Russlands Machtvertikale bröckelt. Die sinkenden Realeinkommen sorgen für Unzufriedenheit

Von Maria Snegovaya (Virginia Polytechnic Institute and State University (Virginia Tech), USA)

Zusammenfassung
Wirtschaftliche Faktoren sind für die Unterstützung föderaler Behörden in den russischen Regionen bedeutsam. Wladimir Koslow und Maria Snegovaya zeigen in einer Studie über die Wahlergebnisse von Gouverneurskandidaten, die vom Kreml unterstützt wurden, dass die Wahlergebnisse der Kreml-Kandidaten und die Entwicklung der real verfügbaren Einkommen in einem signifikanten Zusammenhang stehen. Die Ergebnisse dieser Studie werden dann auf die Regionalwahlen am 13. September 2020 übertragen. Der Kreml war aufgrund der durch die Pandemie hervorgerufene Wirtschaftskrise gezwungen, auf massive und bisher beispiellose Wahlmanipulation zurückzugreifen, um den vom Kreml vorher ernannten Kandidaten ins Amt zu helfen. Die Krise war Anlass dafür, dass derart einschneidend in die Wahlgesetzgebung eingegriffen wurde wie schon seit 25 Jahren nicht mehr. Bei Wahlen, die vom Kreml weniger direkt kontrolliert wurden, wie etwa zu den Regionalparlamenten und den Stadträten, waren die Ergebnisse für Kandidaten, die vom Kreml unterstützt wurden, weniger überzeugend. Die Risiken bei Wahlen werden für den Kreml in der Zukunft zunehmen, je mehr sich die sozioökonomische Lage verschlechtert und die Opposition sich weiter mobilisiert.

Sinkende Realeinkommen, Wahlergebnisse und Wahlmanipulationen

Es gibt immer mehr Anzeichen dafür, dass sich die Lage in den russischen Regionen weiter destabilisiert. 2019 rollte nach fünf Jahren der wirtschaftlichen Stagnation in Folge eine Protestwelle durch das Land. Im Jahr 2020 erodierte die Unterstützung für die Staatsvertreter der Zentralregierung weiter. Dies lässt sich vor allem auf die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage zurückführen: Durch die Pandemie war die wirtschaftliche Aktivität in vielen Bereichen zeitweise zum Erliegen gekommen, zudem fielen die Ölpreise. In einer gemeinsamen Analyse mit dem russischen Wahlstatistiker Wladimir Koslow untersuchten wir die Faktoren, die in den Jahren 2012 bis 2018 einen Wahlsieg von Gouverneurskandidaten, die vom Kreml unterstützt wurden, begünstigten. Dabei konnten wir zeigen, dass es eine positive Korrelation zwischen der Dynamik der verfügbaren Realeinkommen und den Wahlergebnissen für Kreml-Kandidaten gibt. Durch die Krise sanken im zweiten Quartal 2020 die verfügbaren Realeinkommen, was wiederum das Risiko für die Kandidaten bei den Gouverneurswahlen am 13 September erhöhte. Der Kreml war sich dieses Risikos bewusst und verabschiedete neue Gesetzesänderungen, die den Bewegungsspielraum für unabhängige Kandidaten, an Wahlen teilzunehmen, deutlich verringerten und gleichzeitig die Möglichkeiten für Wahlmanipulationen erweiterten. Einige Beobachter sprechen deswegen davon, dass die Wahlen im September 2020 unter den schlechtesten gesetzlichen Rahmenbedingungen der letzten 25 Jahre stattfanden. Dies war das Unterpfand dafür, dass die vom Kreml ernannten Interimsgouverneure sämtlich in der ersten Wahlrunde gewannen. Ohne massive Manipulation hätten die Gouverneurswahlen allerdings auch so ausgehen können wie im Jahr 2018, als vier der Kreml-Kandidaten in der ersten Runde keine ausreichende Unterstützung für sich mobilisieren konnten.

Warum Russlands Regionen wichtig sind

2019 ist die Unzufriedenheit mit dem politischen System in Russland gewachsen und hat eine Protestwelle angeheizt, die sich mit Ausnahme von zwei Regionen auf alle Föderationssubjekte Russlands ausbreitete. Die Proteste waren meist gegen die föderalen Behörden gerichtet und reichten von Moskau, Archangelsk über Jekaterinburg bis hin zu den Republiken Kalmückien und Inguschetien. Dieser Trend verschärfte sich im Jahr 2020. Mitte Juli begannen in der fernöstlichen Stadt Chabarowsk Proteste gegen die Verhaftung des Gouverneurs Sergej Furgal, aber auch gegen politische Repressionen. Die Proteste weiteten sich zu einem bisher beispiellosen Ausmaß aus: Bis zu 10 Prozent der Einwohner von Chabarowsk gingen auf die Straße; zwischen Mitte Juli und Ende August gab es über 50 Protestaktionen. Welche Rolle spielt nun die regionale wirtschaftliche Lage bei dieser Entwicklung? Generell haben Beobachter bisher davon abgesehen, die Neigung zu Protesten mit wirtschaftlichen Erklärungsfaktoren in Verbindung zu bringen. Die meisten Proteste der letzten Zeit hatten nicht die Wirtschaft auf der Agenda, es ging um Themen wie Umwelt, Regionalpolitik oder Bürgerrechte (http://trudprava.ru/images/content/Monitoring_2_Quart_2019.pdf). Obwohl der konkrete Anlass der meisten lokalen Proteste nicht wirtschaftlicher Natur ist, stellt die Wirtschaft eine Hintergrundbedingung dar. Die Enttäuschung über die ökonomische Lage kann somit große Proteste begünstigen.

Unsere Untersuchung zeigt, dass sinkende verfügbare Realeinkommen die Unterstützung für die föderalen Behörden in den Regionen bei Wahlen verringern. Gouverneurswahlen sind aus verschiedenen Gründen relevant: Erstens weisen die russischen Regionen substanzielle Unterschiede in der Regimequalität auf, obwohl es Ähnlichkeiten bei den politischen Institutionen, der Ideologie oder der historischen Hinterlassenschaften gibt. Die subnationale Ebene bietet zudem hinreichende Daten für quantitative Analysen. Zweitens spiegeln regionale Dynamiken oft politische Prozesse auf der föderalen Ebene wider, manchmal fungieren sie sogar als Vorboten. Zum Beispiel verstärkte der autoritäre Trend in den Regionen Anfang der 2000er Jahre die zunehmende Kontrolle über die Politik auf nationaler Ebene. Und schließlich signalisierten russische Regionen vermehrt wirtschaftliche Schwierigkeiten, weil die Zentralregierung die Verantwortung für die Umsetzung der Präsidialerlasse vom Mai 2012 über eine Anhebung der Gehälter auf die Regionen geschoben hatte, und das, obwohl Moskau seit 2015 im Geld schwamm. Dies spricht dafür, dass die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in den Regionen ausgeprägter ist und politische Entwicklungen deswegen schneller darauf reagieren, wie sich die Wirtschaft entwickelt.

Ökonomisches Wählen in Russland

Die Forschung über die Auswirkung der Wahrnehmung der wirtschaftlichen Lage auf Wählerpräferenzen hat einige Belege für das sogenannte ökonomische Wählen herausgearbeitet. So stellte zum Beispiel Daniel Treisman fest, dass Wladimir Putins rückläufige Beliebtheitswerte im Jahr 2011 Ausdruck einer größeren wirtschaftlichen Besorgnis der Bevölkerung waren. Das Bewusstsein für eine schwächelnde Wirtschaft führte zu einer geringeren Unterstützung für den Kreml. Zudem wurden die russischen Spitzenpolitiker zunehmend für die wenig zufriedenstellenden wirtschaftlichen und politischen Leistungen verantwortlich gemacht. Einer ähnlichen Logik folgend kann eine zunehmende Unzufriedenheit mit über längere Zeit sinkenden verfügbaren Realeinkommen zu einem Rückgang von Putins Zustimmungswerten führen.

Bei den Gouverneurswahlen im September 2018 hatten die vom Kreml unterstützten Kandidaten die schlechtesten Ergebnisse seit Jahren eingefahren. Dies muss als Ergebnis der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage und der immens unpopulären Anhebung des Rentenalters Mitte 2018 gewertet werden. In sieben von 22 Regionen gewannen die Kreml-Kandidaten die Wahlen mit einem Wahlergebnis von unter 60 Prozent der Stimmen. Im Gegensatz dazu gab es im Zeitraum von 2012 bis 2017 lediglich sieben Wahlausgänge unterhalb dieser Marke. In vier Regionen war ein zweiter Durchgang erforderlich, obwohl die meisten Prognosen von deutlichen Wahlsiegen ausgegangen waren. Die amtierenden Gouverneure der Regionen Chakassien und Chabarowsk verloren gegen Vertreter der systemischen Opposition, obwohl die Regionalchefs ihre letzten Wahlen im Jahr 2013 deutlich gewonnen hatten. Eine derartige Wahlniederlage war zum letzten Mal im Jahr 2012 vorgekommen. Nun lässt sich fragen, ob dieses niederschmetternde Ergebnis mit der wirtschaftlichen Lage in der jeweiligen Region korreliert. Die Wirtschaftsgeografin Natalia Zubarevich konnte keinen Zusammenhang zwischen den verfügbaren Realeinkommen der Bevölkerung und den Gouverneurswahlen 2018 feststellen (http://liberal.ru/lm-ekspertiza/stress-test-na-pol-rossii-tehnologii-elektoralnogo-dominirovaniya-i-ih-ogranicheniya-analiz-regionalnyh-vyborov-2018-g). Zubarevich geht davon aus, dass die sinkenden Einkommen der Bevölkerung eine negative Hintergrundbedingung darstellten, aber kein unmittelbarer Auslöser für die Protestwahl waren. Allerdings beschränkte sich Zubarevich in ihrer Untersuchung lediglich auf das Jahr 2018. Da wir den Untersuchungszeitraum auf alle Gouverneurswahlen seit 2012 ausgedehnt haben, konnten Wladimir Koslow und ich dieser Frage systematischer auf den Grund gehen.

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie auf einen Blick

Ursprünglich sind Wahlen der Regionaloberhäupter (Gouverneure) im Jahr 1991 eingeführt worden, russlandweit fanden sie seit 1996 statt, wurden aber 2004 wieder abgeschafft. 2012 wurden die direkten Gouverneurswahlen auf Initiative des damaligen Präsidenten Dmitrij Medwedjew wieder eingeführt, wobei im Folgenden 10 der 85 Regionen Russlands die direkte Wahl durch eine indirekte Abstimmung in den Regionalparlamenten ersetzten. Welche Faktoren beeinflussten nun das Wahlverhalten in Bezug auf die Kreml-Kandidaten? Um dies herauszufinden, untersuchten wir die russischen Regionen hinsichtlich des Einflusses von sinkenden verfügbaren Realeinkommen auf die Wahlergebnisse von Kremlkandidaten bei Gouverneurswahlen. Dafür stellten wir einen Datensatz zusammen, der von 2012 bis 2018 alle Wahlen von regionalen Oberhäuptern (Gouverneuren) im ersten Durchgang mit insgesamt 109 Einträgen umfasst. Wir fanden dabei einen substanziellen und statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Dynamik der verfügbaren Realeinkommen in einer Region und der Unterstützung des Kremlkandidaten bei der Gouverneurswahl. Somit hat die soziale und wirtschaftliche Lage in den Regionen eine beträchtliche Auswirkung auf die Wahlergebnisse von »föderalen« Kandidaten. Es ist davon auszugehen, dass eine weitere Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage die Risiken für den Kreml bei Wahlen erhöht.

Ein weiteres interessantes Ergebnis unserer Studie ist, dass »Außenstehende«, also Kandidaten, die nicht in der Region geboren wurden, in der sie kandidieren, besser abschneiden als Kandidaten aus der Region selbst. Dieser Zusammenhang spiegelt sich in der aktuellen Politik des Kremls wider, Personen zu ernennen, die keine lange Vorgeschichte in und kein Detailwissen über die Region haben. In den vergangenen Jahren hat die Frequenz der Rotationen, durch die der Kreml Gouverneure austauscht, zugenommen. Die Gouverneure werden dabei so oft ausgetauscht wie seit 30 Jahren nicht mehr – zum letzten Mal waren es die Ersten Sekretäre der Regionalkomitees der KPSU, die derart massenhaft ersetzt wurden. Der Grund hierfür ist darin zu suchen, dass Kandidaten ohne einen »negativen Hintergrund« in einer bestimmten Region eine saubere Bilanz vorweisen können und somit bei der Bevölkerung dort beliebter sind. Ein weiterer Grund für die vielen Ämterrotationen ist, dass der Kreml mehr Kontrolle über Kandidaten hat, die als Außenseiter in die Region kommen und somit nicht von der lokalen Elite, sondern von Moskau abhängig sind.

Die Antwort des Kremls auf den negativen Trend

Im Jahr 2020 hat sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verschlechtert, der Lebensstandard der Bevölkerung ist stark zurückgegangen. Durch die Pandemie kam die wirtschaftliche Aktivität in vielen Bereichen zeitweise zum Erliegen, zudem fielen die Ölpreise. Im Vergleich zum Oktober 2019 gaben im Mai 2020 doppelt so viele Russen an, dass ihr Gehalt verspätet ausgezahlt oder gekürzt wurde, oder dass sie gar entlassen wurden (https://www.levada.ru/2020/05/19/zanyatost-naseleniya/). Seit der Krise im Jahr 2008 haben die Russen die Wirtschaft nicht mehr so schlecht bewertet. Schon vor den Coronavirus-Lockdowns war der Verbraucherstimmungs-Index im März um 20 Prozentpunkte zurückgegangen (https://www.levada.ru/2020/04/03/dinamika-potrebitelskih-nastroenij-v-marte-2020-goda/), was wiederum den stärksten Rückgang seit der Krise 2008 ausmachte. So schlecht wie im August 2020 stand der Index zum letzten Mal vor acht Jahren. Im zweiten Quartal des Jahres 2020 schrumpfte das BIP Russlands um 8,5 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres. Selbst die offiziellen Schätzungen von Rosstat gehen davon aus, dass die verfügbaren Realeinkommen um 8 Prozent zurückgehen und somit so niedrig sein werden, wie seit dem Tiefpunkt im Jahr 1999 nicht mehr. Zudem stieg die Protestneigung bei der Bevölkerung und erreichte im Juli 2020 einen Zweijahreshöhepunkt (https://www.levada.ru/2020/07/28/protesty-v-habarovske/). Unsere Forschungsergebnisse legen nahe, dass sich die sinkenden verfügbaren Realeinkommen negativ auf die Unterstützung für die Kreml-Kandidaten bei den Gouverneurswahlen ausgewirkt haben könnten. Der Kreml war sich dieses Risikos bewusst und hat deswegen im Vorfeld der Regionalwahlen eine Reihe von Gesetzesänderungen verabschiedet (https://sozd.duma.gov.ru/bill/912249-7), die einige Beobachter als die schlechteste Veränderung der Wahlgesetzgebung seit 25 Jahren beschreiben (https://www.golosinfo.org/articles/144538#0). Die Anzahl der Hürden, die oppositionelle Kandidaten überwinden müssen, um gegen Kreml-Kandidaten anzutreten, ist dramatisch gestiegen. Zum Beispiel verbieten die neuen Änderungen denjenigen Personen, sich zur Wahl zu stellen, die für den Verstoß gegen einen von mehreren Dutzend Paragrafen des Strafgesetzbuchs verurteilt wurden. Hierzu gehören auch Strafen, die wegen Verstößen gegen das Versammlungsrecht verhängt wurden. Dadurch gelang es den regionalen Administrationen, die für sie möglicherweise gefährlichen Wettbewerber aufgrund von teils vorgeschobenen Vorwürfen auszuschließen. Die Prozedur für die Registrierung von Kandidaten auf der Grundlage von Unterschriften wurde ebenfalls deutlich komplizierter gestaltet, indem hier der zulässige Anteil an »Ausschuss« von 10 auf 5 Prozent reduziert wurde. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht (http://liberal.ru/files/articles/7637/clon1Nonitoring_2020.pdf) wird geschätzt, dass die Anzahl der Kandidaten, die aus unterschiedlichen Gründen von der Wahl ausgeschlossen wurden, einen Höchststand seit dem Jahr 2016 erreicht hat. Die unmittelbare Folge dieses Systems der Registrierung von Kandidaten ist, dass neun von zehn Kandidaten von Parteien, die vorher keinen Deal mit dem Kreml geschlossen hatten, sich bei der diesjährigen Runde der Wahlen nicht auf den Stimmzetteln wiederfanden (http://liberal.ru/reports/7650).

Letztendlich zeugt auch die Vergiftung von Alexej Nawalny davon, wie versucht werden kann, politischen Wettbewerb zu reduzieren. Der Oppositionsführer und sein Team haben bei den September-Wahlen in einigen Regionen die Smart-Voting-Strategie zum Einsatz gebracht. Ziel dieser Strategie ist es, die Stimmen der Opposition in einem Einerwahlkreis auf denjenigen Kandidaten zu konzentrieren, der mit der größten Wahrscheinlichkeit den vom Kreml ins Rennen geschickten Kandidaten besiegen kann. Bei den Wahlen zum Moskauer Regionalparlament 2019 hatte dies 20 von 45 vom Kreml unabhängigen Kandidaten dazu verholfen, Direktmandate zu gewinnen. Nawalny wurde allerdings auf dem Rückweg von Tomsk nach Moskau vergiftet. Tomsk war eine der Regionen, in der die Smart-Voting-Kampagne sehr intensiv erfolgte.

Die Behörden haben aber auch weitere Maßnahmen eingesetzt, um die Wahlergebnisse für Kreml-Kandidaten zu pushen. Die Zustimmungswerte der Partei Einiges Russland sind allerdings niedrig, deswegen treten viele Kandidaten als formal Unabhängige an, anstatt sich von Einiges Russland nominieren zu lassen. Zudem hat der Kreml in neun von 18 Regionen die Gouverneure vor den Wahlen ausgetauscht. Die konstante Elitenrotation könnte allerdings auch dazu führen, dass dem Kreml bald die Ersatzbank zu kurz wird und das Personal ausgeht.

Die Gesetzesänderungen vom Mai 2020 ließen grundsätzlich auch elektronische Abstimmung bei allen Wahlen zu. Dies erschwert insbesondere den Zugang für unabhängige Wahlbeobachter, die überprüfen wollen, wie die Stimmen abgegeben und gezählt werden. Die Zentrale Wahlkommission hat zudem noch mehr Entscheidungsspielraum bekommen (https://www.ridl.io/en/how-smart-is-smart-voting/), die Prozedur und den Zeitraum für mehrtägige Wahlen vor dem eigentlichen Wahltag zu bestimmen. Somit wurde an drei Tagen gewählt, vom 11. bis zum 13. September, anstatt nur am Wahltag selbst. Die mehrtägige Abstimmung erschwert es Wahlbeobachtern, die Wahlen zu kontrollieren und Wahlbetrug zu verhindern. Dies hat das Verfassungsreferendum deutlich gemacht, das vom 25. Juni bis zum 01. Juli 2020 abgehalten wurde. In einem weiteren Schub von Gesetzesänderungen, die am 31. Juli in Kraft traten, wird die Kategorie von Personen, die bei Kommunal- und Regionalwahlen Wahlbeobachter sein können auf diejenigen eingeschränkt, die in dieser Region auch formal gemeldet sind.

Was bedeutet dies für zukünftige Wahlen?

Im Vorjahr hatte die Einschränkung des politischen Wettbewerbs den Kreml-Kandidaten zum Wahlsieg verholfen. In diesem Jahr haben zwar alle vom föderalen Zentrum unterstützten Kandidaten die Gouverneurswahlen in der ersten Runde gewonnen. Bei den Wahlen zu den Regionalparlamenten und den Stadträten sieht es allerdings für den Kreml weniger rosig aus. Erstens gewannen zwar die Kreml-Kandidaten in allen 18 Regionen, in denen direkte Gouverneurswahlen abgehalten wurden (Nur in Smolensk fiel das Ergebnis unterhalb der 60-Prozentmarke aus, in Irkutsk waren es ebenfalls nur 60,79 Prozent). Interessanterweise liegt das Durchschnittsergebnis bei den Gouverneurswahlen mit 74,8 Prozent nur knapp unter dem Ergebnis beim Verfassungsreferendum. In allen Regionen erzielten die Gouverneure ein besseres Ergebnis, als Putin in diesen Regionen bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 erreicht hatte. In den Regionen Jüdisches Autonomes Gebiet, Kaluga, Kamtschatka und Tambow betrug die Differenz sogar bis zu 10 bis 15 Prozentpunkte zugunsten der Gouverneure und zu Lasten Putins. Es ist davon auszugehen, dass diese Ergebnisse durch ein beispielloses Ausmaß an Wahlmanipulation erreicht wurden. Zum Beispiel gaben in den Regionen Krasnodar und Tambow mehr als 80 Prozent der Wähler ihre Stimme für den Kreml-Kandidaten ab, was wohl kaum die Realität widerspiegelt. Die Ausdehnung des Wahlzeitraums auf drei Tage hat dabei mit großer Wahrscheinlichkeit eine entscheidende Rolle gespielt. Höhere Wahlergebnisse für Kreml-Kandidaten stehen in direktem Zusammenhang mit einer höheren Wahlbeteiligung an den Tagen vor dem eigentlichen Wahltag. In Tatarstan gaben 56 Prozent der Wähler ihre Stimmen vorzeitig ab, fünf Jahre zuvor hatte dieser Wert in der Region noch bei 5 Prozent gelegen. Im Jüdischen Autonomen Gebiet gaben 58 Prozent ihre Stimme vorzeitig ab. Der russische Wahlstatistiker Sergej Schpilkin hat berechnet, dass ohne massenweise Wahlfälschung mehrere Kreml-Kandidaten bei den Gouverneurswahlen einen zweiten Durchgang hätten bewältigen müssen. Die Ergebnisse waren dort für von der Zentralregierung unterstützte Kandidaten weniger überzeugend, wo der Kreml den Wahlprozess nicht vollständig kontrollierte. Im Vergleich zum Jahr 2015 ging bei den regionalen Parlamentswahlen die Unterstützung für Einiges Russland im Schnitt um 11 Prozentpunkte zurück. Mehrere neue Parteien konnten sogar die Fünfprozenthürde überwinden, darunter Neue Leute, Grüne Alternative und Für die Wahrheit. In den Einerwahlkreisen haben rund 10 Prozent (etwa 141 von 1171) der Kandidaten, die gegen Kreml-Kandidaten antraten und durch Nawalnyjs »Smart-Voting-Strategie« unterstützt wurden, Direktmandate erringen können. Das war vor allem auf der Ebene der Stadträte der Fall (https://votesmart.appspot.com/). Kandidaten der Koalition Vereinigte Demokraten gewannen bei den Kommunalwahlen 60 Direktmandate.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die sozioökonomischen Probleme für den Kreml akkumulieren und somit die Risiken bei Wahlen in den Regionen steigen. Bisher bestand die Antwort des Kremls darin, verstärkt auf Wahlmanipulationen und -betrug zurückzugreifen. Die Regional- und Kommunalwahlen 2020 gelten auch als Testlauf für die Dumawahl im Jahr 2021, die für den Kreml äußerst wichtig ist. Zwar haben der Kreml und die Regierungen der Regionen Restriktionen und Repressionen verstärkt, um das Wahlrisiko zu minimieren. Diese Strategie könnte in der Zukunft jedoch ihre Wirkung verfehlen, wenn sich die sozioökonomische Lage weiter verschlechtert und die Opposition vermehrt Unterstützung für sich mobilisieren kann.

Dieser Beitrag ist eine aktualisierte Fassung des Ponars Policy Memos »Russia’s Crumbling Power Vertical: Decreasing Disposable Income Drives Discontentment«, welches am 11.09.2020 erschien. Das englische Original ist abrufbar unter https://www.ponarseurasia.org/memo/russias-crumbling-power-vertical-decreasing-disposable-income-drives-discontentment. Die Redaktion bedankt sich bei der Autorin für die Aktualisierung des Textes für die Russland-Analysen.

Lesetipps / Bibliographie

  • Demchenko, Oleg, and Grigorii V. Golosov. »Federalism, gubernatorial power and the incorporation of subnational authoritarianism in Russia: A theory-testing empirical inquiry.« Acta Politica 51.1 (2016): 61–79.
  • Kozlov, Vladimir und Maria Snegovaya. »Factors of Competitiveness in Russian Gubernatorial Elections.« Free Russia Foundation, 2. Mai 2019. Abrufbar unter: https://www.4freerussia.org/factors-of-competitiveness-in-russian-gubernatorial-elections-2012-2018/.
  • Sharafutdinova, Gulnaz. »Economic Crisis, Regional Finance, and Federal Response in Russia.« PONARS Eurasia Policy Memo No. 407. Abrufbar unter: https://www.ponarseurasia.org/memo/economic-crisis-regional-finance-and-federal-response-russia.
  • Treisman, Daniel. »Putin’s popularity since 2010: why did support for the Kremlin plunge, then stabilize?.« Post-Soviet Affairs 30.5 (2014): 370–388.
  • Tucker, Joshua A., Joshua L. Tucker und Robert A. Martin. Regional Economic Voting: Russia, Poland, Hungary, Slovakia, and the Czech Republic, 1990–1999. Cambridge University Press, 2006.

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