Nordukraine, 26. April 1986
Nach einem fehlgeschlagenen Turbinentest, hervorgerufen durch Mängel im Reaktordesign, Bedienungsfehler und einer unzureichenden Sicherheitskultur, geschahen mehrere Explosionen im Reaktorblock vier des Atomkraftwerks Tschernobyl. Bald wurde deutlich, dass der Reaktor vollständig zerstört worden war. Giftige radioaktive Stoffe wurden in die Atmosphäre abgegeben und verteilten sich durch Wind und Wasser über weite Landstriche Eurasiens. Belarus, die Ukraine und Russland wurden besonders schwer getroffen. Der Reaktorkern lag für einige Tage offen unter freiem Himmel, bis Gegenmaßnahmen ergriffen werden konnten. Obwohl vieles nicht erfolgreich gewesen war, wie beispielsweise das Bedecken des Reaktorkerns mit durch von Hubschraubern abgeworfenem Sand, Bor und Blei, oder das kontinuierliche Fluten des Reaktorraums durch beschädigte Kühlleitungen während der ersten Tage der Katastrophe, konnte die Sowjetunion auch ihre Stärken in der schnellen Massenmobilisierung und Konzentration von Material ausspielen.
Während eine Sperrzone von schlussendlich dreißig Kilometern um den zerstörten Reaktor eingerichtet wurde, zog man eilends hunderttausende Helfer:innen ein. Diese Liquidator:innen versuchten unter Einsatz ihrer Gesundheit, und teilweise auch ihres Lebens, betroffene Gegenden zu dekontaminieren und die weitere Verbreitung von Radionukliden zu verhindern. Ihren Anstrengungen zum Trotz verteilten sich dennoch radioaktive Partikel über Landesgrenzen hinweg und beeinträchtigten die Gesundheit vieler Menschen. Bis heute kann nicht zuverlässig bestimmt werden, wie viele Opfer die Katastrophe tatsächlich forderte.
Eine der größten Leistungen der Liquidator:innen war die Errichtung des ersten Sarkophags, welcher schon im November desselben Jahres fertiggestellt wurde. Dieser schirmte den strahlenden Inhalt des zerstörten Reaktorraums notdürftig mit Betonplatten von der Umwelt ab, wodurch weitere Aufräumarbeiten in der direkten Umgebung ermöglicht werden konnten. Zeitgleich wurden insgesamt 115.000 Menschen aus den umliegenden Ortschaften evakuiert und umgesiedelt. Neben der nächstgelegenen Stadt Pripjat wurde auch die Kleinstadt Tschernobyl selbst, sowie 485 weitere Dörfer verlassen.
Anfangs war die sowjetische Informationspolitik unzureichend, sodass den Evakuierten weder genug Zeit blieb ihre Abwesenheit vorzubereiten, noch war das notwendige Wissen vorhanden, um sich und ihre Familien vor dem Fallout zu schützen. Obwohl den Bewohner:innen anfangs in Aussicht gestellt wurde, bald heimkehren zu können, blieben ihre Siedlungen gesperrt.
Die drei verbliebenen Reaktorblöcke nahmen schnell ihre Arbeit wieder auf. Man schaltete sie erst von 1991 bis 2000 sukzessive ab. Parallel wurde vor Ort weiter an der Dekommissionierung gearbeitet. Ein Meilenstein war dabei die Fertigstellung des zweiten Sarkophags. Da der erste mit der Zeit bedeutende Mängel aufwies, wurde ein zweiter, viel größerer Schutz mit einer Lebensdauer von 100 Jahren über den ersten Sarkophag gefahren. Im Juni 2019 war er vollständig funktionstüchtig.
Das Trauma überwinden
Die Katastrophe in Tschernobyl hat die sowjetische Atomindustrie in ihrer Expansion nicht gänzlich aufgehalten. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass das Wachstum entschieden verlangsamt wurde. Beispielsweise begann man in Kursk noch am 01. August 1986, also ungefähr drei Monate nach dem Unglück, mit der Errichtung eines neuen baugleichen Reaktors. Später wurde in Smolensk im Jahr 1990 ein weiterer in Betrieb genommen. Dieser wird voraussichtlich als letzter vom Typ Tschernobyl erst 2034 abgeschaltet werden. Zwar wurden als direkte Konsequenz aus dem Unglück baugleiche Reaktoren nachgebessert und Sicherheitsroutinen aktualisiert. Dennoch bleibt die Frage bestehen, ob die Sicherheit letztendlich gewährleistet werden kann.
In Zukunft wird versucht werden, das Atomkraftwerk (AKW) Tschernobyl und das umliegende Sperrgebiet der gesellschaftlichen Nutzung wieder zuzuführen. Die Technikhistorikerin Anna Storm hat darauf hingewiesen, dass solche Katastrophen postindustrielle Landschaftsnarben (»post-industrial landscape scars«), hinterlassen. Es sei an der jeweiligen Gesellschaft diskursiv zu entwickeln, wie mit ihnen umgegangen wird. Das Gelände, insbesondere als kontaminierter Ort, kann dabei als Andenken bewahrt, als Aussöhnungsort kuriert und als mögliche Stätte eines Neuanfangs gedacht werden.
So wurde in der Zone ein neues relativ kleines Solarkraftwerk aufgebaut, welches die alte Infrastruktur wiederbelebt. Neben dem bereits etablierten Tourismus wurde vorgeschlagen, vorhandene Einrichtungen für die Lagerung benutzter Brennelemente aus anderen AKWs zu nutzen. Somit wird versucht, um bei Storms theoretischem Zugang zu bleiben, Tschernobyl als Narbe neu zu interpretieren und in etwas Nützliches umzuwandeln.
Pfadabhängigkeit und neuer Aufschwung
Nach 1991 war die ehemals sowjetische Atomindustrie schwer getroffen, da die vorherigen Unionsrepubliken unterschiedliche politische Wege einschlugen. Während Russland versuchte, die erarbeitete Infrastruktur zu erhalten, wandten sich andere Staaten schnell von allem Sowjetischen ab.
Russland, als Haupterbe der Sowjetunion, befand sich während der 1990er und der frühen 2000er Jahre in einer tiefen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationskrise. Erst nach dieser Krise konnten die alten sowjetischen Entwicklungspläne ernsthaft wieder aufgenommen und im großen Stil an die neue Realität angepasst werden. Ein Wendepunkt war dabei die Inbetriebnahme des ersten Reaktors im AKW Wolgodonsk im Jahr 2001. Dies sollte eine Trendwende darstellen. Von nun an steigerte sich erneut im bedeutenden Maße sowohl die Anzahl wieder aufgenommener alter sowie neu angelegter Atomenergieprojekte. Zudem wurde begonnen, ältere AKWs am selben Standort durch neue Anlagen zu ersetzen. Russland benutzt dabei nun eigene Weiterentwicklungen früherer sowjetischer Reaktoren.
Nukleare Renaissance
Im April 2021 waren 444 zivile Atomkraftwerke mit einer Gesamtleistung von 394 Gigawatt elektrisch (GWe) am Netz. 54 weitere waren im Bau. Dabei schlägt sich das sowjetische Erbe in Osteuropa mit 74 aktiven Reaktoren und einer Gesamtkapazität von 54,8 GWe nieder. Dies entspricht einem weltweiten Anteil von ungefähr 16,7 % bei der Anzahl der Reaktoren und 13,9 % bei der Kapazität. Gleichzeitig kommen auf Nordamerika und Westeuropa 219 Reaktoren mit einer Gesamtkapazität von 214,7 GWe.
Auch wenn bei dieser Statistik deutlich wird, dass das Gros weltweiter Atomstromproduktion nicht in Osteuropa stattfindet, ist es so, dass der Neubau von Kernkraftanlagen in Westeuropa und Nordamerika stockt und deren Gesamtzahl sinkt. Im Kontrast dazu steht Russland mit dem Staatsunternehmen Rosatom an der Spitze von dem, was als nukleare Renaissance in Osteuropa beschrieben werden kann. Rosatom verfolgt dabei eine Doppelstrategie.
Erstens werden eigene Atomanlagen modernisiert und Schlüsseltechnologien weiterentwickelt. Dabei wird auch ein Schwerpunkt auf die Demonstration neuer Innovationen gelegt, um diese international zu vermarkten. Das schwimmende AKW »Akademik Lomonossow«, welches von Sankt-Petersburg nach Pewek im Fernen Osten gebracht wurde, um das ehemalige Kernkraftwerk Bilibino zu ersetzen, zeigte der ganzen Welt, dass kleinere modulare Reaktoren auch als mobile Variante benutzt werden können. Der Einsatz in der Arktis spielte dabei eine besondere Rolle, sollte er doch demonstrieren, dass mit einem solchen Modell die Exploration der nun durch den Klimawandel wirtschaftlich gewordenen arktischen Bodenschätze flexibel möglich gemacht werden könnte. Mögliche Umweltschäden bleiben bei einer solchen Rechnung unbeachtet.
Das AKW Bilibino ist ein gutes Beispiel für das, was Daniel Headrick als Werkzeuge eines Imperiums (»tools of empire«) definiert hat. Das Kernkraftwerk wurde mit vier kleinen stationären Reaktoren á 12 Megawatt elektrisch (MWe) zur Elektrizitäts- und Wärmegewinnung gebaut, die die modulare Entwicklung auf der »Akademik Lomonossow« vorwegnahmen. Dieses Kraftwerk wurde im Permafrostgebiet gebaut und war damit das erste AKW, welches diesen klimatischen Bedingungen trotzte. Hierbei ging es darum, Gold und andere Bodenschätze zu fördern. Dadurch wurde das Gebiet für die Erschließung durch Europäer geöffnet, während es eigentlich traditionell von den Urvölkern der Tschuktschen und Ewenen genutzt wurde. Die industrielle Erschließung veränderte die Umwelt und führte auch zu ihrer Schädigung.
Zweitens versucht Rosatom seine neuen Reaktoren international zu verkaufen. Dabei verzeichnet der Staatskonzern einige Erfolge, wie beispielsweise in Finnland, der Türkei und Belarus. Es mag paradox erscheinen, dass ein Land, welches durch Tschernobyl so stark betroffen war und infolgedessen sowjetische Pläne für ein AKW in Minsk vehement bekämpfte, sich nach ungefähr drei Jahrzehnten selbst für die Atomkraft entscheidet. Auch wenn hier natürlich politische Ambitionen Putins und Lukaschenkas eine entscheidende Rolle gespielt haben, kann in diesem Vorgang der Versuch gesehen werden, Tschernobyl hinter sich zu lassen. Bloß, anstatt diese Narbe als Anstoß für ein Umdenken zu deuten, entschloss sich die politische Führung das Gleiche im nationalen Rahmen erneut zu versuchen.
Eine Industrie im Wandel
Russlands Atomindustrie befindet sich nach einer Phase der Stabilisierung in einer Situation der Neuorientierung. Hierbei ist erstaunlich, dass obwohl immer noch neun Reaktoren vom Typ Tschernobyl in den AKWs Leningrad, Kursk und Smolensk regulär in Betrieb sind, Tschernobyl zumindest in offiziellen Verlautbarungen seitens der Industrie kaum Erwähnung findet. Anstatt diesen fundamentalen Teil der eigenen Geschichte anzunehmen und mit in künftige Planungen und in die Kommunikation mit der interessierten Öffentlichkeit aufzunehmen, um auch kritische Stimmen und Ängste ernstzunehmen, wird das Problem größtenteils ignoriert. Das Unglück von Fukushima-Daiichi vor zehn Jahren hat nochmals bewiesen, dass schwerwiegende Probleme in Kernkraftwerken stattfinden können – ungeachtet der soziopolitischen Verhältnisse vor Ort. Diese Möglichkeit muss ernstgenommen werden und in die bestehenden Kosten-Sicherheitsabwägungen miteinbezogen werden. Das sollte ein Teil der Anstrengungen Rosatoms sein, die Katastrophe von Tschernobyl zu überwinden.
Kleine Modularreaktoren und das Endlagerproblem
Während das Kerngeschäft die konventionellen Reaktoren der Entwicklungslinie der Wasser-Wasser-Energie-Reaktoren (WWER) bleiben werden, wird Rosatom es heute versuchen müssen, sich an die angepasste Weltlage nach Tschernobyl und Fukushima-Daiichi anzupassen und mit alternativen Reaktorkonzepten die Nachfrage nach Sicherheit und Flexibilität zu befriedigen.
Der Vorstoß mit dem schwimmenden AKW »Akademik Lomonossov« muss in diesem Sinne gedeutet werden. Es ist kein Zufall, dass obwohl es bereits Pläne für ein solches Kernkraftwerk in der Sowjetunion gegeben hatte, sie erst 2020 in Russland realisiert wurden. Russlands Wirtschaft basiert zum Großteil auf der Ausbeutung fossiler Energieträger. Das zurückgehende Eis in der Arktis ermöglicht es hier, neue Vorkommen zu erschließen. Allerdings liegen diese vielfach in schwer zugänglichem Gebiet mit harschen klimatischen Bedingungen. Die Idee, mit kleinen mobilen Modularreaktoren genügend Elektrizität und Wärme für genau solche Unternehmungen zu produzieren, stammt ebenfalls aus der Sowjetunion. Aber erst heute scheint sie aufgrund des Klimawandels und der geänderten wirtschaftlichen und geopolitischen Lage attraktiv zu werden.
Die zunehmende Skepsis gegenüber überdimensionierten Anlagen führt aus zwei Gründen dazu, weshalb kleine Modularreaktoren eine bedeutende Rolle spielen werden. Erstens bedürfen sie viel weniger langfristiger Investitionen und zweitens sind sie flexibler im Einsatz. Da durch den Klimawandel die Wetterlage häufiger von Extremen beherrscht werden wird, ist es wahrscheinlich, dass konventionelle großangelegte AKWs Probleme mit einer ausreichenden Kühlwasserversorgung bekommen werden. Nur eine ununterbrochene Wasserversorgung garantiert aber den sicheren Betrieb einer solchen Anlage. Die letzten Hitzesommer zeigten bereits in Frankreich, dass Wassermangel auftreten kann. Hier offenbart sich eine wesentliche Stärke von modularen Reaktoren, können sie doch flexibel platziert und auch wieder abgebaut werden. Zusätzlich bedeuten kleinere Reaktoren auch potentiell weniger Gefahr beim Eintreten eines schwerwiegenden Störfalls.
Außerdem gibt es in Russland noch kein Endlager für Atommüll. Vielmehr wurde dieser in der Vergangenheit äußerst nachlässig gelagert. Kasperski und Stsiapanau konnten zeigen, dass die Verhandlungsprozesse innerhalb Russlands oftmals undemokratisch ablaufen. Dabei liegt es in Russlands eigenem Interesse, eine vernünftige Lösung zu finden, um die Attraktivität ihrer Exportreaktoren aufrechtzuerhalten. Denn diese werden oftmals in Form eines Sorglospakets verkauft. Russland kümmert sich um die Herstellung und Lieferung der Brennelemente, baut die Anlage im Ausland und verpflichtet sich genutzten Kernbrennstoff wieder anzunehmen. Dabei wird der Zielstaat vor einem großen Teil des Atommüllproblems bewahrt. Doch auch Russ:innen haben das Recht auf eine intakte Umwelt und ein gesundes Leben. In diesem Sinne sollte es eine demokratische und effektive Endlagersuche geben.
Ausblick
Während die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie noch abzuwarten bleiben, ist es klar, dass der Bau großer Reaktoren der WWER-Entwicklungslinie schon alleine durch die anstehende Erneuerung der russländischen Reaktorflotte weitergehen wird. Die Frage ist, inwieweit es Rosatom gelingen wird, Käufer in anderen Ländern zu finden. Es wird ausschlaggebend sein, inwiefern Sicherheitsbedenken ausgeräumt werden können. Das Angebot von kleineren modularen Modellen wird die Produktpalette ergänzen, aber auf absehbare Zeit nicht das Kerngeschäft ersetzen können. Dabei kommt es Rosatom zugute, dass es vom Staat getragen und auch als politisches Instrument eingesetzt wird.
Rosatom wird auf dem globalen Markt ein bedeutender Akteur bleiben und seine Position aufbauend auf dem sowjetischen Erbe festigen. Es bleibt zu wünschen, dass es sich mit der Katastrophe von Tschernobyl in dem Sinne beschäftigt, dass sie als Teil der Geschichte und als Mahnmal sowjetisch-russländischer Kernkraft angenommen und diskutiert wird. Unfälle werden unweigerlich weiterhin in einem solch komplexen technologischen System passieren. Vielmehr gilt es zu verhindern, dass sich solche vom Ausmaß Tschernobyls und aktuell Fukushima-Daiichis nicht nochmal wiederholen. Offenheit, Transparenz und freie Diskussion könnten helfen, eine verbesserte Sicherheitskultur in der Atomindustrie herzustellen, um so vermeidbare Schäden für Mensch und Umwelt auszuschließen. Tschernobyl war vermeidbar und muss als Beispiel dafür herhalten, was passieren kann, wenn kurzfristige monetäre Interessen über der Sicherheit stehen. Nur wenn es gelingt, die Wunde von Tschernobyl gesellschaftlich durch eine verbesserte Sicherheits- und Diskussionskultur heilen zu lassen, kann der Ort vielleicht eine Zukunft haben.