Das Protestjahr 2019
Von Jan Matti Dollbaum (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)
War das Jahr 2019 in Russland ein Jahr der Proteste? Legt man die Medienberichterstattung zugrunde, so muss die Antwort »ja« lauten. In Moskau demonstrierten Tausende für den Journalisten Iwan Golunow, dem die Polizei – mutmaßlich wegen seiner Korruptionsrecherchen – Drogen untergeschoben hatte. Später protestierten über 50.000 Menschen gegen Polizeigewalt und die Nichtzulassung unabhängiger KandidatInnen bei der Wahl zum Moskauer Stadtparlament. In Archangelsk wurde währenddessen gegen den Bau einer Deponie für Müll aus der Hauptstadt mobilisiert, in Jekaterinburg gab es Proteste gegen den Bau einer Kathedrale in einem Stadtpark, und in verschiedenen Regionen forderten Angestellte im Gesundheitswesen bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. All diese Ereignisse erregten mediale Aufmerksamkeit und fanden teils sogar international Beachtung. Doch gibt es im Vergleich zu den Vorjahren tatsächlich quantitative und qualitative Unterschiede?
In den Umfragen des Lewada-Zentrums ist sowohl der Anteil derjenigen Befragten, die (ökonomische) Proteste in ihrer Region für wahrscheinlich halten, als auch der Anteil derjenigen, die sich selbst an solchen Protesten beteiligen würden, zwischen 2015 und Sommer 2018, dem Zeitpunkt der Proteste gegen die Rentenreform, deutlich angestiegen – seither allerdings wieder leicht zurückgegangen (siehe Grafik 1 auf S. 3). Verlässliche Zahlen zu tatsächlichen Protestereignissen im laufenden Jahr stehen noch aus. Untersuchungen vergangener Jahre legen jedoch nahe, dass die in Umfragen gemessene Protesterwartung und -bereitschaft eher die Bewertung der Gesamtlage (siehe Semenov 2019) und die Bewertung politischer Eliten und Institutionen abbilden, als dass sie direkt mit Protesten in Verbindung stünden.
Qualitativ unterscheiden sich die vielbesprochenen Protestereignisse des Jahres 2019 auf den ersten Blick wenig von denen früherer Jahre. Thematisch bilden sie recht genau das traditionelle Spektrum ab: Umweltprobleme, Konflikte um urbane Grünanlagen, Beschneidung demokratischer Rechte, Korruption und Repression, soziale und/oder ökonomische Forderungen. Ebenfalls nicht neu ist, dass ein Brückenschlag zwischen politischen Protesten und oft explizit »unpolitischen« sozialen und ökologischen Protesten wiederholt gefordert und angestrebt wird, aber nur in Einzelfällen gelingt.
Neues findet sich weniger in den Protesten selbst als vielmehr in den Reaktionen, die sie hervorrufen. Erstens erfahren Proteste – auch in den Regionen – größere Aufmerksamkeit von unabhängigen und oppositionellen Medien. Zweitens ziehen einige Anliegen mittlerweile die Solidarität von Gruppen außerhalb oppositioneller Milieus oder direkt Betroffener auf sich – siehe etwa die kritischen Reaktionen regierungsfreundlicher JournalistInnen auf die Verhaftung Golunows und die Aussprache zahlreicher Künstler für die Opfer der Repressionen in Moskau. Drittens sahen sich auch die politisch Verantwortlichen in vielen Fällen zu Konzessionen gezwungen: der Bau der Kathedrale in Jekaterinburg wurde verlegt, die Arbeiten an der Mülldeponie in Schijes (im Gebiet Archangelsk) wurden unterbrochen und die Ermittlungen gegen Golunow eingestellt.
Jedoch: Der konzertierte Gewalteinsatz der Polizei im Zentrum Moskaus anlässlich der Wahlproteste und die mehrjährigen Freiheitsstrafen für einzelne Protestierende weisen darauf hin, dass sich aus einigen Teilerfolgen keine Prognose für eine generell höhere Kompromissbereitschaft ableiten lässt. Im Gegenteil: Wenn nötig, wird schnell klargestellt, wo die Grenzen sind. Dies zeigen auch die Repressionen gegen Alexej Nawalnyjs regionales Netzwerk im Oktober und November 2019 und die Verschärfung des Gesetzes über »ausländische Agenten«, auf dessen Basis nun auch Einzelpersonen zu solchen Agenten erklärt werden können.
Dass die politische Führung in der heutigen Situation zu härterer Gangart bereit ist, heißt wiederum nicht, dass dies für immer gelte oder dass politische Veränderungen ausgeschlossen wären. Dafür aber wäre es notwendig, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung dem Präsidenten Wladimir Putin das Vertrauen entzieht (siehe z. B. Greene und Robertson 2019). Auch in einem solchen Szenario wären Proteste allerdings eher eine Begleiterscheinung der gesellschaftlichen Umwälzungen – und wohl kaum ihre Ursache.