Verzichtbar? Der Einsatz für Religions- und Gewissensfreiheit durch das Menschenrechtszentrum Memorial

Von Regina Elsner (Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien ZOiS, Berlin)

Das staatliche Vorgehen gegen zivilgesellschaftliche Bewegungen und daran beteiligte Personen in der Russischen Föderation trifft seit einigen Jahren auch Religionsgemeinschaften. Insgesamt war die große Religionsfreiheit der frühen 1990er Jahre bereits mit dem Religionsgesetz von 1997 einer latenten Privilegierung der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) gewichen. Diese gilt als besonders prägend für die Geschichte und das zivilisatorische Selbstverständnis Russlands und fungierte seit dem Ende der Sowjetunion auch als wichtiger Pfeiler des postsowjetischen Selbstbewusstseins. Kleinere Religionsgemeinschaften oder die, die sich den anerkannten zentralisierten Strukturen nicht einordnen wollten, sind spätestens seit 1997 einem verstärkten bürokratischen Druck ausgeliefert. Von den gesetzlichen Maßnahmen gegen die Zivilgesellschaft in den 2010er Jahren sind diese Religionsgemeinschaften ebenfalls stark getroffen worden. Vor allem die Gesetze gegen Terrorismus, Extremismus und »ausländische Agenten« werden gezielt gegen kleine und als »nicht traditionell« wahrgenommene Religionsgemeinschaften angewandt.

Mit dem Druck auf die Religionsgemeinschaften wuchs in den vergangenen Jahren auch der Druck auf Menschen und Organisationen, die Verletzungen der Religions- und Gewissensfreiheit dokumentieren und national und international sichtbar machen. Das Menschenrechtszentrum Memorial ist dabei ein zentraler Akteur. Memorial führt eine offizielle Liste der politischen Gefangenen in Russland und von Personen, die aus religiösen Gründen strafrechtlich verfolgt werden. Ihnen ist eine eigene Zählung gewidmet – aktuell gehört die Mehrzahl der politischen Gefangenen in Russland zu dieser Gruppe. Gemeinsam mit dem Analytischen Zentrum Sowa (https://www.sova-center.ru/), welches sich den Zusammenhängen von Xenophobie, Nationalismus und Religion widmet, präsentiert Memorial seit vielen Jahren Angriffe auf die Religions- und Gewissensfreiheit bei internationalen Organisationen. Beide Organisationen wurden 2016 in das Register der »ausländischen Agenten« eingetragen, ihre Tätigkeit – auch zum Schutz der Religions- und Gewissensfreiheit – wird verdächtigt, den Interessen Russlands zu schaden.

Die Analysen und Daten des Menschenrechtszentrums Memorial zeigen eindrücklich, wie in erster Linie muslimische Bewegungen seit 2004 – also seit der Tragödie von Beslan und deutlich vor den Anti-Terrorismus-Gesetzen des Jarowaja-Pakets 2016 – in den Fokus der Extremismusbekämpfung geraten sind. Gerade im Kampf gegen kleinere muslimische Gruppierungen, die sich nicht den zentralen Verwaltungsorganen des Islam in Russland unterstellen, ist die Terrorismusbekämpfung ein verbreitetes Mittel, Druck auszuüben. Dies gilt auch nach der Annexion der Krim im Verhältnis zu der krimtatarischen Minderheit. Der instrumentalisierende, politische Umgang mit der Extremismusbekämpfung wurde außerdem auch im Fall der Zeugen Jehovas sichtbar. Sie sind seit 2017 in Russland verboten, aktuell sind mehr als 60 Mitglieder inhaftiert, Hunderte werden strafrechtlich verfolgt, es liegen Berichte über Folter und Misshandlungen vor. Neben den muslimischen Gemeinschaften nehmen die Zeugen Jehovas in der Dokumentation und Unterstützung durch das Menschenrechtszentrum Memorial einen bedeutenden Platz ein.

Weder für kleinere muslimische Gruppen noch für sogenannte nichttraditionelle Religionsgemeinschaften wie die Zeugen Jehovas gibt es innerhalb Russlands eine Lobby. Das liegt neben weitgehend fehlender Kenntnisse über die Religionsgemeinschaften selbst auch daran, dass der Diskurs über die Verfolgung aus religiösen Gründen seit vielen Jahren durch die Leitung der Russischen Orthodoxen Kirche vereinnahmt wurde. In dieser Lesart ist die ROK der Garant der Religions- und Gewissensfreiheit sowohl innerhalb Russlands – etwa durch öffentlich demonstrierte Toleranz gegenüber dem staatlich kanalisierten Islam –, als auch international durch den Einsatz für verfolgte christliche Gemeinschaften im Nahen Osten, Afrika und Europa. Hinzu kommt das Engagement der ROK für den Schutz religiöser Gefühle im In- und Ausland. Durch diese Vereinnahmung und Monopolisierung des Diskurses entsteht der Eindruck, dass eine Verletzung der Religionsfreiheit nur gegeben ist, wenn sich die ROK dazu äußert. In keinem Fall der von Memorial dokumentierten politischen Verfolgungen aus religiösen Gründen hat die ROK allerdings Stellung bezogen. Ganz im Gegenteil sind Expert:innen der ROK maßgeblich an der Einstufung religiöser Gruppierungen als extremistisch beteiligt.

Besonders auf internationaler Ebene entsteht dadurch die irritierende Situation, dass etwa bei Länderberichten zur Menschenrechtslage in Russland bei UNO, OSZE oder EU-Gremien Vertreter:innen der ROK und von Menschenrechtsorganisationen wie Memorial widersprüchliche Stellungnahmen abgeben. Diese Situation erinnert freilich an die historischen Umstände in der Sowjetunion: Die massiven Verletzungen der Religionsfreiheit wurden durch Vertreter:innen der ROK auf nationaler und vor allem internationaler Bühne heruntergespielt, während die eigenen Gläubigen gleichzeitig stark von den Repressionen betroffen waren. Die Kirche bezieht heute einen Teil ihrer moralischen Autorität aus eben jener Verfolgungssituation, für Memorial ist sie die Grundlage des Engagements für den Schutz der Religions- und Gewissensfreiheit.

Diese Konstellation bringt den größeren Zusammenhang von Geschichtsbewusstsein und aktuellem Menschenrechtsschutz in den Fokus, der als Leitmotiv die Arbeit von Memorial und des Menschenrechtszentrums Memorial prägt. Mit der Dokumentation von Verletzungen der Religionsfreiheit und dem Einsatz für die Menschen, die aus religiösen Gründen unter dem Vorwand des Terrorismus oder Extremismus verfolgt werden, stellt Memorial die Geschichtskonstruktion in Frage, an der der russische Staat gemeinsam mit der ROK seit mehreren Jahren arbeitet. Sowohl die Opfer des Stalinismus als auch der atheistischen Politik in der Sowjetunion sowie der aktuellen Repressionen sind in dieser Konstruktion nur als »nützliche Geschichte« zulässig. Die Verehrung der für ihren Glauben in der Sowjetunion ermordeten orthodoxen Gläubigen als Neumärtyrer durch die ROK hat beispielsweise nur wenig Überschneidungen mit der Aufarbeitung der Opfer des stalinistischen Terrors durch Memorial in Sandarmoch oder dem jährlichen Gedenken der »Rückgabe der Namen«. Eine ähnliche Selektion der Fälle, die von der ROK als Verletzung der Religionsfreiheit öffentlich angesprochen werden, gilt für die aktuelle Lage.

Das selektive Menschenrechtsverständnis der ROK ist charakteristisch für das Reframing liberaler Konzepte durch konservative Akteure in der ganzen Welt. Das Menschenrechtszentrum von Memorial zeigt sich in seinem Engagement für Religions- und Gewissensfreiheit dem inklusiven Verständnis der unteilbaren Menschenrechte verpflichtet, und steht damit im Widerspruch zu einem exklusiven Verständnis, dementsprechend Menschenrechte im Dienst kollektiver Identitäten stehen. Eine Solidarisierung der ROK, die selbst so existentiell unter staatlicher Verfolgung gelitten hat, mit Menschenrechtsorganisationen wie Memorial bleibt vor diesem Hintergrund höchst unwahrscheinlich. Allerdings wäre die Schließung des Menschenrechtszentrums Memorial auch das Ende einer der wenigen verbliebenen Organisationen, die auch die Gläubigen der ROK gegen staatliche Repressionen schützen würde.

Lesetipps / Bibliographie

  • Menschenrechtszentrum Memorial: Liste der politischen Gefangenen aus religiösen Gründen: https://memohrc.org/ru/aktualnyy-spisok-presleduemyh-v-svyazi-s-realizaciey-prava-na-svobodu-veroispovedaniya.
  • Margarete Zimmermann: Die Russische Orthodoxe Kirche als erinnerungspolitischer Akteur (1995–2009). Der Schießplatz Butovo als Fallbeispiel für die postsowjetische Gedenkkultur, in: Jörg Ganzenmüller, Raphael Utz: Sowjetische Verbrechen und russische Erinnerung. Orte – Akteure – Deutungen (Europas Osten im 20. Jahrhundert. Schriften des Imre-Kertész-Kollegs Jena, 4), de Gruyter Oldenbourg, München 2014, S. 59–90.

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