Warum die Menschenrechtsorganisation Memorial gerettet werden muss


Von Jens Siegert (Moskau)

Ist Memorial in Gefahr? Ja, wahrscheinlich. Ende vorigen Jahres eröffnete die Moskauer Staatsanwaltschaft insgesamt 28 Bußgeldverfahren gegen die Dachorganisation Memorial International (MI) und das Menschenrechtszentrum Memorial (MR Memorial), sowie die Vorsitzenden dieser juristisch eigenständigen, aber politisch und menschlich eng verflochtenen Organisationen Jan Ratschinskij und Alexander Tscherkassow. Inzwischen sind von Gerichten in erster Instanz in 26 Verfahren hohe Geldbußen verhängt worden, insgesamt 4.700.000 Rubel, etwa 60.000 Euro (nach Kurs vom 13.3.2020). Eine ständig aktualisierte Übersicht auf Russisch gibt es hier: https://docs.google.com/document/d/1a3eeeyUiPMUNxZt7zZbVWTPRvOcaug1BOUULtfpzbE0/edit.

Der Vorwurf in allen Fällen war, Publikationen nicht ausreichend als von »ausländischen Agenten« stammend gekennzeichnet zu haben. Von den rund 50 russischen Memorial-Mitgliedsorganisationen sind etwa 20 vom Justizministerium in den vergangenen Jahren zu »ausländischen Agenten« erklärt worden. Die wichtigste praktische Folge dieser zwangsweisen Kategorisierung (neben den damit einhergehenden zusätzlichen Berichtspflichten) ist die Pflicht, alle »öffentlichen Äußerungen« (so das Gesetz) mit dem Zusatz, die NGO sei »ausländischer Agent« zu versehen und so den eigenen Ruf zu schädigen. Wer das nicht macht, dem drohen verhängte Geldstrafen und danach die Schließung.

Memorial ist dieser Pflicht auf seiner Webseite, wenn auch zähneknirschend, nachgekommen (www.memo.ru). Dort steht nun ganz unten, dass das Justizministerium Memorial International, das formal die (mit dem MR Memorial und anderen juristisch eigenständigen Memorialorganisationen gemeinsame) Website verantwortet, am 4. Oktober 2016 zum »ausländischen Agenten« gemacht habe, dass Memorial damit aber nicht einverstanden sei und dagegen vor Gericht vorgehe. Dieser Hinweis wird von den Justizbehörden offenbar als ausreichend betrachtet. Jedenfalls gab und gibt es zu dieser Website keine Beanstandungen. Die jetzigen Anzeigen und Verfahren beziehen sich vor allem auf Accounts von Memorial in sozialen Netzwerken, wie Twitter, Facebook oder dem russischen vKontakte und auf Webseiten von speziellen Projekten, wie z. B. »Das ist direkt hier…« (»Это прямо здесь…«, https://topos.memo.ru), die Seite des Schülergeschichtswettbewerbs »Der Mensch in der Geschichte. Russland im XX. Jahrhundert« (https://urokiistorii.ru) oder die Datenbank mit Namen und Kurzbiographien von »Opfern des politischen Terrors in der UdSSR« (https://www.base.memo.ru).

Initiatorin all dieser Verfahren war die regionale Abteilung des Inlandsgeheimdienstes FSB in der nordkaukasischen Republik Inguschetien. Das bringt mich zu der Frage, was hinter diesen (und anderen) Attacken auf Memorial steht. Die ein wenig kuriose regionale Herkunft deutet eher darauf hin, dass es sich nicht um einen von oben initiierten allgemeinen Angriff handelt. Darauf deutet auch hin, dass nach dem Ende des vorigen Jahres initiierten Bußgeldverfahren bisher keine weiteren Verfahren folgten. Allerdings gehen die üblichen verbalen Angriffe auf Memorial und seine Aktivitäten in der kremlnahen Presse weiter. Auch der Druck auf den Schülergeschichtswettbewerb hatte in den vergangenen Monaten zugenommen und ließ erst nach der Regierungsumbildung im Januar etwas nach.

Wahrscheinlicher als eine konzertierte Aktion gegen Memorial scheint mir daher, dass diese Attacken Teil der ganz normalen (!) allgemeinen Zermürbungstaktik gegen unabhängige NGOs insgesamt und Memorial im Besonderen sind, die seit vielen Jahren zum Instrumentarium des russischen Staates gehört. Dutzende Gesetze, von denen die sogenannten »Agentenparagraphen« der NGO-Gesetze nur die bekanntesten und öffentlichkeitswirksamsten sind, machen ihnen das (alltägliche) Leben schwer, binden und verschlingen Ressourcen, die dann für die eigentliche Arbeit fehlen, zermürben und zwingen immer wieder NGOs zur Aufgabe, zumindest zur Aufgabe der Existenz als juristische Person. Diese ist aber in vielen Bereichen nötig oder zumindest hilfreich.

Für Memorial kommt ein Abtauchen in die informelle Sphäre aus vielen Gründen nicht in Frage. Zwei möchte ich hier hervorheben. Zum einen hat Memorial angesichts seiner Größe, seiner Themen und seiner Struktur inzwischen eine große symbolische Bedeutung für den russischen NGO-Sektor erlangt. Soziologischer ausgedrückt: Memorial ist systemrelevant. Das wird deutlicher, wenn man sich die Netzwerkstruktur Memorials vor Augen führt. Außerdem sind sowohl regionale als auch thematische Memorial-Organisationen in ihren jeweiligen Bereichen oft führend. Ich führe das hier nicht weiter aus, aber wer will, kann in meinem immer noch aktuellen Erklärstück von 2014 unter der Überschrift »Wie funktioniert Memorial« nachlesen, worum es geht (https://russland.boellblog.org/2014/10/11/wie-funktioniert-memorial-ein-kleiner-wegweiser-durch-eine-zugegeben-komplizierte-struktur/). Sollte es der Staat schaffen, Memorial zur Aufgabe zu bewegen, wäre kaum eine andere NGO noch sicher. Sollte der Staat sich entschließen, Memorial zuzumachen (was er fraglos jederzeit könnte), wäre das ein sehr starkes Signal in Richtung einer weiteren autoritären Verhärtung Russlands.

Zum Zweiten könnte die so wichtige Erinnerungsarbeit Memorials ebenso wie ein großer Teil der politischen Arbeit heute, kaum in angemessener Weise ohne die in den vergangenen 30 Jahren aufgebaute Infrastruktur fortgesetzt werden. Die Räumlichkeiten von Memorial in Moskau beherbergen neben Büros einen Veranstaltungssaal, ein Museum, eine Bibliothek und vor allem ein einmaliges Archiv zur politischen Verfolgung in der Sowjetunion. Neben diesen Räumen verfügt von allen unabhängigen NGOs in Moskau nur noch das Sacharow-Zentrum über eigene Veranstaltungsräume. In Zeiten von immer wiederkehrendem staatlichem Druck auf Universitäten und private Kultur- und Veranstaltungszentren, Räume für politisch nicht Genehmes nicht zur Verfügung zu stellen, ist Memorial ein wichtiger Anlaufs- und Kristallisationspunkt. Ähnliches gibt es nur noch in wenigen anderen Städten in Russland, wie die NGO-Etage am Ligowskij-Prospekt in St. Petersburg oder, wenn auch schon politisch eingeschränkt, das Jelzin-Zentrum in Jekaterinburg. Derartige Zentren sind in vielen Städten inzwischen auch Anlaufstellen für junge Leute und neue Aktivist/innen geworden, die mit ihren (meist informellen) Initiativen und Projekten Unterstützung und Beratung bekommen. Manche, wie die Polizeibeobachter/innen des OWD-Infos(https://ovdinfo.org), sind gleich unter die Memorial-Fittiche gerutscht. Andere arbeiten in freundlicher Partnerschaft und der Gewissheit, hier immer, wenn nötig, Unterstützung zu bekommen.

Was tut Memorial nun, um zu überleben? Wie geht die Organisation mit den hohen Geldbußen um? Der erste wichtige Schritt wurde, wie oben schon erwähnt, bereits früher getan: Memorial erkennt das »ausländische Agenten«-Label grundsätzlich nicht an und klagt dagegen, zusammen mit anderen russischen NGOs vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Auch alle Strafen, bisher ausschließlich Geldbußen, werden vor höheren Instanzen angefochten. Das ist, wie die jüngsten Verfahren zeigen, nicht sonderlich aussichtsreich, soll aber gegebenenfalls ebenfalls bis zum EGMR durchgefochten werden. Es ist aber auch nicht völlig aussichtslos. Zumindest einige auf völlig absurden Konstruktionen fußende Bußgeldbescheide konnten bereits in der ersten oder der zweiten Instanz angefochten werden. So sollte Memorial nach Meinung der Moskauer Staatsanwaltschaft zum Beispiel eine Geldstrafe dafür zahlen, dass der (übrigens Gazpromgehörende) Radiosender Echo Moskaus Texte von Memorial-Webseiten auf seine Webseite kopierte. Das fand selbst ein Moskauer Gericht nun doch sehr an den Haaren herbeigezogen und stellte das Verfahren ein.

Allerdings kann Memorial die Bußgeldbescheide nicht einfach ignorieren. Nichtzahlung gäbe dem Justizministerium die Möglichkeit, die Organisation ganz legal aufzulösen und über den Memorial-Besitz inklusive Räumlichkeiten, Archiv und Bibliothek nach eigenem Gutdünken zu verfügen. Aus diesem Grund hat Memorial schon Ende vorigen Jahres eine Crowdfunding-Kampagne initiiert. Bis heute (Stichdatum 15. März) sind 4.730.000 Rubel (rund 60.000 Euro) von mehr als 3.000 einzelnen Spender/innen zusammengekommen. Auf den Einwand, so werde doch nur Geld gesammelt, um es dann dem Staat zu geben, antwortet Memorial mit der Versicherung, man werde bis zur letzten Instanz, also dem EGMR, dafür kämpfen, die gezahlten Strafen zurückzubekommen, um mit dem Geld dann sinnvolle Projekte zu finanzieren. Die Chancen dafür stehen gar nicht einmal so schlecht. Der russische Staat befolgt bisher die Urteile des EGMR recht akkurat, wenn es um Entschädigungen, also finanzielle Fragen, geht. Daran dürften auch die jetzt beschlossenen Verfassungsänderungen nichts ändern. Nicht zu unterschätzen ist aber auch das politische Element dieser Spendenaktion, da sie die Angriffe in eine politische Aktion umwandelt und gleichzeitig zeigt, wie breit die Solidarität mit Memorial geht.

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