen rechtlichen und politischen Ordnung(en) in Frage zu stellen scheinen.
Deshalb müssen wir mehr Stimmen aus der Region hören und die Völkerrechtsdebatte ernsthaft führen, ohne die Ukraine, Russland und die sogenannte »Ukraine-Krise« zu »orientalisieren«.
Maria Issaeva: Es ist nicht schwer, Beispiele dafür zu finden, dass die mächtigsten Akteure sich aus Eigeninteresse nicht an das Recht halten. In dieser Hinsicht ist Russland kein Sonderfall. Keines der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, die 1945 mit der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit betraut wurden, ist dieser positiven Verantwortung gerecht geworden – das lässt sich aus heutiger Sicht kaum bestreiten. Von jedem dieser Staaten ließe sich so gesehen sagen, dass er kein Wahrer des universellen Völkerrechts ist, sondern es im Gegenteil erheblich gefährdet.
Bei jeder Rechtsauffassung im Allgemeinen und bei der Auslegung des Völkerrechts im Besonderen sind mit Sicherheit länderspezifische Aspekte im Spiel. Das gilt sowohl für die Kodifizierung und Anwendung des Rechts als auch für Verstöße dagegen. So ist etwa die russische Regierung sehr daran gewöhnt, in einem einheitlichen politischen Umfeld zu agieren. Sie muss keine Kompromisse mit und zwischen verschiedenen Akteuren der Zivilgesellschaft eingehen, sondern kann das nationale Recht zugunsten ihrer Eigeninteressen verbiegen und missbrauchen. Irgendwann kommt es ihr dann vielleicht ganz selbstverständlich vor, das auch mit dem Völkerrecht zu versuchen. In dieser Hinsicht könnte es sinnvoll sein, die Rechtsauffassungen der einzelnen Nationalstaaten zu analysieren, auch in Bezug auf das Völkerrecht.
Kateryna Busol: Als Anwältin und als Bürgerin eines vom Krieg betroffenen Landes schmerzt es mich, zuzugeben, dass die Auslegung und Anwendung des Völkerrechts, das seinem Namen nach international sein soll, oft stark von der innenpolitischen Agenda beeinflusst wird. Es ist mittlerweile recht gängig, die Universalität des Völkerrechts in Frage zu stellen und zu fordern, dass ein breiteres Spektrum an Auslegungen in den Blick genommen werden müsse. Interessanterweise führen solche Aufrufe in der Regel zu einer näheren Befassung mit der russischen, chinesischen oder brasilianischen Auslegung des Völkerrechts – aber kaum je mit der vietnamesischen, guatemaltekischen oder ukrainischen.
Zugleich ist es manchmal möglich, Probleme trotz der schwachen Durchsetzbarkeit des universellen Völkerrechts und trotz seiner innenpolitischen Instrumentalisierung zu lösen:
Das absehbare Veto des UN-Sicherheitsrates, gegen internationale Bemühungen die in Syrien begangenen Kriegsverbrechen zu verfolgen, etwa, hat dazu geführt, dass in Deutschland, den Niederlanden und Schweden zahlreiche innerstaatliche Verfahren nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit für Menschenrechtsverbrechen eingeleitet wurden.
Auch nach dem Veto des UN-Sicherheitsrats gegen die Einberufung eines Ad-hoc-Tribunals zum Abschuss des Fluges MH17 wurde das Gemeinsame Ermittlungsteam gebildet – und es wurden entsprechende innerstaatliche Verfahren in den Niederlanden eröffnet.
Deshalb ist zu hoffen, dass die politisierten Rechtsdebatten bestimmter Staaten eine Lösung im Fall der Ukraine nicht dauerhaft behindern, sondern neue Möglichkeiten erschließen werden, den Fall auf inländischer oder regionaler Ebene rechtlich zu bearbeiten.
Übersetzung aus dem Englischen: Anselm Bühling
Über die Autorinnen:
Kateryna Busol ist eine ukrainische Rechtsanwältin, die sich auf internationale Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und das Strafrecht spezialisiert hat. Sie hat die ukrainische Seite im Rechtsstreit um das Skythengold beraten. Seit 2015 ist sie für Global Rights Compliance (GRC) tätig. Hier berät sie Akteure des ukrainischen Staats und NGOs zu bewährten Verfahren bei der Ermittlung und Verfolgung internationaler Straftaten und zur Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC). Kateryna Busol war Stipendiatin am Kennan Institute und Visiting Professional am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.
Maria Issaeva ist praktizierende Rechtsanwältin und lebt in der russischen Hauptstadt Moskau. Sie ist geschäftsführende Gesellschafterin der Kanzlei Threefold Legal Advisors LLC, die sie 2011 mitgegründet hat. In dieser Eigenschaft hat sie Mandanten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und inländischen Gerichten vertreten. Zuvor war sie unter anderem als Anwältin mit A-Status am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und als Partnerin bei White & Case LLC (Moskau) tätig. Seit 2016 ist sie Vorstandsmitglied der European Society of International Law.
Cindy Wittke ist Leiterin der Nachwuchsgruppe Frozen and Unfrozen Conflicts am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg. Ihre Promotion im Völkerrecht bildete die Grundlage ihres Buches Law in the Twilight – International Courts and Tribunals, the Security Council and the Internationalisation of Peace Agreements between State and Non-State Parties, das 2018 bei Cambridge University Press erschien. Derzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Buchprojekt ‘Test the West’ – Contested Sovereignties in the post-Soviet Space und leitet seit März 2019 die vom BMBF geförderte Projektgruppe Politiken des Völkerrechts im postsowjetischen Raum.