Eine Auflösung von Memorial wäre ungerecht und unverhältnismäßig
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beim Obersten Gericht eine Klage eingereicht, durch die eine der ältesten Menschenrechtsvereinigungen Russlands aufgelöst werden soll. Vor einigen Jahren schon ist Memorial International in das Verzeichnis der NGOs aufgenommen worden, die als »ausländische Agenten« eingestuft werden. Jetzt fordert die Generalstaatsanwaltschaft, die Tätigkeit der Organisation endgültig zu beenden. Ähnliche Maßnahmen ergriff die Staatsanwaltschaft Moskau mit ihrem Vorgehen gegen das Menschenrechtszentrum Memorial. Die Staatsanwaltschaften sind der Ansicht, die Organisationen würden ständig, böswillig und gezielt russische Gesetze verletzen.
Die Meldung von einer möglichen Schließung einer der ältesten, standhaftesten und äußerst nützlichen gesellschaftlichen Organisationen Russlands hat mich zutiefst bestürzt. Nach Einsicht in den juristischen Kern der Klage bin ich wie andere zum Schluss gekommen, dass es keine unveränderlichen Umstände und keine begründete Gefahr gibt, die ein »letztes Mittel«, also die Schließung der Organisationen von Memorial, erforderlich machen würden. Es ist völlig unklar, wie die Staatsanwaltschaft ihre Vorwürfe gegen die Organisation derart hart formulieren und gleichzeitig erklären kann, dass sich Memorial International beispielsweise in den letzten 14 Monaten keine Gesetzesverstöße hat zuschulden kommen lassen, auch nicht des Gesetzes über »ausländische Agenten«. Das ist auch der Grund, warum wir in der Erklärung des Menschenrechtsrates beim Präsidenten die Situation als ungerecht und angesichts der vorliegenden Verstöße als unverhältnismäßig bezeichnet haben.
Darüber hinaus sind wir überaus besorgt, dass Organisationen aus »technischen« Gründen aufgelöst werden könnten, weil nämlich das Recht sich zu Vereinigungen zusammenzuschließen ein zentrales Menschenrecht darstellt und von besonderem Wert ist. Und Memorial ist eine der Säulen und treibenden Kräfte bürgerschaftlicher Kultur in Russland.
Memorial als treibende Kraft der russischen Zivilgesellschaft
Memorial hat nicht nur die Erinnerung an die politischen Repressionen bewahrt, sondern auch eine riesige Menge historischer Quellen für diese Erinnerung in Umlauf gebracht und musealisiert. Memorial hat als erste von der familiären Erinnerung als Teil des historischen Gedächtnisses unserer Heimat gesprochen. Die verschiedenen Organisationen von Memorial haben seinerzeit eine ganze Bandbreite bürgerschaftlicher Aktivität begründet: eine öffentliche Debatte über den Kaukasus ohne Xenophobie, eine menschenrechtliche Perspektive auf das Geschehen in der russischen Gesellschaft, freie Bildungsarbeit, Entwicklung einer angewandten Geschichtsbetrachtung in den Schulen, Freiwilligenbewegungen, soziale Hilfeleistung für Opfer der Repressionen und deren Kinder, Entwicklung eines alternativen Zivildienstes, Humanisierung der Rekrutierung in die Armee und vieles mehr. Memorial steht für eine besondere Art bürgerschaftlichen Dienens. Memorial ist etwas, was unbedingt zu bewahren ist.
Der Gerichtsprozess über die Schließung von Memorial ist wie ein Vergrößerungsglas, durch das die gesellschaftliche Nutzlosigkeit der Gesetzgebung über »ausländische Agenten« und die derzeit vielfältige Verwundbarkeit gesellschaftlicher Organisationen und Gruppen erkennbar wird.
Die Auflösung von Memorial würde ein deutliches Signal an andere zivilgesellschaftliche Organisationen senden
Jemand von den seit langem bestehenden NGOs, den regionalen Organisationen von Memorial und deren natürlichen Nachbarn im regionalen gesellschaftlichen Leben mag diese Affäre als Zeichen wahrnehmen, dass dadurch die langwährende und öffentliche Tätigkeit einer registrierten Organisation entwertet wird. Eine registrierte Organisation, die über langjährige Erfahrung in ihrer Arbeit wie auch in der Zusammenarbeit mit dem Staat bei der Ausarbeitung und Umsetzung staatlicher Konzeptionen verfügt (bei Memorial war es die »Staatliche Konzeption zur Verewigung der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen« – eine Arbeit im Scheinwerferlicht), könnte sich nicht als etwas Wertvolles erweisen, sondern als Schwachpunkt für gesellschaftliches Engagement. Nach dem Motto: »Wenn sie schon mit Memorial so umspringen, dann…«
Schließlich gibt es viele Themen, die für die verschiedenen Generationen zivilgesellschaftlicher Aktivist:innen in Russland wichtig sind, an die sich diese erinnern und die mit Memorial in Verbindung gebracht werden, selbst wenn Memorial jetzt nicht mehr dazu arbeitet.
Jedes dieser Themen ist für den zivilgesellschaftlichen Frieden sehr sensibel. Der Fall Memorial wird hier vor allem in Bezug auf die Themenfelder betrachtet, die Memorial bearbeitet hat. Weil eine mögliche Schließung von Memorial für viele Aktivist:innen-Gruppen, die sich mit denselben Themenfeldern befassen, beunruhigend ist, da sie eine Arbeit nach einigermaßen klaren Regeln – und eben nicht nach dem Gutdünken der Kontrollbehörden – in Frage stellt.
Vertreter:innen der Wissenschaft, unabhängige Bildungsorganisationen und Journalist:innen weisen darauf hin, dass in der öffentlichen Diskussion zu den Vorwürfen gegen Memorial Phrasen wie »Versuche der Geschichtsverfälschung« oder »Unterstützung verbotener extremistischer Organisationen« verwendet werden. Der Fall Memorial macht die Gefahr schwarz-weißer Weltsichten und propagandistischer Nötigung deutlich, mit der eine »amtliche« Deutung des Lebens und der Geschichte durchgesetzt werden soll. Das ist der Grund, warum diejenigen, die sich wegen oder um Memorial zusammenschließen, dazu aufrufen, dass man über die immer noch nicht verheilten Wunden der Russ:innen aus Friedens- und Kriegszeiten wie normale Menschen reden soll. In einem solchen Gespräch zwischen Menschen werden unausweichlich unterschiedliche Ansichten aufeinanderprallen. Memorial steht für lebendige, nicht für eine staatlich verordnete, schematisierte Geschichte. Für Geschichte als pragmatische und inhaltliche Aneignung dessen, worin der Wert des Friedens besteht und worin der Preis des Sieges in einem Krieg.
Eine Auflösung von Memorial würde die Büchse der Pandora öffnen
Viele zivilgesellschaftliche Aktivist:innen und Expert:innen verweisen auf den Pandorabüchsen-Effekt, der sich für aus einem ungünstigen Ausgang des Gerichtsverfahrens für NGOs ergeben könnte. Es soll zwar (das haben die Behörden und das Verfassungsgericht erklärt und das hat Präsident Putin mehrfach deutlich gemacht) nicht darum gehen, dass eine Organisation deshalb diskriminiert wird, weil sie ausländische Mittel erhält und sich mit etwas beschäftigt, was das Justizministerium oder andere Kontrollorgane als »politische Tätigkeit« bezeichnen. Wenn sie das Gesetz beachten, sollen sie in Ruhe weiterarbeiten können. Und sogar die Staatsanwaltschaft behauptet, dass Memorial International zumindest in den letzten vierzehn Monaten das Gesetz absolut penibel befolgt hat… Und dennoch: Jetzt geht es um eine mögliche Schließung von Memorial! Man möchte sich kaum vorstellen, wie die Behörden auf unterschiedlicher Ebene unter dem Eindruck dieses Vorbilds jetzt gegen diverse Organisationen nach gleichem Muster vorgehen könnten.
Die Gesetzgebung über »ausländische Agenten« ist kontraproduktiv
Selbstverständlich ist auch die Gesetzgebung über »ausländische Agenten« wieder in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt. Es ist klar, dass das Gesetz und dessen Anwendung für die Gesellschaft sehr viel kontraproduktiver ist als gemeinhin angenommen. Beides hat üble Auswirkungen auf die öffentliche Rhetorik. Letztere senkt die Hürden dafür, dass Menschen mit anderen Ansichten und mit internationaler Erfahrung sozial diffamiert werden, dass sehr viele Organisationen, Vereine und Personen an den Pranger gestellt und als a priori manipuliert und marionettenhaft hingestellt werden. Diese Gesetze und ihre konkrete Anwendung beeinträchtigen die Qualität der »Rechtsordnung«, sie widersprechen und entwerten somit die Reform der Kontroll- und Aufsichtsbehörden im Land und pervertieren diejenigen, die im Justizwesen tätig sind.
Die Gesetzgebung steht auch beispielhaft für die Lücken in der Funktion staatlicher Behörden (mitunter alles andere als Sicherheitsbehörden), die nicht für das Entstehen und die Radikalisierung gesellschaftlicher Konflikte verantwortlich sind. Es geht hier auch um eine drastische Verstärkung der Bürokratisierung (also einer Verstärkung der administrativen Barrieren) für die Arbeit von NGOs. Und um eine Gesetzgebung, die eine erhebliche Anzahl (auch charitativer) Organisationen »terrorisiert«, weil diese nicht eindeutig verstehen können, wie man angesichts dieser Bestimmungen vorausschauend gesetzestreu sein soll – sie können dies nur um den Preis erhöhter Risiken und Selbstzensur oder verringerter Ressourcen erreichen. Gemeint sind Organisationen, die wohl nie zu »ausländischen Agenten« erklärt werden, die aber die Kosten für die unvernünftige, oft überregulierende und weit auslegbare Gesetzgebung und deren Anwendung zu tragen haben. Hier meine ich längst nicht nur Privatpersonen, die als Journalist:in zum »ausländischen Agenten« wurden, als ob sie Frankenstein selbst wären.
Ende 2020 und 2021 kam es zu einer weiteren Runde von Listungen, die ein weiteres Mal verdeutlichten, wie problematisch die Anwendung des »Ausländische Agenten«-Gesetzes ist: In das Register wurden auch charitative Organisationen aufgenommen, die zu HIV-Aids, Gewalt in der Familie, einer wissenschaftlichen Analyse im Menschenrechtsbereich und der Medien arbeiten, aber auch einfache Personen, z. B. Redaktionsmitglieder, Mitarbeitende von Monitoringprojekten oder Anwält:innen. Es gab Überprüfungen aufgrund von Beschwerden bestimmter Vigilant:innen und Denunziant:innen, in manchen Fällen mehrfach von den gleichen.
Es regt sich Protest gegen das Gesetz über »ausländische Agenten«
In diesem Sinne ist wohl ein für die Gesellschaft erhebliches Maß überschritten und ein neues Niveau des Protestpotenzials gegen dieses Gesetz erreicht worden.
Mehrere Hunderttausend Menschen unterzeichneten eine Petition, die eine Änderung dieses Gesetzes verlangt. Charitative Organisationen haben einen Brief veröffentlicht, der eine Reform der Aufsichtspraxis anmahnt. Es gab Solidaritätskampagnen. Der Menschenrechtrat beim Präsidenten tagte und reichte bei der Regierung und der Föderalen Versammlung in zwei Paketen Vorschläge für eine Reform des Gesetzes ein. Abgeordnete zweier »oppositioneller« Dumafraktionen legten Entwürfe für eine Korrektur des Gesetzes über »ausländische Agenten« vor.
Das könnte einem wohl Hoffnung geben, dass es nicht zu einer weiteren Verschlechterung kommt. Wird sich die Lage jedoch auch bessern? Es sieht nicht so aus, als ob es zu einer grundsätzlichen Demontage der Gesetzgebung kommen wird. Möglicherweise werden aber einige Gruppen von Organisationen, vor allem solche, die im sozialen Bereich arbeiten, aus dem Wirkungsbereich des Gesetzes herausgenommen, wie auch Angehörige einiger Berufsgruppen, etwa Medienschaffende. Nämlich dort, wo besonders klar ist, dass es völlig unvernünftig wäre, Organisationen unter dem Damoklesschwert eines potenziellen »ausländischen Agenten« zu halten und wo diese Organisationen über viel Verhandlungsmacht verfügen.
Memorial und die deutsch-russischen Beziehungen
Der Fall Memorial hat auch Auswirkungen auf Russlands Beziehungen zu anderen Ländern, unter anderem zu Deutschland. Es wäre für Russland wie auch für Deutschland und jedes andere Land richtig und wichtig, Möglichkeiten für Zusammenarbeit zu bewahren, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen und eben nicht auf der Ebene der Regime, der Ebene der Staaten – zusammenarbeiten können Städte, NGOs, kulturelle Communities… Die Möglichkeiten für Zusammenarbeit zu bewahren und zu fördern bedeutet gleichzeitig, die Lage zu normalisieren. Wir haben es mit dem Phänomen zu tun, dass die Haltung zur Demokratie, zu den Menschenrechten, zu staatlicher Fürsorge sehr sensibel darauf reagiert, wie sich jene verhalten, die wir als »Träger der Norm« betrachteten. Und in einigen Fällen, die zugegebenermaßen kompliziert sind, nämlich in Bezug auf das Impfen, auf Migranten, das Versammlungsrecht, den Schutz der Mitarbeitenden, da können wir sehen, wie die erwartete »goldene Norm« vor unseren Augen auseinanderfällt. In diesem Sinne wünsche ich mir sehr, dass man in Deutschland an der Überzeugung für die Rechte und Freiheiten der eigenen Bevölkerung, die ja allgemeine europäische Werte darstellen, festhält.
Der Raum für einen weniger dramatischen Dialog sollte nach Möglichkeit bewahrt werden. Wir brauchen Dialog-Plattformen! Wenn es die Möglichkeit gibt, etwas ähnliches wie ein deutsch-russisches Forum wieder zu errichten, dann sollte man das natürlich tun. Wenn Menschen miteinander reden, wenn Organisationen miteinander reden, dann werden dort Möglichkeiten zur Zusammenarbeit geschaffen, wo Regierungen, Ministerien oder Militärs sie verloren haben. Und es ist wichtig, von allen Seiten eine »Abrüstung« zu betreiben. Man sollte auf keinen Fall das Säbelrasseln unterstützen oder Kriegsrhetorik einsetzen (nicht einmal von einem Kalten Krieg); das ist im Interesse aller Länder. Und Deutschland weiß wie kein anderes Land, dass jeder Sieg einen Preis hat und dieser für das Menschliche im Menschen meist unerträglich hoch ist.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder