Während Russland den Parlamentswahlen im September 2021 entgegengeht, stehen Analytiker:innen einer Reihe polar angeordneter Faktoren und Entwicklungen gegenüber, die genug Stoff für die Frage liefern, ob das Glas nun halb voll oder halb leer ist. Beginnen wir mit den Faktoren, die sich aus dem globalen Kontext ergeben. Weltweit sind Bürger:innen zu friedlichen Protesten auf die Straße gegangen, um sich für Demokratie stark zu machen, sei es in Myanmar, Belarus, Russland oder Hongkong. Gleichzeitig beobachten wir eine zunehmende Dreistigkeit politischer Autokraten. Unbelastet von einer Rücksichtnahme auf die Unantastbarkeit des Lebens, der Rechte oder der Würde der Menschen haben Diktaturen und gemäßigte Autokratien, die sich als Demokratien maskieren, das Signal ausgesendet, dass Repressionen wirksam sind, während die Herrscher zunehmend die Verträge mit ihren Völkern brechen und die Gesellschaft mit Repressalien überziehen. Bürger:innen in der postkommunistischen Region und Protestierende weltweit haben voneinander gelernt, die Diktatoren aber auch. Moralisch sind Bürger:innen, die Gewalt vermeiden und die prägnante Symbolik von Blumen, Liedern oder herzförmigen Lichtern einsetzen (als sei es zum Valentinstag), in der Oberhand. In der Praxis sind sie jedoch waffentechnisch und in ihrer Personalstärke unterlegen, bedenkt man die riesigen Armeen von Sondereinheiten der Polizei oder die Armee, die zur Unterdrückung von abweichender Meinung eingesetzt werden.
Diese Beobachtungen müssen wir im Hinterkopf behalten, wenn wir uns mit dem Potenzial der anstehenden Parlamentswahlen in Russland befassen (einschließlich der unweigerlichen Manipulationen, Wählerproteste und deren Unterdrückung, von denen sie begleitet sein werden), und damit, wie diese einen Wandel des Regimes in Russland bewirken könnten. Zunächst ist es so, dass das Maß des Widerspruchs und Widerstands in der Bevölkerung in diesem Jahr beispiellos ist. Nach der Verhaftung Alexej Nawalnyjs sind weit mehr Protestierende auf die Straße gegangen, als wir es in den letzten Jahren beobachten konnten. Und sogar Städte und Regionen, in denen man bisher keine Massenproteste kannte, erlebten nun Demonstrationen. Das wird bei einer Analyse der Entwicklung der regionalen Daten im Lankina Russian Protest Event Dataset (LaRuPED) (http://eprints.lse.ac.uk/90298/) deutlich, aus der hervorgeht, dass das Land in gewohnheitsmäßig protestierende, aktive und weitgehend schlummernde Regionen geteilt ist. Ein weiterer Umstand, der die Proteste anwachsen lassen könnte, liegt darin begründet, dass die Bürger:innen (wie bei der Protestwelle 2011/12) nicht durch Anhängerschaft zu einer Führungsfigur, einer Partei oder einer Bewegung vereint sind, sondern durch ihre Antipathie gegen das Regime. Es gibt weitere Entwicklungen, die wir aufmerksam beobachten und einbeziehen müssen. Bei dem, was gewöhnlich unter den Begriffen demographischer oder Generationswandel gefasst wird, hat es im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnten in Wirklichkeit nämlich sehr viel tiefgreifendere Verschiebungen in den Kulturen, Mentalitäten und Einstellungen der Russ:innen gegeben und zwar nicht nur bei den Jüngeren, sondern quer durch die Generationen. Die Zeiten des sozial schwierigen, unsicheren und ängstlichen Homo Sovieticus sind vorbei. Stattdessen sehen wir selbstbewusste, vielreisende Russ:innen, die sich ihrer Rechte als Bürger:in, Wähler:in und Steuerzahler:in bewusst sind und die Werte der westlichen Mittelschichten übernommen haben. Sie werden sich mit nichts Geringerem als den gleichen Arten von Freiheit und Würde zufriedengeben, die ihre europäischen Nachbarn genießen.
In diesem Licht ist der phänomenale Symbolismus des Videos »Putins Palast« (https://www.youtube.com/watch?v=ipAnwilMncI&t=2424s) von Nawalnyjs Stiftung für den Kampf gegen Korruption zu sehen. Es ist weniger eine beeindruckende Enthüllung des ganzen Ausmaßes der Korruption, die im Regime herrscht (schließlich sind viele der im Video genannten Fakten nicht gerade neu), als vielmehr ein Statement über die Kluft zwischen den Werten der Mittelschicht und denen des Regimes. Erstere hat ein Gefühl der Scham hinsichtlich auffälligen Konsums verinnerlicht, während eben dieser Konsum symbolhaft für den Kitsch, das Vulgäre, das Rückständige des »uncoolen« Regimes steht. Dieser Kontrast wird auch deutlich, wenn YouTube-Videos oder Tweets verbreitet werden, die eine Festnahme prominenter Oppositioneller (Rechtsanwält:innen, Journalist:innen und Intellektueller) in deren Wohnung zeigen, und wir dabei einen kurzen Blick in deren einfaches Leben, eine gewöhnliche Wohnung, die bescheidene Möblierung und die glückliche Häuslichkeit dort werfen können. Das sind Menschen, die Gier, Korruption und Missachtung der Gesetze ablehnen, und die für ein zukünftiges Russland kämpfen, in dem sie ihren Leidenschaften nachgehen können und in dem ihnen die Würde von Bürger:innen zu Teil wird. Und sie setzen das in einen Kontrast zum nun berüchtigten »Bunker« des alten Mannes im Kreml. Russische Bürger:innen der Mittelschicht betrachten diesen Lebensstil à la Ludwig XIV und mit Goldprunk nicht als »cool« oder erstrebenswert, wie das für einige noch in den »wilden Neunzigern« der Fall gewesen sein mag. Cool sind Würde, ein bereichernder und moralisch nicht kompromittierter Beruf sowie Rechte, nicht aber Skiressorts mit Hubschrauberlandeplätzen, private Kapellen, Weingüter oder Jachten.
Es besteht aber eine weitere Kluft, die zu berücksichtigen ist, nämlich die zwischen der Mittelschicht – oder genauer gesagt: jener kleinen Gruppe der Mittelschicht, die mit gesellschaftlichem Bewusstsein ausgestattet ist – und dem Rest. Gemeint ist hier jenes Segment der Mittelschicht, das nicht durch Situationen alltäglicher finanzieller und administrativer Beklemmung gelähmt ist, denen sich etwa unterbezahlte Schullehrer:innen oder Pfleger:innen in der tagtäglichen Arbeit als Zahnräder in Putins Wahl- und Repressionsmaschinerie gegenübersehen. Das sind jene, die ich als »Mittelschicht zweiter Klasse« bezeichne; die US-amerikanische Wissenschaftlerin Bryn Rosenfeld (https://government.cornell.edu/bryn-rosenfeld) beschreibt sie treffend als vom Staat abhängiges »autokratisches« Segment der Mittelschicht. Der Kommunismus hat es, wie ich in meinem bald erscheinenden Buch (https://sites.google.com/view/tomilalankina/my-book-project) schreibe, nie geschafft hat, die Ständegesellschaft (soslowija) vollständig abzuschaffen, weil dort einer kleinen und exzellent gebildeten sozialen Minderheit der Intelligenzija (mit adligem, klerikalem oder stadtbürgerlichem Hintergrund) eine riesige Armee ehemaliger Bauern gegenüberstand, die im Ständesystems des russischen Zarenreichs und in den neoständischen sozialen Abstufungen des Kommunismus notorisch unterprivilegiert waren. Und dieses »ständische Erbe« hat weiterhin Einfluss auf die Orientierungen der Russ:innen im Bereich der Politik, wie ich zusammen mit Alexander Libman in einem Beitrag für die American Political Science Review erörtere (Siehe in den Lesetipps). Diese historischen Betrachtungen sollten im Vordergrund stehen, wenn wir uns mit der Frage beschäftigen, wie die Sicherheits- und Polizeibehörden mit Protesten im heutigen Russland und auch in anderen postkommunistischen Autokratien wie Belarus umgehen. Wir müssen die sozialen Milieus analysieren, aus denen die Armee derer stammt, die für Putins Nationalgarde rekrutiert werden. Und wir müssen herausfinden, ob es die Abgründe sozialer Verzweiflung und Entrechtung sind, die sie zu besoldeten Handlangern des Regimes und zu Mittäter:innen bei dessen Gewalttaten, ideologisch motivierten Verurteilungen, seiner Ignoranz oder einer Kombination aus allem machen.
Ich kehre zur Ausgangsfrage zurück. Die starken Männer in Russland und den Regimen in anderen Teilen der Welt fühlen sich nicht nur deshalb ermutigt, weil sie sehen, dass weltweit Gewalt eingesetzt wird, sondern weil andere starke Männer in der gleichen Weise vorgehen und damit davonkommen. Sie sind sich sicher, dass sie die Macht haben, Armeen von Helfer:innen zu rekrutieren, und die kommen wohl aus gewöhnlich benachteiligten Bevölkerungsgruppen, kriminellen Milieus und den Unterschichten. Da es mehr als genug tiefgreifende soziale Probleme gibt – sei es wegen der Corona-Pandemie, des Niedergangs des Ölstaates oder der Sanktionen des Westens – und da Diktatoren wie Putin ihre Volkswirtschaften weiter in den Sand setzen, werden sich wohl mehr Akteure finden, die wirtschaftlich verzweifelt sind, böse Absichten haben oder bereit sind, Prinzipien gegen Bezahlung über Bord zu werfen. Daher bin ich bei der Frage, was das zutiefst sinnlose Ritual der Wahlen in Russland dem Land hinsichtlich demokratischer Veränderungen bringen wird, notgedrungen nicht allzu optimistisch.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder