Die Minsker Vereinbarungen als Chance?

Von Heiko Pleines (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

Einleitung

Nachdem der bewaffnete Konflikt in der Ostukraine im Sommer 2014 eskaliert war, wurden von den Staatschefs der Ukraine, Russlands, Deutschlands und Frankreichs im Juni 2014 in der Normandie Verhandlungen zur Beilegung des Konfliktes aufgenommen. Vertreter der pro-russischen Separatisten sind hier offiziell nicht eingebunden.

Die Minsker Abkommen wiederum wurden von der trilateralen Kontaktgruppe bestehend aus der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE), der Ukraine und Russland unter Anwesenheit von Vertretern der pro-russischen Separatisten (also der selbsterklärten Donezker und Luhansker »Volksrepubliken«) vereinbart. Die erste Vereinbarung wurde im September 2014 in Minsk unterzeichnet (»Minsker Protokoll«, https://peacemaker.un.org/sites/peacemaker.un.org/files/UA_140905_MinskCeasfire_en.pdf). Nach dem erneuten Ausbrechen massiver Kampfhandlungen im Januar 2015 wurde im Februar 2015 ein ergänzendes Maßnahmenpaket zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen beschlossen (»Minsk 2«, https://peacemaker.un.org/sites/peacemaker.un.org/files/UA_150212_MinskAgreement_en.pdf), das im Normandie-Format vorbereitet worden war.

Im Kontext der aktuellen internationalen Krise um den russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine wird regelmäßig auf die Minsker Vereinbarungen Bezug genommen. Der französische Präsident Emmanuel Macron erklärte nach separaten Treffen mit dem russischen Präsidenten in Moskau und dem ukrainischen Präsidenten in Kiew am 08. Februar 2022, dass die Minsker Vereinbarung der einzige Weg sei, Frieden sowie eine politisch dauerhafte Lösung zu erreichen. Bereits am 27. Januar 2022 hatte das erste Treffen im »Normandie-Format« zur Diskussion des Konfliktes seit 2019 stattgefunden. Ein Arbeitsgespräch folgte am 10. Februar.

Inhalt der Vereinbarungen

Zentrale Vorgaben der Minsker Vereinbarungen beziehen sich auf einen dauerhaften Waffenstillstand u. a. mit dem Abzug schwerer Waffen von der Kampflinie, dem Abzug ausländischer Militärkräfte und einer durch die OSZE-überwachten Sicherheitszone an der ukrainisch-russischen Grenze (Minsk 1) mit der Übergabe der vollen Kontrolle über die Grenze an die Ukraine nach Umsetzung der politischen Lösung (Minsk 2).

Außerdem sehen die Vereinbarungen zwei zentrale Elemente einer politischen Lösung vor: vorgezogene Lokalwahlen in den »Volksrepubliken« nach demokratischen Standards und entsprechend der ukrainischen gesetzlichen Regelungen sowie eine Dezentralisierung des ukrainischen Staatsaufbaus auf Grundlage einer Verfassungsreform. Wahlen und Dezentralisierung sollten mit Vertretern der Separatisten vereinbart werden. Dabei wird die konkrete Ausarbeitung der politischen Lösung auf weitere Verhandlungen in der trilateralen Kontaktgruppe verschoben. Ergänzend enthalten die Minsker Vereinbarungen einige Maßnahmen für den sozio-ökonomischen Wiederaufbau.

Ambivalenzen

Die Minsker Vereinbarungen sind in zwei Aspekten so unpräzise, dass die Interpretation ihrer Vorgaben umstritten ist. Erstens benennen die Vereinbarungen für viele vorgesehene Maßnahmen keinen verantwortlichen Akteur. Die Formulierungen sind im Passiv. Dies ist eine Folge der angespannten Verhandlungssituation. Russland vertritt offiziell die Position, dass es keine am Konflikt beteiligte Partei ist, sondern als Vermittler an den Verhandlungen teilnimmt. Konfliktparteien sind aus russischer Sicht allein die Ukraine und die Separatisten. Dementsprechend enthalten die Vereinbarungen keine direkte Handlungsanweisung an Russland.

Es ist aber klar, dass die in den Vereinbarungen vorgesehene Kontrolle der russisch-ukrainischen Grenze nicht ohne die Beteiligung Russlands funktionieren kann. Wenn die Vereinbarungen den »Abzug aller ausländischen bewaffneten Verbände, militärischen Ausrüstung« fordern, dann bedeutet die russische Position de facto, dass die Separatisten den Abzug der russischen Armee aus dem von ihnen besetzten Gebiet zu organisieren haben, ohne dass Russland damit etwas zu tun hätte.

Die Ukraine wiederum ist nicht bereit, die Vertreter der international nicht anerkannten »Volksrepubliken«, die sie als Terroristen bezeichnet, durch direkte Verhandlungen zu legitimieren. Die Verhandlungen finden dementsprechend im Rahmen der »trilateralen« Kontaktgruppe statt, die sich auf OSZE, Ukraine und Russland als die drei beteiligten Akteure bezieht. Vor allem will die Ukraine vermeiden, dass die von Russland abhängigen Separatisten ein Mitspracherecht bei Lokalwahlen und Verfassungsreform bekommen. Gleichzeitig sehen die Minsker Vereinbarungen aber eindeutig die Abstimmung mit den Separatisten zu diesen Themen vor.

Zweitens wird in den Minsker Vereinbarungen kein eindeutiger Zeitplan für die Umsetzung festgelegt. Es wäre logisch erst mit dem Waffenstillstand zu beginnen und dann mit der politischen Lösung und dem Wiederaufbau fortzufahren. Die Minsker Vereinbarungen geben aber hier keine vollständige Reihenfolge vor. Eine zeitliche Abfolge gibt es nur in zwei Fällen: Am ersten Tag nach dem Abzug der schweren Waffen soll der Dialog über die Lokalwahlen beginnen. Nach der Durchführung der Lokalwahlen und der Verfassungsreform soll die Ukraine die volle Kontrolle über die Grenze übernehmen. Für die Lokalwahlen selber gibt es keine Zeitangabe.

Im Ergebnis hat jede Seite nach eigenem Belieben bestimmte Maßnahmen priorisiert, ohne dass die Minsker Vereinbarungen dafür eine belastbare Grundlage bieten. Festgehalten werden kann aber, dass Minsk 2 eigentlich Verhandlungen über Lokalwahlen erst nach dem Abzug schwerer Waffen vorsieht, der immer noch nicht vollständig umgesetzt wurde, und dass die Ukraine die vollständige Kontrolle über die Grenze zu Russland erst nach Lokalwahlen und Verfassungsreform erhalten soll.

Ausblick

Viele der in den Minsker Vereinbarungen vorgesehenen Maßnahmen sind unter den gegebenen Bedingungen völlig unrealistisch. Die Vorgabe, dass Lokalwahlen in den »Volksrepubliken« nach demokratischen Standards erfolgen sollen, macht ihre Durchführung de facto unmöglich, da die aktuellen Machthaber keine Wahlniederlage riskieren werden. Gleichzeitig ist zunehmend deutlich geworden, dass die »Volksrepubliken« sowohl militärisch als auch wirtschaftlich von Russland abhängig sind. Es stellt sich damit auch die Frage, inwieweit die Ukraine verpflichtet sein sollte, die Verfassungsreform zur Dezentralisierung mit demokratisch nicht legitimierten Vertretern der Separatisten abzustimmen. Ebenso hat sich gezeigt, dass die entsprechende Verfassungsreform unter diesen Umständen in der Ukraine politisch nicht durchsetzbar ist.

Offensichtlich ist auch, dass Russland für die »Volksrepubliken« weder freien Wahlen, die seinen Einfluss gefährden könnten, noch einem Ende seiner – offiziell nicht existierenden – militärischen Unterstützung zustimmen wird. Ohne eine grundlegende Änderung der politischen Konstellation sind damit im Rahmen der Minsker Abkommen nur Waffenstillstand und Gefangenenaustausch möglich. Auch diese wären für die Bewohner der Region ein wichtiger Fortschritt. Die Beziehungen Russlands zur NATO oder EU lassen sich dadurch aber wohl nicht verändern.

Wenn also trotz fehlender Erfolgsaussichten jetzt wieder im Normandie-Format über die Minsker Vereinbarungen gesprochen wird, dann gibt es dafür zwei Gründe. Vertreter Frankreichs, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, und Deutschlands hoffen offensichtlich auf diese Weise längerfristig Gespräche mit Russland führen zu können. Dies bedeutet zum einen, dass die Initiative nicht allein bei USA und NATO liegt. Zum anderen wird immer wieder die Hoffnung geäußert, dass es nicht zu einer Eskalation kommt, solange noch Verhandlungen laufen. Unter Umständen gibt es auch Überlegungen, Russland durch Zugeständnisse bei den Minsker Vereinbarungen eine »gesichtswahrende« Deeskalation der aktuellen Krise zu ermöglichen.

Aus russischer Sicht dürfte es darum gehen, die Ukraine zu zwingen, die Separatisten als legitime Verhandlungspartner anzuerkennen. Nach den Gesprächen im Normandie-Format am 10. Februar 2022 verlangte der Vertreter Russlands so, dass Deutschland und Frankreich mehr Druck auf die Ukraine ausüben. Für Russland hätte ein solches Ergebnis eine Reihe von Vorteilen. Erstens würde zumindest indirekt die Position bestätigt, dass Russland keine Konfliktpartei ist. Damit könnten auch die entsprechenden Sanktionen gegen Russland neu in Frage gestellt werden. Zweitens würde die ukrainische Regierung innenpolitisch massiv unter Druck geraten, wenn sie tatsächlich die Separatisten als legitime Verhandlungspartner anerkennen würde. Eine innenpolitische Krise in der Ukraine würde Russlands Position stärken. Drittens würde Russland auch zeigen können, dass der Westen kein verlässlicher Partner ist, sondern seine Verbündeten schnell im Stich lässt, ganz im Gegenteil zu Russland, das zuletzt in Belarus und Kasachstan gezeigt hat, dass es loyale Verbündete unterstützt. Gleichzeitig kann Russland durch seinen Einfluss auf die Separatisten sicherstellen, dass eine Einigung gegen russische Interessen unmöglich ist.

Stand: 15.02.2022

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