Einleitung
Es waren viele junge Menschen, die gegen Korruption, die Verhaftung des Journalisten Boris Golunov oder gegen die abgelehnte Registrierung von oppositionellen Kandidaten zur Stadtduma in Moskau, protestierten. Für den russischen Staat lag schnell der Verdacht nahe, dass die Art der Mediennutzung, der Zugang zu alternativen Informationen und die Koordinierung durch soziale Netze eine entscheidende Rolle bei den Protesten spielten – was sich danach in einer nochmals verstärkten Intensität der Regulierung von Inhalten im Netz widerspiegelte.
Die Proteste lenkten den Blick auf eine Jugend, der wahlweise unterstellt wird, als Generation Putin apolitisch angepasst zu sein oder aber diese Proteste wiederum anzuführen. Diese Widersprüchlichkeit war Anlass, Russlands Jugend durch eine Umfrage genauer zu betrachten. Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hat gemeinsam mit dem Lewada-Zentrum, einem der letzten unabhängigen Meinungsforschungsinstitute Russlands, eine Jugendstudie erstellt, in welcher neben vielen anderen Aspekten auch das Medienverhalten der Jugend erhoben wurde. Dazu wurden in einer repräsentativen Stichprobe 1.500 Jugendliche im Alter von 14 bis 29 Jahren befragt. Ergänzt wurde die quantitative Umfrage durch fünf Fokusgruppengespräche in drei Städten (Moskau, Nowosibirsk, Wologda).
Die Anfänge des Runets in der russischen Medienlandschaft
Welche Bedeutung haben die verschiedenen Medien und vor allem das Internet für die Jugend in Russland und was lässt sich daraus für die (digitale) Zukunft Russlands ableiten? Zum Verständnis der Daten ist ein kurzer Blick darauf notwendig, wie sich die Medienlandschaft in Russland seit dem Ende der Sowjetunion entwickelt hat. Russlands Medienwelt lässt sich in die zwei Bereiche einer streng regulierten und einer nahezu regulierungsfreien Sphäre unterteilen. Die Rundfunkmedien hatten für Oligarchen nach dem Zerfall der UdSSR im Zuge der Privatisierung einen doppelten Nutzen. Sie dienten als Instrument der politischen Einflussnahme und wurden auf der anderen Seite dazu genutzt, politische Gegner zu schädigen. Im Zuge der Schaffung der »Vertikale der Macht« und der damit verbundenen Begrenzung der Macht der Oligarchen wurden auch die Rundfunkmedien zunehmend konsolidiert und unter staatliche Kontrolle gestellt. Der Rundfunkbereich ist seitdem, mit wenigen nicht reichweitenstarken Ausnahmen, weitgehend staatlich kontrolliert.
Anders verhält es sich dagegen mit dem virtuellen Raum. Das Runet entstand noch in den letzten Jahren der Sowjetunion durch das Betreiben eines Moskauer Forschungszentrums. Mit der Perestroika und den aufkommenden Möglichkeiten privatwirtschaftlichen Handelns entstanden schnell die ersten Unternehmen, die das Potential dieser Technologie erkannten. In den frühen Jahren des unabhängigen Russlands konnte sich das Internet weitestgehend unreguliert verbreiten. Zwar gab es Bemühungen der Überwachung, aber die dafür zuständigen Behörden blieben unterfinanziert und die Technologie sehr schlicht. Der Fokus lag lange nicht auf dem Internet. Dies ermöglichte den Aufstieg großer russischer Internetriesen wie Yandex oder mail.ru, die den russischen Markt bis heute dominieren. Aufmerksamkeit erhielt der Bereich erst in größerem Umfang im Zuge der Proteste im Winter 2011/2012, die u. a. im Netz organisiert wurden. Seitdem wird die Regulierung des Runets massiv ausgebaut.
Der frühe unregulierte Start des Runets und seine kommerzielle Nutzung beförderte den schnellen Ausbau und eine schnelle Verbreitung des Mediums. Die niedrigen Preise für kabelgebundene und mobile Internetnutzung und die recht gute Qualität sind Ergebnisse dieses günstigen Starts.
Internetnutzung von Jugendlichen
Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass in der FES-Umfrage 95 % der Jugendlichen angaben, immer oder jeden Tag Zugang zum Internet zu haben. Nur 2 % geben an, überhaupt nicht in das Internet zu kommen. Dies ist im Vergleich zu einer gesamtrussischen Umfrage des Lewada-Zentrums ein sehr niedriger Wert. In der gesamten Bevölkerung geben 24 % an, keinen Zugang zum Internet zu haben. Dieser Unterschied verweist auf die größere Bedeutung des Internets für junge Menschen, die durchschnittlich 6 Stunden pro Tag im Netz verbringen, wobei die Hälfte der Befragten angaben, zwischen 2 und 5 Stunden das Internet zu nutzen. Dies ist im Vergleich zu deutschen Jugendlichen mit einer durchschnittlichen Nutzung des Internet von 3,7 Stunden laut Shell Jugendstudie von 2019, erheblich mehr. Im Vergleich dazu hat die Nutzung des Fernsehens deutlich an Bedeutung verloren. Im Durchschnitt schauen Jugendliche 3 Stunden pro Tag fern, wobei der Medianwert bei 2 Stunden liegt. Ganze 27 % gaben allerdings an, überhaupt kein Fernsehen mehr zu sehen. Dass dies ein Trend zu einem veränderten Nutzungsverhalten der Medien ist, zeigt sich auch daran, dass der Anteil derjenigen ohne TV-Konsum steigt, je jünger die Befragten sind. Während die Gruppe der 25- bis 29-Jährigen nur zu 17 % den Fernseher aus lassen, liegt der Anteil bei den 14- bis 17-Jährigen, also der Gruppe mit der größten Freizeit, bei 36 %.
Die sinkende Bedeutung des Fernsehens hängt stark mit dem veränderten Freizeitverhalten der Jugend, aber auch mit einer veränderten Nutzung von Quellen für Informationen zusammen. Befragt nach den häufigsten Freizeitaktivitäten kommen auf den ersten drei Positionen das Hören von Musik, Zeit mit der Familie verbringen und Filme schauen. Insgesamt also Aktivitäten, die vorwiegend im häuslichen Umfeld erfolgen. An vierter Stelle erst folgt das Ausgehen mit Freunden sowie sportliche Aktivitäten. Das Hören von Musik und das Sehen von Filmen erfolgt aber nicht mehr in linearen Medien, sondern vor allem über das Internet. Bedeutsam für das Freizeitverhalten ist auch die Kommunikation mit Freunden und Verwandten, die in einem großen Umfang im sozialen Netz stattfindet. Nur 15,7 % der Jugendlichen gaben an, soziale Medien selten oder gar nicht zu nutzen. Auch hier gibt es einen Trend, der die Veränderung deutlich macht. Unter den 14- bis 20-Jährigen sind 90 % im sozialen Netz unterwegs, bei den 25- bis 29-Jährigen sind es zehn Prozent weniger. Insgesamt ist die Nutzung intensiv; so geben 77 % aller Befragten an, bis zu 200 Freunde bzw. Follower im Netz zu haben. Die Nutzung des Internets ist damit stark durch die Kommunikation mit Freunden und Verwandten (78 % häufig bzw. mindestens einmal die Woche) und die Nutzung von sozialen Medien (84 % häufig bzw. mindestens einmal die Woche) geprägt.
Allerdings ist die gewachsene Bedeutung des Internets nicht nur auf Freizeitaktivitäten zurückzuführen. Für Schule, Bildung und Arbeit nutzen 58 % und für Nachrichten und Informationen sogar 64 % das Internet oft bzw. mindestens einmal die Woche. In den Fokusgruppen wurde deutlich, dass das Fernsehen als Medium der Information stark in Frage gestellt wird. Kritisiert wurde die einseitige Berichterstattung, und dass im Fernsehen nicht gezeigt wird, was »auf der Straße« wirklich geschieht. Das Medium Fernsehen scheint sowohl in der Freizeit als auch zur Informationsgewinnung an Bedeutung zu verlieren; ein Medium, welches der stärksten staatlichen Kontrolle unterworfen ist. Bestätigt wird dies durch die Antwort auf die Frage, aus welchen Quellen Jugendliche hauptsächlich Informationen zu politischen Ereignissen schöpfen. Hier antworteten 84 %, dass sie diese aus dem Internet beziehen, 50 % aus dem Fernsehen, gefolgt von 26 %, die auf das soziale Netz zurückgreifen. Gespräche mit Freunden (19 %) und Verwandten (18 %) als Informationsquellen für politische Informationen sind bereits deutlich weniger bedeutsam. Gänzlich zur Randerscheinung geworden, sind das Radio mit 9 % und die Tageszeitung mit 5 %. Aus der Studie lässt sich eine leichte Tendenz ablesen. Jugendliche nutzen das Internet häufige, wenn sie besser gebildet sind (90 % der Befragten mit Hochschulabschluss), wirtschaftlich besser gestellt (88 % zu 77 % der Ärmeren) und in größeren Städten leben (86 – 90 % im Vergleich zu 78 % in ländlichen Gegenden). Natürlich hängt dies u. a. mit der Verfügbarkeit des Internets und vor allem von Geräten zur regelmäßigen Nutzung zusammen. Herausstechend sind dabei die Moskowiter Jugendlichen, unter denen nur 34 % angaben, das Fernsehen als wichtige Informationsquelle für politische Ereignisse zu nutzen. Allgemein erwiesen sich die Moskauer als kritischer, unzufriedener mit der Lage im Land und stärker an Migration interessiert als alle anderen Gruppen der Studie, was sich auch im Medienverhalten niederschlägt.
Politischer Informationsraum Internet
Das Internet ist der Informationsraum der politisch Interessierten und derjenigen, die Veränderungen anstreben. Schaut man sich das Profil derjenigen Jugendlichen an, die ihre politischen Informationen stärker aus dem Internet erhalten, so lassen sie sich wie folgt charakterisieren: Sie sind im Allgemeinen mit der Lage im Land weniger zufrieden. Ihr Vertrauen in den Präsidenten, sowie die Zufriedenheit mit dem Zustand der Demokratie sind niedriger. Sie sind stärker an Veränderung interessiert, vertrauen zivilgesellschaftlichen Organisationen als Trägern von Veränderungen stärker und bewerten die Teilnahme an zivilgesellschaftlichen Aktivitäten als wichtiger. Auch Jugendliche, die eine persönliche Veränderung ihrer Lebenssituation durch Emigration erwägen, suchen sich ihre Informationen häufiger im Internet. Vor allem Jugendliche, die sich als politisch »liberal« verorten würden, informieren sich stärker im Internet zu Politik. Unter ihnen gaben 92 % an, das Internet als wichtige Quelle für politische Informationen zu nutzen. Bei Verfechtern einer »Politik der starken Hand« sind es nur 75 %.
Hingegen wird das Fernsehen als Quelle für politische Informationen stärker von Jugendlichen genutzt, die man als wert-konservativ bezeichnen könnte. Diejenigen, die eine stärkere Abneigung gegen Homosexuelle haben und Abtreibung als nicht oder kaum zu rechtfertigen erachten, schalten eher das TV-Gerät ein als ihre Altersgenossen.
Man kann durchaus abschließend sagen, dass diejenigen Jugendlichen, die ihre persönliche Zukunft skeptisch sehen, politische Informationen eher aus dem Fernsehen beziehen. Jugendliche, die hingegen ihre persönliche Lage ändern wollen, die zukünftige Entwicklung des Landes jedoch negativ sehen, beziehen eher ihre Informationen aus dem Internet. In erster Linie ist dieser Unterschied allerdings vermutlich durch die soziale Lage der Jugendlichen bedingt, die eine Internetnutzung erschwert.
Kritisches Denken im Internet und Engagement außerhalb
Die Internetnutzung zum Zweck der politischen Information entwickelt sich zu einem Marker für kritischere Positionen und stärkere Veränderungsorientierung. Allerding bewirkt eine intensivere Nutzung des Internets natürlich nicht automatisch die Aufnahme von kritischen oder gar demokratisch orientierten Informationen. Denn auch der Staat und staatsnahe Medienprojekte sind intensiv in den sozialen Netzen und dem Internet präsent und erreichen große Auditorien. Folglich geben z. B. Jugendliche, die sich als russische Nationalisten verorten, das Internet überdurchschnittlich als Informationsquelle für politische Informationen an. Die Jugendlichen in unsren Fokusgruppen waren sich der Ambivalenz der Informationen im Netz durchaus bewusst und zeigten sich diesen Informationen gegenüber skeptisch. Daher nutzten politisch Interessierte nicht nur das Internet, sondern auch alle anderen Medien insgesamt mehr. Sie versuchen sich stärker aus den verschiedenen Quellen ein Gesamtbild der Lage zu schaffen.
Die Wahl des Internets als bevorzugtes Medium bedeutet vorerst nur, dass jungen Menschen mehr als die ältere Generation die Möglichkeit haben, alternative Interpretationen der Geschehnisse zu erhalten. Dass dies nicht automatisch zu einem höheren Engagement führt, zeigen die Ergebnisse der Studie ebenfalls. Nur 19 % der Befragten sind an Politik interessiert bzw. sehr interessiert. Nur 10 % haben bisher an Demonstrationen teilgenommen, 11 % haben sich an politischen Aktivitäten online oder im sozialen Netz beteiligt. Nur 1 % hat bereits politische Funktionen übernommen, 7 % würde das gern machen, aber 66 % der Jugendlichen nicht oder eher nicht. Insgesamt ist die Bereitschaft zum politischen Engagement unter den aktuellen Bedingungen nicht sehr hoch.
Einerseits ist das Internet zwar der Raum der politisch Aktiven, andererseits ist politisches Engagement derzeit kein Massenphänomen. Demgegenüber stehen zunehmend Bemühungen des Staates, den virtuellen Raum stärkerer Kontrolle zu unterwerfen. Wie werden sich diese Regulierungsbestrebungen weiter entwickeln? Wird Russland den Weg Chinas zu einer vollen Kontrolle der Informationen im Netz folgen? Die Ergebnisse dieser Studie lassen vermuten, dass dies nicht das wahrscheinlichste Szenario ist. Die Verbreitung und Akzeptanz des Internets ist in der gesamten Bevölkerung dank des unregulierten Starts des Runet in den 1990er Jahren hoch. Besonders aber für Jugendliche ist das Netz für Freizeit, Information und Kommunikation unerlässlich geworden. Daher wird eine Beschränkung der Nutzung weiterhin auf erheblichen Widerstand stoßen. Da ein erheblicher Teil der Kommunikation zwischen Freunden und Familie über das soziale Netz erfolgt, sind die Befindlichkeiten zur Einschränkung oder Überwachung dieser Dienste spürbar. Gezeigt hat sich dies unter anderem an der Unterstützung für den Unternehmer Pavel Durov und seinen Messengerdienst Telegram. Durov weigerte sich, die Verschlüsselung der Kommunikation russischen Geheimdiensten offenzulegen. Dass die daraufhin verhängte Sperre des Dienstes bis heute nicht effektiv vollzogen werden konnte, bleibt eine offene Wunde der Sicherheitsdienste, die eventuell mit dem »souveränen Internet« geheilt werden soll. Mit diesem Vorhaben soll das Runet im Bedarfsfall vom globalen Netz abgekoppelt werden können, um »Angriffe von außen« abzuwehren. Nachdem es aber bereits beim Versuch der Sperre von Telegram Proteste gab, bliebe diese Isolierung des russischen Netzes wohl nicht ohne größere Gegenwehr. Der Kreml wird daher vermutlich nicht den chinesischen Weg der kompletten Kontrolle des Internets gehen, sondern versuchen, durch entsprechende Gesetzgebung und fallweise Anwendung auf Selbstzensur hinzuwirken und seine eigene Präsenz im virtuellen Raum stärken. Ob das dann am Ende überzeugend ist, wird die Jugend entscheiden.