Im Frühjahr 2021 häuften sich die Meldungen über Repressionen gegen russische Medienschaffende: Am 9. April wurde die Wohnung des Investigativjournalisten Roman Anin durchsucht, der für seine Beteiligung an der Auswertung der »Panama Papers« als Mitglied des Journalistenkollektivs ICIJ 2017 den Pulitzerpreis gewann. Die Durchsuchung und kurzzeitige Festnahme Anins steht, so die Vermutung, in Verbindung zu seinen Recherchen über das Vermögen des Rosneft-Chefs Igor Setschin. Jener war bereits rechtlich mittels Verleumdungsklage gegen die Nowaja Gaseta vorgegangen, wo der Beitrag erschienen war. Am 14. April durchsuchten Sicherheitskräfte ein Büro des studentischen Magazins Doxa. Während der Proteste zur Unterstützung Alexej Nawalnyjs im Januar hatte Doxa ein Video veröffentlicht, in dem Studierenden erläutert wurde, dass die Universitäten kein Recht hätten, sie für die Teilnahme an Protesten zu exmatrikulieren. Nach Intervention der Medienaufsichtsbehörde »Roskomnadsor« wurde das Video aus dem Netz entfernt, dennoch droht den Redakteur:innen nun eine Haftstrafe wegen der »Anstiftung Minderjähriger zur Teilnahme an illegalen Aktivitäten«. Eine Woche später, am 21. April, wurde die Onlinezeitung Meduza, die ihren Sitz in Riga hat, in das Register »ausländischer Agenten« aufgenommen. Das 2012 verabschiedete Gesetz, auf dessen Grundlage das Justizministerium Organisationen mit Sitz im Ausland bzw. die Mittel aus dem Ausland beziehen, in ein Register »ausländischer Agenten« aufnimmt, galt ursprünglich für politisch aktive Nichtregierungsorganisationen. Nach mehreren Änderungen wird es mittlerweile auch auf Medien und Einzelpersonen angewandt. Organisationen, auf die das Gesetzt angewandt wird, müssen ihre Beiträge mit einem entsprechenden Vermerk versehen und ihre Finanzen offenlegen, bei Verstößen droht ein Bußgeld. Journalist:innen, die für »ausländische Agenten« schreiben, droht ebenfalls die Aufnahme in das Register. Die Kennzeichnung als »ausländischer Agent« schreckt potenzielle Werbepartner ab, ein Problem für das teilweise werbefinanzierte Meduza (https://meduza.io/en/feature/2021/04/26/meduza-is-a-foreign-agent-now-what-s-next). Am 14. Mai wurde eine weitere Onlinezeitung als »ausländischer Agent« klassifiziert, die VTimes, die von ehemaligen Mitarbeiter:innen der Wirtschaftszeitung Wedomosti gegründet worden war. Diese hatten aufgrund von Zensurvorwürfen gegenüber dem neuen Chefredakteur die Zeitung verlassen. Sowohl Meduza als auch VTimes zeichnet aus, dass sie als Rückzugsort für kritische Journalist:innen fungieren, gegründet von denjenigen, die auf innerredaktionellen Druck nicht mit Selbstzensur reagierten, sondern sich ihre eigene mediale Nische schufen.
Diese Fälle sind nur die jüngsten in einer langen Entwicklung hin zu einem Ausbau der staatlichen Kontrolle über weite Bereiche der Berichterstattung. Alle großen Fernsehsender waren bereits zum Ende von Wladimir Putins erster Amtszeit als Präsident entweder in staatlicher Hand oder der Gazprom Media zugehörig, wohingegen die Kontrolle über Print- und Onlinemedien langsamer und subtiler ausgebaut wurde.
Mit der Welle an Repressionen gegen Medien, in denen bislang kritische Berichterstattung noch weitgehend möglich war, wird die Botschaft gesendet: Ob kleine Medienprojekte, reine Onlinepublikationen, Exilmedien oder auch Individuen – kein Medium ist so unbedeutend, dass dessen Berichterstattung den russischen Aufsichtsbehörden entgeht.
Dieser Trend in den Medien geht einher mit dem Umbau Russlands zu einer »elektoralen Autokratie«, der mit dem Amtsantritt Putins begann. Dies ist ein Regimetyp, in dem regelmäßige Wahlen mit mehreren Parteien stattfinden, in denen der freie Wettbewerb um Mandate jedoch systematisch eingeschränkt wird. Die Kontrolle über die Berichterstattung durch die Medien ist ein wesentliches Instrument unter den Machterhaltungsstrategien des Kremls, in dem der Opposition der Zugang zu den Mainstreammedien verwehrt wird. Darüber hinaus werden Themen durch die Regierung gesetzt und geframet, also mit einem Deutungsraster versehen. Im Wahlkampf kommt dieser Funktion noch größere Bedeutung zu, da Wahlen auch bei eingeschränktem Wettbewerb als Lackmustest für das Regime gelten. Zu diesem Zeitpunkt muss es zeigen, dass es in angemessener Form populäre Kandidat:innen aufstellen und Wähler:innen mobilisieren kann, andernfalls drohen Legitimationseinbußen. Darüber hinaus bieten Wahlen großes Mobilisierungspotential für die politische Opposition. Studien zeigen, dass die Fernsehberichterstattung über die Opposition kaum je deren politische Programme zum Inhalt hat. Insofern überhaupt berichtet wird stehen Charakter und Lebensstil der Oppositionskandidat:innen im Fokus. Repressionen gegen Medienschaffende wiederum haben als Ziel, Unzufriedene in der Bevölkerung von Mobilisierung abzuhalten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Repressionen in Wahlkampfzeiten, wie jetzt mit Blick auf die Duma-Wahlen im Herbst 2021, zunehmen.
Wie wird Kontrolle über die Berichterstattung erreicht?
Im Unterschied zur Sowjetunion findet heute in Russland formal keine Zensur der Presse statt. Stattdessen ist die Kontrolle von Fernsehsendern und Zeitungen ausgelagert an deren Eigentümer, oftmals private Medienholdings. Die Einbeziehung privater Akteure in die Durchsetzung staatlicher Kontrolle über Medien ist ein wesentlicher Unterschied zu früheren Formen, und wird als »media capture« bezeichnet. Anders als während der Präsidentschaft Boris Jelzins, als mächtige Oligarchen ihre Medienunternehmen als Instrumente nutzten, um politischen Einfluss auszuüben, geht heute Druck von politischen Eliten auf private Unternehmer aus, damit diese das Regime dabei unterstützen, politische Ziele zu erreichen. Des Weiteren haben einige staatlich kontrollierte Unternehmen eigene Medienholdings gegründet, wie beispielsweise der Gazprom-Konzern, an dem wiederum der Staat die Mehrheit der Anteile hält.
Dadurch, dass Druck von staatlichen Akteuren auf Medien lediglich indirekt erzeugt wird, bleibt die Fassade einer pluralistischen Medienlandschaft bestehen. Es bleibt den Eigentümern der Medien überlassen, wie sie Kontrolle ausüben, beispielsweise indem sie regimetreues Führungspersonal rekrutieren und kritische Journalist:innen entlassen. Die Mehrheit der Eingriffe in die Berichterstattung bleibt damit innerhalb der Medienunternehmen und wird nur bekannt, wenn sich Betroffene dagegen wehren, beispielsweise in dem sie Informationen weitergeben oder ihre Stelle kündigen. Flankiert wird dies von repressiven Maßnahmen durch Regulierungsbehörden, ein restriktives Presserecht und die Angst vor Verleumdungsklagen. Ein Beispiel für derartige Praktiken ist die Untersuchung des Onlinemediums Lenta.ru durch die Medienaufsichtsbehörde »Roskomnadsor«. Dem populären Nachrichtenportal wurde vorgeworfen, dass es extremistische Inhalte verbreite, nachdem 2014 ein Interview mit einem der Anführer des ukrainischen »Rechten Sektors« erschienen war. Infolge der Untersuchung wurde die Chefredakteurin, Galina Timtschenko, entlassen, aus Solidarität mit ihr verließen 80 weitere Mitarbeiter:innen das Unternehmen (https://novayagazeta.ru/articles/2016/05/13/68591-konets-rbk-gibridnaya-voyna-protiv-media). Timtschenko und viele andere der Mitarbeiter:innen von Lenta.ru gründeten das Internetportal »Meduza«.
Erschwert wird die Situation derjenigen, die innerhalb von bestimmten Nischen unabhängige Berichterstattung machen dadurch, dass die »Grenzen des Sagbaren« fluide sind und regelmäßig verschoben werden. Dies zeigt der Fall der RBC Medienholding, bekannt für investigativen Journalismus (z. B. die Berichterstattung über die Panama Papers). Drei Redakteure wurden 2016 aus ungenannten Gründen abgesetzt und durch Elisaweta Golikowa und Igor Trosnikow ersetzt. Während der ersten Mitarbeiterversammlung kam es zu der später an Meduza geleakten Ansprache, in der die neuen Chefredakteur:innen die Prinzipien journalistischer Arbeit mit Verkehrsregeln verglichen, nach denen »über die durchgezogene Linie fahren« ebenfalls bestraft würde (https://meduza.io/feature/2016/07/08/esli-kto-to-schitaet-chto-mozhno-pryamo-voobsche-vse-eto-ne-tak). Regeln im Journalismus, so impliziert der Vergleich, würden wie Verkehrsregeln zum Schutz aller Beteiligten beitragen – worauf Mitarbeiter:innen bemerkten, dass die von ihnen genannte »durchgezogene Linie« sich im Gegensatz zu der auf der Straße bewege. Somit wird deutlich, dass implizite Regeln innerhalb der Medienhäuser existieren, an denen sich die Berichterstattung orientieren soll, wobei diese Regeln kontextabhängig und wandelnder Interpretation unterworfen sind. Das Erfordernis, sich diesen Gegebenheiten anzupassen und die damit verbundene Unsicherheit fördert Selbstzensur. Alternativ konnten Journalist:innen, die weiter kritisch berichten wollten und sich nicht den unsichtbaren »Verkehrsregeln« großer Medienhäuser unterwerfen, eigene Onlineprojekte gründen oder aus dem Ausland arbeiten. Diese Strategie trifft auf ein verändertes Mediennutzungsverhalten der russischen Bevölkerung, die sich zunehmend aus Onlinemedien, Blogs, und den sozialen Medien informiert. Deren wachsende Popularität gilt als »game changer« in der russischen Politik mit großem Mobilisierungspotential.
Die Bedeutung all dieser Medien hat seit ca. 2010 stark abgenommen zugunsten von Onlinemedien, Blogs, und den sozialen Medien. Freiräume für regimekritische Medien wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker eingehegt. Die Liste der Medien, die vermeintlich wegen kritischer Berichterstattung unter Druck gerieten und infolgedessen Journalist:innen entlassen wurden oder kündigten (dies ist aus der Berichterstattung nicht immer ersichtlich), ist lang. Sie umfasst Fernsehsender (Doschd, REN TV, TV2), Zeitungen (Wedomosti, Kommersant, Forbes), Onlinemedien (Lenta.ru, Grani.ru), eine Medienholding (Russkaja mediagruppa, RMG) und die Nachrichtenagentur (RIA Nowosti). Unterschiede gibt es in der Intensität des Drucks, dem Medienschaffende ausgesetzt sind, je nach Reichweite bzw. Bedeutung. Fernsehsender, deren Berichterstattung die wichtigste Informationsquelle für die Mehrheit der russischen Bevölkerung ist, waren größerem Druck ausgesetzt als Radio und Printmedien oder gar die agilen Onlinemedien. Daher ist es beachtenswert, dass die neuen Fälle von Repressionen sich auch gegen Medien richten, die bislang als Rückzugsorte für kritische Journalist:innen galten, nämlich Onlinezeitungen, Auslandsmedien. Außerdem wird die repressive Gesetzgebung auch gegen Einzelpersonen angewandt. Ein derartiges Vorgehen richtet sich nicht nur gegen die jeweils Betroffenen repressiver Maßnahmen, sondern ist immer auch eine Botschaft an alle Medienschaffenden, dass kritische Berichterstattung unerwünscht ist.