Am 15. Januar 2020 hat Präsident Putin in seiner alljährlichen Rede vor der Föderalversammlung der Russischen Föderation tiefgreifende Verfassungsreformen angekündigt. Dieser Ankündigung folgten zeitnah konkrete Vorschläge, die in die Staatsduma eingebracht wurden. In einem Beitrag für den Verfassungsblog hat Caroline von Gall eine detaillierte Übersicht sowie eine Analyse der vorgesehenen Änderungen und deren voraussichtlicher Auswirkungen auf die Gewaltenteilung in Russland vorgelegt.
Ihre Analyse und Argumentationslinie können an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden, doch führt uns beides, die Auflistung der Veränderungen und von Galls Analyse, zur Frage, warum das derzeitige Regime sich eigentlich die Mühe macht, sein eindeutig autoritäres Streben nach vermehrter und permanenter politischer Macht unter dem Mantel der Legalität und Legitimität einer Verfassungsreform zu verbergen. Sind also die angekündigten »Verfassungsreformen« und der sich daraus ergebende Verfassungstext mehr als machtpolitische Instrumente in den Händen eines Führers und einer ihn umgebenden kleinen Elite, mit deren Hilfe sie weiter an einem autoritären (Verfassungs)Staat bauen wollen? Letztlich scheint der begonnene »Reformprozess« zu nichts anderem als zu verstärktem Autoritarismus zu führen, der in eine Verfassungsänderung kodiert wird.
Dies ist nicht der Ort für abstrakte Reflexionen darüber, was eine »Verfassung« ist, wie sie geschaffen werden sollte, und darüber, was ihre Formen und Funktionen sind oder sein sollten. Die Encyclopedia Britannica definiert »Verfassung« als »[…] die Gesamtheit der Lehren und Praktiken, die das grundlegende Organisationsprinzip eines politischen Staates bilden.« Und Verfassungsrecht wird definiert als »die Gesamtheit der Regeln, Lehren und Praktiken, die die Arbeitsweise politischer Gemeinschaften steuern. In moderner Zeit ist die wichtigste politische Gemeinschaft der Staat.« Es lässt sich also sagen, dass moderne »Verfassungen« mit Vorstellungen von einem Vertrag (Gesellschaftsvertrag) also einem grundlegenden gemeinsamen Konsens-Dokument verbunden sind – ein Dokument, das das Verhältnis zwischen Volk und staatlicher Macht und letztlich die Souveränität eines Staates zum Ausdruck bringt. Wenn wir diese Definitionen mit den oben genannten Fragen verknüpfen, ergibt sich eine Parallele zu jüngeren Debatten über Verfassungsänderungen – bzw. -bearbeitungen oder -(re)interpretationen – in anderen postsozialistischen Ländern, etwa in Polen oder Ungarn. Es drängen sich aber auch Regionen übergreifende Vergleiche mit Staaten in Südamerika (z. B. Venezuela) und/oder in Asien (z. B. Thailand) auf.
Sogenannte Verfassungsreform-Prozesse, wie von Präsident Putin im Januar 2020 angestoßen – wobei er vermutlich die Wahljahre 2021 (Staatsduma) und 2024 (Präsident) in Russland im Blick hatte – werden in der wissenschaftlichen Literatur auch unter den Begriffen »missbräuchlicher Konstitutionalismus« (abusive constitutionalism) oder »autoritärer Konstitutionalismus/ Legalismus« diskutiert. Der Begriff »missbräuchlicher Konstitutionalismus« wird verwendet, wenn »[…] Verfassungsprozesse zur Verfolgung offensichtlich antidemokratischer Ziele genutzt werden oder, um Anliegen von vermutlichen Autokraten voranzutreiben, indem demokratische checks and balances hinsichtlich der Ausübung politischer Macht beseitigt werden. […] Durch eine Verfassungsänderung können politische Akteure beispielsweise die Beschränkungen für Amtszeiten ändern oder Institutionen wie etwa Gerichte unterminieren«[1]. Hier ist wichtig zu unterstreichen, dass im Zentrum der Diskussion über »missbräuchlichen Konstitutionalismus« auch zumeist der Missbrauch plebiszitärer und inklusiver Mechanismen wie allgemeinen verfassungsgebenden Versammlungen oder Volksabstimmungen stehen, die bei der Schaffung oder Änderung einer Verfassung eingesetzt werden.
Es scheint nun allerdings so, als wolle die russische Führung komplizierte Konsultationsprozess vermeiden, insbesondere dann, wenn es um die Einrichtung des neuen Staatsrates geht. Diese neue Institution in die russische Verfassung aufzunehmen und die Herrschaftsgewalt in Richtung dieser neuen Institution zu verschieben, hätte ein kompliziertes Procedere erforderlich gemacht, unter anderem z. B. eine Verfassungsversammlung oder sogar ein eigenständiges Referendum. Stattdessen wird der neue Staatsrat vermutlich in jenen Abschnitt der Verfassung aufgenommen, der die Befugnisse des Präsidenten der Russischen Föderation behandelt.
Die Bevölkerung kann immer noch aufgefordert werden, der gesamten (neuen) Verfassung, die sich aus dem Änderungspaket ergibt, im Rahmen eines Referendums zuzustimmen. Trotz solcher Akte, scheinen gerade die technokratischen Techniken der »Verfassungsreform« und ein erkennbares Streben nach Unbestimmtheit im Verfassungstext sowie einer daraus resultierenden strategischen institutionellen politischen und rechtlichen Ungewissheit Russland auf die gefährliche Bahn eines autoritären Konstitutionalismus/Legalismus zu führen.
Sind diese Überlegungen allein auf Russland bezogen oder gar rein akademischer Natur? Mitnichten. Sie führen uns – in Deutschland, in Europa, im sogenannten Westen – zu der Frage, 1) wie gut unsere Verfassungen gegen missbräuchliches und autoritäres Vorgehen »innerhalb« und mit der Verfassung geschützt sind, und 2) ob diese Techniken der »Verfassungsreform« (»missbräuchlicher« und »autoritärer Konstitutionalismus«) verschiedene andere Länder erreichen und dort (negativ) Schule machen können.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder
[1] Landau, David; Rosaling Dixon: Constraining Constitutional Changes, in: Wake Forest Law Review, 50.2015, Nr. 4, S. 859–890.