Nationalitätenpolitik: Russländische Nation versus russisches Volk?

Von Ulrich Schmid (Universität St. Gallen)

Im Juli 2020 bestätigte das russische Volk in einem Referendum eine umfangreiche Verfassungsreform. Eine der Änderungen betrifft auch die Frage nach der nationalen Identität des Vielvölkerstaates Russland. Das russische Volk ist nun offiziell als das »staatsbildende Volk« im Grundgesetz verankert. Diese Maßnahme bildet den vorläufigen Höhepunkt einer bereits seit zehn Jahren laufenden Entwicklung. Präsident Putin führte das Konzept des Russkij Mir in seiner zweiten Amtszeit in den öffentlichen Diskurs ein, ergänzte es in seiner dritten Amtszeit durch die Idee der »Russländischen Nation mit russischem Kulturkern« und kombinierte dabei die Formulierungen »russisches Volk« und »russländisches Volk«.

Im Russischen gibt es zwei Adjektive, deren Bedeutungen nahe beieinander liegen und doch ganz unterschiedliche Dinge bezeichnen: russkij und rossijskij. Russkij heißt »russisch« in einem ethnisch-nationalen Sinn, während rossijskij eine staatsbürgerliche Dimension aufweist und im Deutschen mit »russländisch« übersetzt werden kann. Der offizielle Staatsname lautet deshalb Russländische Föderation und bezeichnet ein administratives Gebilde mit 85 sogenannten Föderationssubjekten – einschließlich der beiden völkerrechtlich nicht anerkannten Einheiten der Republik Krim und der Stadt Sewastopol.

Wahrscheinlich ist der zweite Tschetschenienkrieg der Grund, weshalb Putin den Begriff der Nationalitätenpolitik in seinen ersten zwei Amtszeiten nicht besonders prominent verwendete. In der Duma hingegen taucht das Thema mit hoher Konstanz auf. Alle Parteien beschäftigen sich mit der Nationalitätenpolitik, am intensivsten aber die populistische LDPR unter der Führung des Chauvinisten Wladimir Schirinowskij. Putin nahm das Thema der Nationalitäten nach dem offiziellen Ende des Tschetschenienkrieges 2009 wieder auf. Für Putin rückte mit der Einführung des ideologischen Konzeptes des Russkij Mir die Rolle der nichtrussischen Nationalitäten im föderalen Staat in den Vordergrund. In der Folge widmete Putin 2012 einen seiner programmatischen Wahlkampfartikel der Nationalitätenpolitik. In der Duma spielt der Begriff Russkij Mir hingegen kaum eine Rolle – eine kurzlebige Ausnahme bildet der patriotische Rausch nach der Annexion der Krim 2014.

Über die »Russländische Nation mit russischem Kulturkern« begann Putin erst in seiner zweiten Amtszeit zu sprechen. Es ging ihm um die ideologische Sicherung der Russländischen Föderation, die er vor dem Schicksal der Sowjetunion bewahren wollte, die letztlich entlang ethnischer Linien auseinandergebrochen war. Die Idee einer staatsbildenden russländischen Nation mit einem »russischem Kulturkern« wurde zu dieser Zeit allerdings nur in den öffentlichen Diskurs eingespielt, noch ohne besondere Prominenz zu erlangen. Als Reaktion auf russisch-nationalistische Tendenzen in der Gesellschaft hob Putin 2016 den »russischen Kulturkern« der »russländischen Nation« hervor. Anders als noch in den 1990ern geht der ethnisch-russische Nationalismus in diesem Konzept aber nicht mehr in einer supranationalen Identität auf. Vielmehr soll er das Bindeglied des fragilen russländischen Vielvölkerstaates sein. Die Russländische Föderation ist aus dieser Perspektive mehr als nur ein Bundesstaat mit einer verrechtlichten Beziehung zu den einzelnen Föderationssubjekten. Die russische Sprache und Kultur sollen den gesellschaftlichen Kitt zwischen den unterschiedlichen Ethnien bilden.

Im Jahr 2016 kündigte Präsident Putin dann sogar ein »Gesetz über die russländische Nation« an. Das Thema konnte sich aber nicht wirklich entfalten. Manche Teilrepubliken, in denen Russen keine Mehrheit bilden – wie etwa Dagestan, Tatarstan oder Jakutien – sahen darin kein supranationales Konzept, sondern vielmehr eine Bedrohung ihrer eigenen kulturellen Grundlagen. Da auch immer mehr Machtbefugnisse von den Regionen ans Zentrum übergingen, befürchteten sie nun zusätzlich eine russische Dominanz.

In der Duma wurde das Thema der »russländischen Nation« nicht wirklich dominant. Bezeichnenderweise veränderte sich aber die parteiliche Ownership des Themas. Vor 2016 sprachen vor allem die Kommunisten über die »russländische Nation«, während sich nach 2016 die Abgeordneten der Regierungspartei Einiges Russland am häufigsten über dieses Thema äußerten.

Der »russische Kulturkern« des Konzepts ist eng mit der russisch-orthodoxen Kirche verbunden. Die Orthodoxie ist eine wichtige symbolische Machtressource für den Kreml. Im Vorfeld von Wahlen bezog sich Wladimir Putin jeweils in auffälliger Weise auf die orthodoxe Religion. Interessanterweise ist die Orthodoxie für die Regierungspartei Einiges Russland kein prominentes Thema. Viel öfter sprachen Kommunisten und Nationalisten der LDPR über die Orthodoxie. Möglicherweise wichen die Vertreter der Regierungspartei dem Thema der orthodoxen Religion aus, weil es das Risiko einer Spaltung des angestrebten einheitlichen russländischen Staatsvolkes birgt.

In Putins Reden ist neben der Orthodoxie allerdings auch der Islam von großer Bedeutung. Der Präsident setzt die Rede über den Islam auch ein, um eine vermeintliche Überlegenheit gegenüber Westeuropa zu postulieren: Die Russländische Föderation verfüge über eine viel längere Erfahrung mit der Integration des Islams in die Gesellschaft als die westeuropäischen Staaten, die von muslimischer Migration überfordert seien.

Putins Interesse für den Islam im Jahr 2015 ist vor allem auf das militärische Engagement Russlands in Syrien zurückzuführen, was aus dem Vergleich mit dem Lemma Islamischer Staat sichtbar wird. Die häufige Thematisierung des Islam hat allerdings auch mit der verstärkten Rhetorik von der »russländischen Nation« zu tun, in der demnach nicht nur viele Nationen, sondern auch Religionen harmonisch koexistieren. In der Duma spielt der Islam jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Diese Zurückhaltung ist auf den gesellschaftlichen Konsens in Russland zurückzuführen, dass Minderheitskonfessionen im gesellschaftlichen Zusammenleben keine Rolle spielen sollen.

Eng verzahnt mit dem Nationalitätenkonzept ist in den Reden Putins das Thema Identität, das in den letzten zwanzig Jahren einen stetigen Anstieg verzeichnet. Fast während der ganzen Regierungszeit dominiert der politisch korrekte Begriff »Russländisches Volk«, der alle Bürger der Russländischen Föderation unabhängig von ihrer Ethnie umfasst. Im Zuge der patriotischen Hochstimmung nach der Krim-Annexion erlebt aber auch der Begriff Russisches Volk wieder eine Renaissance. Der Grund dafür ist die Annahme einer historischen Vorreiterrolle des »russischen Volks«. In einer Sitzung des Rats für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und für die Menschenrechte erklärte Putin am 10. Dezember 2019, dass das russische Volk selbst aus verschiedenen Völkern entstanden sei, vor allem slawischen, aber auch finno-ugrischen. Nach dieser Logik leitet Putin aus der heterogenen Einheit des »russischen Volks« auch die noch zu schaffende kulturelle Integration des »russländischen Volks« ab. Die Sprachregelung des Präsidenten wird auch weitgehend von den Duma-Mitgliedern der Regierungspartei Einiges Russland aufgenommen. Sie sprechen öfter als Vertreter anderer Parteien vom »russländischen Volk«. Vom »russischen Volk« ist im Parlament kaum die Rede.

Es zeigt sich mithin, dass die politische Rhetorik des Präsidenten nur sehr bedingt vom Parlament aufgenommen wird. Die Analyse zentraler Konzepte zur Nationalitätenpolitik bestätigt den Eindruck, dass der Duma keine Themenführerschaft im politischen Prozess in der Russländischen Föderation zukommt.

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