Das Licht einer enttäuschten Hoffnung

Von Swetlana Alexijewitsch, Ekaterina Schulmann, Iwan Krastew, Artyom Shraibman, Irina Michno

Der folgende Beitrag von Swetlana Alexijewitsch, Ekaterina Schulmann, Iwan Krastew, Artyom Shraibman, Irina Michno erschien ursprünglich als Transkript eines Podcasts am 08.06.2021 im Online-Medium kyky.org und wurde von dekoder ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht.

Einleitung von dekoder

Seit 2016 lädt die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zu einem Diskussionsklub ein – um die dringendsten gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zu diskutieren. Beim zweiten Klub-Treffen des Jahres Anfang Juni 2021 ging es um das Buch »Das Licht, das erlosch« des bulgarischen politischen Analysten Iwan Krastew. Neben Krastew und Alexijewitsch nahm die russische Politologin Ekaterina Schulmann an der Diskussion teil, die der belarussische Analyst Artyom Shraibman moderierte. Mit seinem Co-Autor Stephen Holmes vertritt Krastew in »Das Licht, das erlosch« einmal mehr die These eines »Nachahmungsimperativs« des Westens nach dem Kalten Krieg. Damals hätte in Mittel- und Osteuropa ein Zeitalter der Imitation begonnen, doch auch unter dem Eindruck der Bevormundung seien Gefühle der eigenen Unzulänglichkeit immer größer geworden. Schließlich habe der Westen knapp 30 Jahre nach Ende des Kalten Kriegs seine Glaubwürdigkeit und Strahlkraft verloren. Krastews Buch wurde in Westeuropa kontrovers diskutiert. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann etwa kritisiert unter anderem, dass Krastew mit »dem Westen« einen Kampfbegriff und eine normative Bezugsgröße aus Zeiten des Kalten Krieges bemühe, die es so heute gar nicht mehr gebe. Auch unterscheide Krastew zu wenig zwischen liberaler Demokratie und neoliberaler Wirtschaftsordnung. Vor dem Hintergrund zunehmender Gewalt und Repression in beiden Gesellschaften, sowie angespannter politischer Beziehungen mit Westeuropa fragt der Klub: Wo stehen Russland und Belarus knapp 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion? Und wie sieht ihre gesellschaftliche und politische Zukunft aus? Das belarussische Magazin Kyky hat Teile der Diskussion transkribiert – in denen vor allem die Politologin Ekaterina Schulmann den Thesen Krastews teilweise energisch widerspricht.

»Die zwei slawischen Autokratien leugnen den Lauf der Zeit«

Swetlana Alexijewitsch: Die Zeit hat alle unsere Illusionen und Erwartungen auf den Kopf gestellt, unsere ganze emotionale Trägheit. Vor allem in Belarus sind wir gezwungen, nach Solshenizyns Büchern zu leben. Weder meine noch eure Generation – niemand hat damit gerechnet. Wenn wir an unseren Enthusiasmus der 1990er Jahre denken, hätten wir nie gedacht, dass wir dort hinkommen, wo wir heute sind. Es gibt viele drängende Fragen, aber ich glaube, noch viel wichtiger ist es zu verstehen, warum wir da gelandet sind, wo wir heute sind. Warum all unsere Illusionen, die wir hatten, als wir uns an die Perestroika machten – warum nichts davon eingetroffen ist, sich nichts bewahrheitet hat.

Als ich »Das Licht, das erlosch« von Iwan Krastew und Stephen Holmes gesehen habe, war ich schwer beeindruckt. Wir sollten aufhören, Angst zu haben, mal vor der Vergangenheit, mal vor der Zukunft, mal vor der Gegenwart. Wir leben in ständiger Angst. Versuchen wir doch einmal, unserer neuen Realität ins Gesicht zu schauen.

Artyom Shraibman: Nachahmung ist ein Prozess, der viele Länder der Welt erfasst hat, aber vermutlich nicht alle. Es ist wichtig zu verstehen, warum er ausgerechnet unsere Länder erfasste und was das Ende dieser Epoche für uns bedeutet.

Iwan Krastew: Anfang der 1990er Jahre war klar, dass die Welt das westliche Lebensmodell imitieren würde, weil es zwei globale Ideologien gab, die den Kalten Krieg begründeten. Eine davon hat den Krieg nicht nur verloren, sie hat auch aufgehört, sich selbst zu glauben.

[Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis] Fukuyama sprach von dem Ende der Geschichte, heute lachen alle über diese Idee. Aber Anfang der 1990er Jahre war Demokratie ein Synonym für die Modernisierung der Gesellschaft. Alle dachten, dass sie dieses Modell imitieren werden. Wir wollten leben wie im Westen: Die Ungarn wollten das, die Bulgaren, die Polen.

Aber wenn man jemanden imitiert, gibt man zu, dass er besser ist als man selbst. Das wirft eine zweite Frage auf: Was passiert mit der eigenen Identität? Und es gibt noch einen dritten Punkt: Man imitiert nicht Christus, sondern eine andere Gesellschaft, die sich ständig verändert. Daher kommen die starken antiliberalen Stimmungen, die man in Teilen der ungarischen und auch der polnischen Gesellschaft beobachten kann: Man wollte etwas anderes als das, was man imitiert hat. Schließlich erschien den Polen die westliche Gesellschaft Ende der 1980er als durchaus konservativ, alle gingen in die Kirche. Und sehen Sie sich an, wie sich diese Gesellschaft innerhalb von 30 Jahren verändert hat.

Es gab in der Tat eine Zeit, in der selbst autoritäre Regime die Menschen davon überzeugen wollten, dass sie demokratisch legitimiert sind, dass sie wie die westlichen Demokratien sein wollen, es aber nicht gelingt. Doch diese Zeiten sind seit vier, fünf Jahren vorbei. Jetzt sehen wir in Russland und Belarus eine andere Rhetorik: Wir wollen nicht so sein wie ihr, im Gegenteil, und wir werden nie so sein wie ihr.

Ekaterina Schulmann: Einen Teil dessen, was Iwan anspricht, bezeichnet man als Problem oder, wenn man so will, als Tragödie der aufholenden Entwicklung. Länder, die das Gefühl haben, rückständig zu sein, versuchen den Weg zum Fortschritt durch Nachahmung abzukürzen. Doch bevor wir konstatieren, dass die Länder der Zweiten Welt aufgehört haben, die Länder der Ersten Welt zu imitieren, sollten wir uns daran erinnern, dass das westliche Lebensmodell universelle Anziehungskraft besitzt.

Niemand will etwas grundsätzlich anderes (das gilt auch für China und den postsowjetischen Raum), alle wollen iPhones, Supermärkte und Cafés, niemand will in Askese leben. Außerdem reagieren die Menschen sehr empfindlich auf Einschränkungen, die ihr Privatleben betreffen. Sie sind bereit, politische Freiheiten zu opfern – zum einen, weil sie nicht wirklich verstehen, was das ist, zum anderen, weil sie diese Freiheiten nie wirklich gehabt haben. Sie haben den unmittelbaren Zusammenhang zwischen politischer Freiheit und Lebensstandard noch nicht erkannt. Aber die Konsumfreiheit wollen ausnahmslos alle. Insofern wird die Nachahmung nicht aufhören, solange sich Wunsch und Wirklichkeit gleichen.

Es hat sich kein Alternativangebot, kein neuer Zivilisationstypus herausgebildet. Wie Iwan schon sagte, gab es zwei globale Ideologien, von denen die eine gestorben ist und die zweite gesiegt hat, das ist nach wie vor wahr. Aber es gibt auch eine zunehmende Diskrepanz zwischen dem gewollten Lebensstil und dem politischen Überbau. Genau darin liegt die Gefahr oder die Attraktivität des chinesischen Beispiels. China scheint der ganzen Welt sagen zu wollen: Man kann auch ohne den politischen Überbau des Westens Dutzende Millionen von Menschen aus der Armut führen und Riesenstädte errichten, ohne die Risiken, die die Demokratie in sich birgt. Das ist ein neues autoritäres Angebot, das nicht ideologisch ist. Es macht keinen Versuch, das Märchen von Orthodoxie, Selbstherrschaft, Volkstümlichkeit nachzuerzählen; Versuche dem Wahlvolk zu gefallen – das ist keine Ideologie. Auf dem Markt der Ideen hat der Westen insofern immer noch das absolute Monopol.

Als der Sprecher der russischen Staatsduma vor einiger Zeit sagte, Russland sei die letzte Insel der Demokratie und der Freiheit, konnte man schwer nachvollziehen, was in diesem Moment in seinem komplexen Hirn vor sich ging. Klar ist jedoch, dass Demokratie und Freiheit als etwas Gutes wahrgenommen werden. Nur dass diese Dinge im Westen faul geworden und verdorben sind, wohingegen es sie bei uns nun einfach gibt.

In Russland spricht man oft davon, dass wir mehr Europa sein werden als Europa selbst, das die wahre Freiheit gegen Toleranz eingetauscht habe. Nach dem Motto: Ihr beschwert euch über die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor? Ihr habt ja keine Ahnung von der grausamen Hetze gegen Menschen und der Selbstzensur, die in den sozialen Netzwerken im Westen florieren.

Das Buch, mit dem wir das Gespräch begonnen haben, wurde vom russischsprachigen Publikum nicht ohne Schadenfreude aufgenommen: Die im Westen haben ihre historische Niederlage eingestanden! Aber Niederlage im Vergleich zu wem? Zu diesen ewig imitierenden Autokratien, die zu 80 Prozent aus Propaganda und 20 Prozent aus Gewalt bestehen? Sollen die das neue historische Angebot sein?

Sie können ja nicht einmal formulieren, wer sie selbst sind. Heute sind sie eine souveräne Demokratie, morgen verteidigen sie sich gegen geheimnisvolle Feinde und machen sich nicht einmal mehr die Mühe zu erklären, was sie überhaupt zu verteidigen versuchen. Das einzige erklärte Ziel ist es, den Tag irgendwie durchzustehen und die Nacht zu überleben. Die Macht geben wir nicht ab, weil es ohne uns nur noch schlimmer wird – das ist das Einzige, was sie ideologisch anzubieten haben.

Artyom Shraibman: Betreten wir wirklich eine neue Ära? Und ist sie überhaupt neu, haben wir nicht im 20. Jahrhundert und noch früher ähnliche Umbrüche, eine ähnliche Abkehr von Formen eines nationalen Selbstverständnis gesehen?

Ekaterina Schulmann: 30 Jahre postsowjetischer Transit gehen zu Ende. Während dieser Zeit haben sich im postsowjetischen Raum drei politische Ordnungen herausgebildet: primitive mittelasiatische Despotien (Usbekistan u. a.); schwache Demokratien mit einem instabilen Staatsapparat, einem nicht erreichten Gewaltmonopol und einer ziemlich starken Rolle von Zivilgesellschaft, aber auch oligarchischen Gruppen (Ukraine, Kirgistan, Republik Moldau, Georgien, Armenien); und der dritte Typus – personalisierte Autokratien, die zwar Wahlen durchführen, aber durch die Wahlen keinen Wechsel riskieren wollen; die die Vorteile des Konkurrenzkapitalismus für sich nutzen, aber gleichzeitig eine extrem hohe Staatspräsenz in der Wirtschaft erschaffen (Russland, Belarus, Kasachstan). Das sind unsere drei Karten: eine Drei, eine Sieben, ein Ass. Oder, wenn Sie so wollen, die drei Wege, die die postsowjetische Entwicklung einschlagen konnte.

Jetzt können wir beobachten, wie unterschiedlich die Autokratien in die für sie kritische Übergangsperiode eintreten. Bisher scheint Kasachstan von den dreien am besten abzuschneiden – sein politisches System hat den Mut gefunden, einzugestehen, dass ein Übergang notwendig ist und stattfinden wird.

Die zwei slawischen Autokratien haben sich entschieden, den Lauf der Zeit zu leugnen, sie krallen sich am Status quo fest, den sie Stabilität und Souveränität nennen, und laufen jetzt doppelt so schnell, um auf der Stelle zu bleiben.

Denn es hat sich herausgestellt, dass man den Status quo nicht aufrechterhalten kann, ohne eine unglaubliche Menge an Ressourcen reinzustecken. Ich glaube nicht, dass dieses Stadium – der Versuch, die Notwendigkeit eines Übergangs zu leugnen – die Endstation ist.

Das russische Modell, das vielfältiger und flexibler als das belarussische ist, ist noch dabei, diese komplexe Gleichung für sich zu lösen: Was müssen wir ändern, damit alles gleich bleibt? Das politische System in Belarus verhält sich dabei sekundär und komplementär zum russischen. Wenn bzw. falls sich das russische Modell transformiert, wird das belarussische folgen.

Die Todesstarre, der Krampf, der unsere beiden Systeme befallen und zahlreiche Prozesse auf Zwangspause gestellt hat, verdient Beobachtung, aber keine Verabsolutierung. Man sollte es nicht als finale Etappe einer dreißigjährigen Entwicklung sehen, als Ende der Geschichte. Lassen Sie uns nicht Fukuyama spielen.

Artyom Shraibman: Wenn Belarus, Kasachstan und Russland denselben institutionellen Weg gehen, den die Länder Zentral- und Osteuropas gegangen sind, wird sich nicht irgendwann herausstellen, dass es eine Sackgasse ist? Was sollen die jungen, noch ungewissen Regime nach Lukaschenko, Putin und Nasarbajew aufbauen, wenn selbst ein wesentlicher Teil der Bevölkerung in den jungen Demokratien Osteuropas von der Imitation enttäuscht ist?

Ekaterina Schulmann: Wie sollen wir uns modernisieren, wenn der Westen nicht mehr das Vorbild ist? Wissen Sie, einer der Faktoren für die Erosion des Ideals ist die Annäherung daran. Das heutige Belarus und sogar Russland sind dem Westen viel ähnlicher als der Sowjetunion. Unsere Autokratien haben sich den Vorbildern angenähert, die sie sich vorgestellt hatten. Wir haben uns den Kapitalismus angeschafft, Wahlen, sogar ein bisschen freie Presse, breite Uferpromenaden und Elektroroller, aber in die Erste Welt dürfen wir immer noch nicht.

Der Sowjetmensch hat sich den legendären Westen als Schlaraffenland vorgestellt. Aber als das westliche Leben immer vertrauter wurde, entdeckte man darin immer mehr Flecken und Risse. Zumal man über den kollektiven Westen heutzutage nur nachsinnen darf, wenn man Nikolai Platonowitsch Patruschew ist.

Was können wir über den nächsten Entwicklungssprung der postsowjetischen Autokratien sagen? Sie werden offenkundig urbanisierte Staaten mit einer gebildeten Bevölkerung bleiben und sich weiter in diese Richtung entwickeln; sie sind nicht so sehr Industriemächte als vielmehr Länder, in denen der Dienstleistungssektor eine immer größere Rolle spielt. Das ist nicht unbedingt der geeignetste Nährboden für eine primitive Diktatur.

Obwohl die neuen Möglichkeiten, jede einzelne Geldtransaktion, jede Bewegung nachzuverfolgen, einschließlich der Bewegung von Informationseinheiten, neue Möglichkeiten für Planung und Umverteilung bieten. Der Staat gibt seinen Bürgern Geld, unterstützt die Wirtschaft, und will im Gegenzug dafür deine Daten – wissen, was du schreibst, sagst, wo du dein Geld aufbewahrst, wohin du geschaut hast – und im nächsten Schritt auch deine Loyalität.

Artyom Shraibman: Ekaterina, Sie haben das, was in Belarus und in Russland passiert, als »Krampf« bezeichnet. Worin wird das münden? Der eine wie der andere Leader scheint sich ganz wohl zu fühlen, sie haben keine Angst, den Einsatz zu erhöhen, den Griff noch fester zuzudrücken. Wo ist die Wand, gegen die dieser Krampf prallt?

Ekaterina Schulmann: Dass der Druck erhöht wird, ist kein Anzeichen für die Abwesenheit von Angst. Jemand, der sich nicht bedroht fühlt, führt keine Eskalation herbei. Ich will nicht darüber urteilen, wer sich wohl fühlt und wer nicht. Bedenken wir einfach, dass die ganze Arbeit dieser politischen Systeme darin besteht, einen Eindruck zu erwecken, und zwar zum großen Teil einen falschen. Dafür werden gigantische Ressourcen aufgewendet.

Ich habe die Situation nicht als Krampf bezeichnet, weil ich sie für ein kurzfristiges Phänomen halte. Ineffektive politische Modelle können sehr langlebig sein.

Was ist diese Wand, diese Schwelle, hinter der sich etwas qualitativ transformiert? Die Wahlen 2024 sind der nächste Punkt. Wenn die Beliebtheit des amtierenden russischen Präsidenten nach 2021 weiter sinkt, könnte er auf den Gedanken kommen: Sollte ich es nicht lieber machen wie Jelzin? Sollte ich nicht meinen Nachfolger mit den Überresten meiner eigenen Popularität ausstatten und ihm das Verlangen nach Erneuerung, das in der Gesellschaft so groß ist, als Geschenk hinterlassen?

Jelzin war extrem unpopulär, und sein Nachfolger wurde quasi über Nacht ein gefragter Mann. Warum? Weil die Menschen einen neuen Leader wollten, aber keine Revolution. Ein Nachfolger muss gleichzeitig Erbe und Antagonist sein. Ich denke, je näher 2024 rückt, desto mehr könnte diese politische Parallele eine Rolle spielen.

Übersetzung aus dem Russischen (gekürzt) von Jennie Seitz

Das russischsprachige Original des vorliegenden Beitrags ist online verfügbar unter https://kyky.org/places/svet-obmanuvshiy-nadezhdy-shraybman-shulman-i-aleksievich-o-novom-periode-v-istorii-belarusi-rossii-i-zapada, die Übersetzung ins Deutsche durch dekoder unter https://www.dekoder.org/de/article/schulmann-krastew-alexijewitsch-zukunft.

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