20 Jahre Putin – Rückkehr der Innenpolitik

Von Fabian Burkhardt (Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin)

Resilient und anpassungsfähig

Im August 1999 wurde Wladimir Putin vom damaligen Präsidenten Boris Jelzin zum Premierminister ernannt und zu dessen Nachfolger designiert. Zu Anfang der dritten Dekade an der Macht sieht sich Präsident Putin im Jahr 2019 mit einer ganzen Reihe innenpolitischer Herausforderungen konfrontiert, die sich aus einer Kombination von struktureller Reformunfähigkeit, gestiegenen gesellschaftlichen Forderungen nach Wandel, Veränderungen im Medienkonsum weg vom Fernsehen hin zu Internetressourcen und sozialen Medien sowie der Unsicherheit innerhalb der Elite über das Nachfolgeproblem 2024 ergeben. Die Dauerhaftigkeit des Regimes liegt einerseits in der bisher formidablen Resilienz gegenüber inneren und äußeren Schocks sowie in intakten Krisenmanagementmechanismen begründet. Gleichzeitig ist das Regime in dem Sinne nicht »stabil«, insofern es sich trotz politischer Stagnation als wandlungsfähig erweist und in der Lage ist, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen. Um die Machtsicherung des »kollektiven Putins« zu gewährleisten, gilt es aus Sicht des Kremls schon jetzt, proaktiv den großen Wahlzyklus mit den Dumawahlen 2021 und den Präsidentschaftswahlen 2024 wasserdicht zu machen. Zentraler Baustein hierfür ist die Verfassungsmehrheit von »Einiges Russland« (ER) in der nächsten Duma, die mit 301 (derzeit 341) Sitzen von Generalsekretär Andrej Turtschak auf dem Parteikongress am 23. November 2019 als Minimalziel ausgegeben wurde.

Regionalwahlen: Trend von 2018 gestoppt, Erosion von ER hält an

Putins vierte Amtszeit begann innenpolitisch holprig. Die im Mai 2018 ernannte Regierung zeichnet sich durch personelle und inhaltliche Kontinuität aus. Auch die Nationalprojekte zeugen von politischer Visionslosigkeit für die Zukunft Russlands. Zwar sind viele der Zielvorgaben durchaus erstrebenswert. Allerdings wurden zentrale Politikfelder wie etwa die Reform der Staatsverwaltung und des Justizwesens ausgespart, und laut Weltbank ist die prognostizierte Auswirkung auf das Wirtschaftswachstum mit 0,1 Prozent im Jahr 2020 und 0,2 bis 0,3 Prozent im Jahr 2021 insgesamt gering. Im besten Fall sind die Nationalprojekte als technokratisches Mobilisierungsinstrument für die behäbige Bürokratie und als fine tuning des Regimes zu verstehen. Die wie aus heiterem Himmel verkündeten Rentenerhöhung und Steueranhebung wirkten sich für den Kreml unerwartet deutlich auf die Regionalwahlen im September 2018 aus, bei denen vier Gouverneure im ersten Wahlgang verloren und ER deutliche Einbußen erlitt.

Insgesamt lässt sich für die Regionalwahlen im September 2019 festhalten, dass diese im Großen und Ganzen aus Sicht des Kremls als Erfolg zu verbuchen sind. Alle sechzehn direkt gewählten Gouverneure erzielten in der ersten Runde eine deutliche Mehrheit. Der Mix aus Wahlmanipulation und politischen Technologien zeugt von der Anpassungsfähigkeit des Kremls: In 80 Prozent der Regionen entließ Putin die amtierenden Regionalchefs vorzeitig und ernannte Interimsgouverneure. 2013 hatte sich der Anteil der vorzeitigen Entlassungen noch auf ein Drittel der Regionen beschränkt. Die Einführung der Direktwahl der Gouverneure im Jahr 2012 wird sukzessive durch die Praxis der Quasi-Ernennung aus Moskau unterwandert. Sechs der sechzehn Gouverneurskandidaten traten zudem als Unabhängige an, um sich nicht mit dem Negativimage von ER zu schaden. Besonders auffällig war, dass sechs Kandidaten der systemischen Oppositionsparteien nicht zu den Wahlen zugelassen wurden, obwohl insbesondere die Kommunistische Partei (KPRF) und die rechtsnationalistische LDPR traditionell die stärksten Gegenkandidaten stellen. Diese prophylaktische Sterilisierung im Vorfeld bescherte selbst unpopulären Kandidaten wie Aleksandr Beglow in St. Petersburg bei zum Teil niedriger Wahlbeteiligung deutliche Siege. Für ER fiel die Bilanz durchwachsen aus. Einerseits brach die »Partei der Macht« bei den zwölf Regionalparlamentswahlen spürbar ein, sie erzielte im Schnitt 16 Prozent weniger als bei den Regionalwahlen 2014 und 11 Prozent weniger als bei der Dumawahl 2016. ER erlangte dabei immer noch über 50 Prozent der Stimmen auf der Parteiliste, in drei Regionen blieb die Kreml-Partei allerdings unter 40 Prozent. Profiteure waren vor allem die KPRF, die im Schnitt mit 15,5 Prozent 6 Prozent mehr Stimmen erlangte als noch 2014. Die LDPR konnte sich gar um 8,1 Prozent auf knapp 15 Prozent steigern. Andererseits blieb ER mit 73 Prozent der Direktmandate aus den Einerwahlkreisen zwar deutlich hinter der mit 94 Prozent fast absoluten Dominanz aus dem Jahr 2016, allerdings konnte der Sinkflug vorerst gestoppt werden, der 2018 mit 71 Prozent ein vorläufiges Minimum erreicht hatte (https://novayagazeta.ru/articles/2019/10/26/82505-vstrechnaya-mobilizatsiya).

Duma-Wahlkampf 2021 vorzeitig eröffnet

ER demonstrierte im Jahr 2019 historisch schlechte Umfragewerte: Laut dem unabhängigen Lewada-Zentrum wären nur knapp unter, und nach dem staatlichen WZIOM knapp über 30 Prozent aller Befragten bereit, bei den nächsten Parlamentswahlen für ER zu stimmen. Vor den Dumawahlen 2016 lagen die Umfragewerte bei knapp über 40 Prozent. Um die Verfassungsmehrheit zu erreichen, müsste ER Schätzungen zufolge bei 40–45 Prozent im Parteisegment zwischen 85 und 90 Prozent der Direktmandate erzielen. Aufgrund der Umfrageflaute kursierten im Sommer 2019 Gerüchte, dass der Kreml plane, für die Dumawahl 2021 die Proportion im Grabenwahlsystem von 50/50 Prozent auf 75/25 Prozent zugunsten der Direktmandate zu ändern, da ER im Parteisegment deutlich schlechter abschneidet. Aufgrund der großen Variation der regionalen Wahlregeln, die unterschiedlichste Proportionen zwischen Proporz und Majorz aufweisen, dienten die Regionalwahlen als natürliches Experimentierfeld.

Obwohl hinsichtlich des Wahlrechts für das Jahr 2021 sicherlich noch keine endgültige Entscheidung gefallen ist, lassen die Regionalwahlen mindestens zwei Schlüsse zu. Erstens demonstrierte der Moskauer Protestsommer, dass Direktmandate auch Risiken bergen: Moskau ist die einzige Region, in der alle 45 Sitze des Regionalparlaments über Direktmandate verteilt werden. Infolge der Protestwahl verringerte sich die von Bürgermeister Sergej Sobjanin und ER unterstützte Fraktion im Moskauer Parlament um 13 Sitze: von 38 auf 25. Zumindest in Moskau war auch die Technologie gescheitert, administrative Kandidaten als »Unabhängige« und nicht als ER-Mitglieder antreten zu lassen. Zweitens würden mehr Direktmandate ER als »Partei der Macht« schwächen und zu einer Gewichtsverschiebung hin vom föderalen Zentrum zu den Regionen und einzelnen finanzstarken Kandidaten führen, was wiederum zu einer heterogeneren ER-Dumafraktion führen würde. Der Herbst 2019 markierte somit nicht nur den offiziellen Beginn des Wahlkampfs für die Dumawahl 2021, sondern brachte auch ein klares Bekenntnis des Kremls zu ER als tragendem Stützpfeiler des Systems mit sich. Präsident Putin bekräftigte auf seiner Parteitagsrede am 23. November 2019 die Rolle von ER als »herrschender Partei«, die aber gleichzeitig auch Kontrolle der Bürokratie bei der Umsetzung der Nationalprojekte ausüben sollte, sowie als »Partei der Mehrheit« der Gesellschaft.

Der Parteivorsitzende Dmitrij Medwedew forderte mit einem gewollten Seitenhieb auf den Dauerkonkurrenten Sobjanin die Gouverneure auf, sich öffentlich zu ER zu bekennen und die Sekretärsposten der regionalen ER-Parteiorganisationen zu übernehmen.

Nachfrage nach Wandel als innenpolitische Herausforderung von unten

Im Verlauf des Jahres 2019 kristallisierten sich zwei parallel verlaufende Agenden seitens der Gesellschaft heraus. Zum einen sind dies Forderungen nach freien und fairen Wahlen, regelmäßigem Machtwechsel, Freiheitsrechten und Rechtsstaatlichkeit und nach dem Ende staatlicher Repressionen gegen Andersdenkende. Im November sprachen sich etwa 51 Prozent der Befragten einer WZIOM-Umfrage dafür aus, dass von Zeit zu Zeit die »Partei der Macht« (also ER) wechseln sollte (https://wciom.ru/index.php?id=236&uid=10013). Manifest wurden diese Forderungen vor allem bei den Protesten gegen die Festnahme des Journalisten Iwan Golunow und im Vorfeld der Moskauer Stadtparlamentswahlen, als die Protestierenden von der breiteren Bevölkerung mehr Sympathie ergatterten als die repressiv agierende Staatsmacht (https://www.levada.ru/2019/10/09/bolee-treti-rossiyan-schitayut-prigovory-po-moskovskomu-delu-politicheski-motivirovannymi/). Besonders ausgeprägt sind diese politischen Forderungen bei der nicht-systemischen Opposition sowie vor allem in der Hauptstadt und anderen Millionenstädten. Zweitens lässt sich in soziologischen Umfragen ein längerfristiger Trend verorten, demzufolge immer größere Bevölkerungsteile Wandel anstatt Stabilität bevorzugen, wobei hier vorrangig eine Verbesserung der sozioökonomischen Lage eingefordert wird. So gaben im Juli 2019 59 Prozent der Befragten an, dass entschiedene, umfassende Veränderungen notwendig seien. Auf Platz 1 der Forderungen standen höhere Gehälter, Renten und insgesamt ein besserer Lebensstandard (https://carnegie.ru/2019/11/06/ru-pub-80273). Im Weiteren glauben 72 Prozent der Bevölkerung, dass die Interessen der Staatsmacht und der Bevölkerung nicht kongruent sind, ein Höchstwert seit 2007 (https://www.levada.ru/2019/11/28/obshhestvo-i-gosudarstvo/). Anfang Dezember gaben 68 Prozent an, dass Änderungen an der Verfassung des Landes vorgenommen werden sollten, ein Anstieg um 24 Prozent seit 2013. Am beliebtesten zeigten sich auch hier Verfassungsänderungen im Bereich Sozialpolitik (https://fom.ru/Bezopasnost-i-pravo/14307).

Die innenpolitische Herausforderung des Kremls besteht darin zu verhindern, dass sich diese beiden Nachfragen nach politischem Wandel einerseits und Verbesserung der sozialen Lage der breiteren Bevölkerung andererseits im Vorfeld der Dumawahl 2021 zu einer Welle des Unmuts vereinen, die eine Verfassungsmehrheit von ER in der nächsten Duma zum Scheitern verurteilen könnte. Denn Russlands elektoraler Autoritarismus ist etwas pluralistischer geworden und nähert sich in einigen Regionen der Kompetitivität, die zuletzt Mitte der 2000er zu verzeichnen war. Erst 2021 wird sich zeigen, inwieweit die sich verändernde innenpolitische Wetterlage sich auch auf die föderale politische Landschaft auswirken wird.

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