Nawalnys Schlusswort: »Einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern«

Einleitung Dekoder

Der Oppositionelle Alexej Nawalny muss für mehr als zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Ein Gericht in Mos- kau hat heute entschieden, eine Bewährungsstrafe des Politikers in eine Haftstrafe umzuwandeln – weil er gegen die Bewährungsauflagen verstoßen habe.

2014 waren Alexej Nawalny und sein Bruder Oleg im Fall Yves Rocher zu dreieinhalb Jahren Haft ver- urteilt worden. Während sein Bruder ins Gefängnis kam, erhielt Alexej Nawalny die Strafe zur Bewährung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte das Urteil 2017 für »willkürlich und deut- lich rechtswidrig« befunden, Russlands Oberstes Gericht bestätigte es dennoch.

Von den dreieinhalb Jahren werden nun zehn Monate Hausarrest abgezogen, die Nawalny bereits abge- sessen hatte, so dass er für zwei Jahre und acht Monate in Haft kommt. Nawalnys Anwältin kündigte Beru- fung an. Zahlreiche westliche PolitikerInnen kritisieren das Urteil. Noch am Dienstagabend, 2. Februar, versammelten sich Demonstrierende und auch zahlreiche Sicherheitskräfte in Moskaus Innenstadt. Im Laufe des Tages sind laut OWD-Info mehr als 900 Menschen festgenommen worden, die aus Solidarität mit Nawalny zum Moskauer Stadtgericht gekommen sind oder nach der Urteilsverkündung im Moskauer Zentrum protestiert haben.

Meduza hat Nawalnys Schlusswort transkribiert – dekoder bringt es in deutscher Übersetzung.

»Ich würde gern mit der juristischen Frage beginnen, die mir am wichtigsten erscheint und die bei dieser Anhörung bisher irgendwie übersehen wurde. Denn das alles wirkt ein bisschen merkwürdig, oder? Also da sitzen zwei. Der eine meint: »Ach, lass uns Nawalny dafür einbuchten, dass er nicht montags, sondern donnerstags (zur Bewährungsstelle) gekommen ist.« Der andere meint: »Ach, lass uns Nawalny dafür einbuchten, dass er, nachdem er aus dem Koma erwacht ist, nicht sofort hergekommen ist und sich gemeldet hat.« Und dann läuft die Anhörung, alle reden über Montage, Donnerstage, wann und wohin man welche Papiere schicken muss und so weiter. Doch ich möchte ein paar Worte über den kleinen Elefanten hier im Raum sagen.

Man will mich in einem Fall hinter Gitter bringen, in dem ich schon als unschuldig anerkannt bin. Ein Fall, der schon als konstruiert anerkannt wurde. Das ist nicht meine persönliche Meinung: Wir können jedes beliebige Lehrbuch für Strafrecht aufschlagen – ich hoffe, euer Ehren, dass Sie das einige Male in Ihrem Leben gemacht haben – und werden sehen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Teil des russischen Rechtssystems ist, unter anderem, weil Russland Mitglied des Europarats ist. Es gibt bindende Entscheidungen. Und ich habe, nachdem ich den ganzen Prozess durchlaufen habe, den EGMR angerufen. Und der EGMR hat eine Entscheidung gefällt, in der schwarz auf weiß geschrieben steht, dass nicht mal ein Straftatbestand vorliegt.

Der Fall, aufgrund dessen ich, warum auch immer, in diesem merkwürdigen Käfig sitze, ist vollständig konstruiert. Mehr noch, die Russische Föderation hat diese Entscheidung sogar anerkannt. Denn man hat mir eine Entschädigung gezahlt und damit die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt. Nichtsdestotrotz hat mein Bruder für diese Sache dreieinhalb Jahre im Gefängnis gesessen und ich stand ein Jahr unter Hausarrest.

Ein wenig Mathematik: 2014 wurde ich verurteilt, bekam dreieinhalb Jahre und jetzt haben wir das Jahr 2021, aber ich werde immer noch wegen dieses Falls verurteilt. Dabei wurde ich bereits für unschuldig erklärt, ein Straftatbestand liegt nicht vor, und dennoch: Mit der Verbissenheit eines Besessenen fordert unser Staat, mich in diesem Fall ins Gefängnis zu bringen.

Aber warum ausgerechnet in diesem Fall? Es gibt ja sicherlich keinen Mangel an Strafverfahren gegen mich, oder? Erst kürzlich wurde noch ein weiteres eingeleitet. Nichtsdestotrotz wollte jemand, dass ich bei meiner Rückkehr nicht einen einzigen Schritt als freier Mensch in das Staatsgebiet unseres Landes mache. Von dem Moment an, als ich die Grenze überschritt, war ich ein Gefangener. Und wir wissen, wessen Gefangener. Wir wissen, weshalb das passierte. Der Grund für all das sind der Hass und die Angst eines einzelnen Menschen, der im Bunker lebt. Weil ich ihn zutiefst kränkte, indem ich überlebte, nachdem man versucht hatte, mich auf seinen Befehl hin umzubringen.

Ich habe ihn zutiefst gekränkt, indem ich überlebte. Dank guter Menschen – Piloten und Ärzte. Und dann habe ich ihn noch mehr gekränkt, weil ich mich, nachdem ich überlebt hatte, nicht versteckte, nicht unter Personenschutz in einem etwas kleineren Bunker lebte, den ich mir hätte leisten können. Und danach wurde es ganz schlimm. Nicht nur, dass ich überlebt hatte, nicht nur, dass ich keine Angst hatte und mich nicht versteckte – ich habe auch noch an den Recherchen bezüglich meiner eigenen Vergiftung mitgearbeitet. Und wir haben gezeigt und bewiesen, dass es Putin war, mittels des FSB, der diesen Mordversuch durchgeführt hat. Und ich war nicht der Einzige. Und jetzt wissen es die Menschen und werden noch viel mehr erfahren. Und genau das macht dieses kleine diebische Menschlein in seinem Bunker verrückt. Genau diese Tatsache – dass alles rauskam, verstehen Sie?

Da ist nichts mit hohen Umfragewerten, oder gewaltiger Unterstützung. Nichts dergleichen. Weil klar wurde: Um mit einem politischen Gegner fertig zu werden, der weder das Fernsehen noch eine politische Partei hinter sich hat, muss man einfach versuchen ihn mit mit einem chemischen Kampfstoff umzubringen. Und natürlich wird Putin da verrückt. Weil sich alle davon überzeugen konnten, dass er einfach ein kleiner Beamter ist. Den man zufälligerweise auf den Posten des Präsidenten gestellt hat. Der weder an Debatten noch an Wahlen teilgenommen hat. Und dessen einzige Kampfmethode der Versuch ist Menschen zu töten. Und wie sehr er sich auch darstellen wollte als großartiger Geopolitiker, großartiger Leader der Welt, so ist in Bezug auf mich seine schlimmste Kränkung nun, dass er in die Geschichte als Giftmörder eingehen wird.

Wisst ihr, es gab Alexander den Befreier. Jaroslaw den Weisen. Und nun kommt Wladimir der Vergifter der Unterhosen. Als der wird er eingehen in die Geschichte.

Ich stehe hier, schon von der Polizei bewacht, die russische Nationalgarde ist aufmarschiert, halb Moskau ist abgesperrt aus dem einzigen Grund, weil ein kleiner Mann im Bunker durchdreht. Weil wir bewiesen und gezeigt haben, dass er sich nicht mit Geopolitik beschäftigt, sondern Beratungen abhält, auf denen er entscheidet, wer politischen Opponenten die Unterhosen klaut, sie mit chemischen Kampfstoffen einreibt und versucht sie zu töten.

Entscheidend in diesem Prozess ist gar nicht, wie er für mich endet. Mich einzusperren ist keine Kunst, ob nun in diesem oder einem anderen Fall. Entscheidend ist, wozu das passiert – zur Einschüchterung einer riesigen Menge von Menschen. Das funktioniert genau so: Einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern.

In Russland leben 20 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Und dutzende Millionen leben ohne die geringste Perspektive. In Moskau lässt es sich noch mehr oder weniger leben. Aber sobald man 100 Kilometer rausfährt, trifft man auf absoluten Stillstand. Unser ganzes Land lebt in diesem absoluten Stillstand, ohne jegliche Perspektive. Von 20.000 Rubel [etwa 200 Euro – dek]. Und alle schweigen sie, man versucht ihre Mäuler zu stopfen mit genau solchen Schauprozessen.

Ich hoffe sehr, dass die Leute diesen Prozess nicht als Signal auffassen dafür, dass sie noch mehr Angst haben sollen. Das ist keine Demonstration von Stärke, das ist eine Demonstration von Schwäche. Millionen und Hunderttausende kann man nicht einsperren. Und ich hoffe sehr, dass die Leute sich dessen mehr und mehr bewusst werden. Und wenn sie sich dessen bewusst geworden sind – und dieser Moment wird kommen – dann wird das alles in sich zusammenfallen. Denn ihr werdet nicht das ganze Land einsperren.

All die Menschen, denen ihr die Perspektiven und die Zukunft genommen habt, leben in einem extrem reichen Land und bekommen Null ab von den nationalen Reichtümern. Bei uns mehrt sich nur die Anzahl der Milliardäre, alles andere schrumpft, verstehen Sie das? Ich sitze in meiner Zelle und höre Reportagen darüber, dass die Butter teurer geworden ist, dass Nudeln teurer geworden sind, dass Eier teurer geworden sind. Im Jahr 2021! Eine Exportnation von Öl und Gas.

Alles, was sich sage, drückt meine Einstellung zu der Theatervorstellung aus, die Sie hier aufführen. Es kommt vor, dass Gesetzlosigkeit und Willkür das Wesen eines politischen Systems ausmachen. Und das ist schlimm.

Aber es geht noch schlimmer, nämlich wenn Gesetzlosigkeit und Willkür sich in die Roben von Staatsanwalt und Richter hüllen. Es ist die Pflicht eines jeden Menschen, sich weder Ihnen noch solchen Gesetzen zu unterwerfen.

Ich kämpfe, wie ich nur kann. Und ich werde das fortsetzen, auch wenn ich völlig unter der Kontrolle derer stehe, die leidenschaftlich alles mit chemischen Kampfstoffen einreiben wollen. Mein Leben ist wohl keine drei Kopeken mehr wert. Und trotzdem rufe ich alle dazu auf, keine Angst zu haben und alles zu tun, damit das Gesetz siegt.

Ich grüße und danke allen Mitarbeitern des Fonds für Korruptionsbekämpfung, die derzeit unter Arrest stehen. Und allen im ganzen Land, die keine Angst haben und auf die Straße gehen, denn sie haben die gleichen Rechte wie Sie. Denn unser Land gehört denen genauso wie Ihnen und allen anderen. Wir sind ebensolche Bürger. Und wir fordern eine normale Rechtsprechung, dass man uns anständig behandelt, an Wahlen teilnehmen lässt und an der Verteilung der nationalen Reichtümer.

In Russland gibt es derzeit viele gute Dinge. Aber das beste sind jene Menschen, die keine Angst haben, die nicht den Blick senken und den Tisch anstarren. Die niemals unser Land abgeben werden an das Häuflein käuflicher Beamter, das unsere Heimat gegen Paläste, Weingüter und Aqua-Discos eintauscht.

Ich fordere sofortige Freiheit für mich und alle anderen Inhaftierten. Ich erkenne Ihre Vorstellung nicht an – sie ist illegal und voller Lüge.«

Übersetzung (gekürzt) von der dekoder-Redaktion

Stand: 02.02.2021

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