Der Krieg in der Ukraine: Positionen und die Zukunft der russischen Universitäten

Von Irina Busygina (Higher School of Economics, St. Petersburg)

Warum sind Universitäten wichtig?

Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, wie Universitäten Gesellschaften verändern und zur beschleunigten Entwicklung von Nationen beitragen können. Universitäten sind Zentren des »kreativen Kapitals«. Sie sind Brutstätten der Innovation und des Unternehmertums und vermitteln den Studierenden die Fähigkeiten, die sie benötigen, um sich in der zunehmend globalisierten Arbeitswelt zu behaupten. Universitäten haben enormes Potenzial, weltweit Talente für Städte und Nationen anzuziehen. Die Internationalisierung der Universitäten trägt dazu bei, dauerhafte Verbindungen zu globalen Netzwerken zu schaffen. Akademische Mobilität und Forschungskooperationen erweitern die intellektuelle und kulturelle Verflechtung und helfen so dabei, die internationalen Beziehungen eines Landes durch eine intelligente Außenpolitik weiterzuentwickeln.

Zwei Überlegungen sollten jedoch angestellt werden, um diese Darstellung zu präzisieren. Erstens beschreibt das oben Gesagte die Rolle von guten Universitäten (derjenigen, die nicht nur nach nationalen, sondern insbesondere nach internationalen Maßstäben gut sind). Zweitens können die meisten positiven Veränderungen, die von Universitäten ausgehen, nur dann eintreten, wenn die Universitäten wirklich Teil des globalen Bildungs- und Forschungsraums sind. Nimmt man einer Universität diese »internationale Dimension«, so wird sie keinen positiven Beitrag leisten können.

Russische Universitäten: Die Lage vor dem Krieg

Vor dem Krieg in der Ukraine war die Lage der Universitäten in Russland nicht nur weit von dem oben beschriebenen Ideal entfernt, sondern sie war geradezu paradox. In der Tat gab es zwei Parallelwelten. Die eine war die Welt der offiziellen Politik und Propaganda »an der Staatsspitze«, in der Russland von Präsident Putin personifiziert wurde und alle seine Handlungen über jeden Zweifel erhaben waren. Gleichzeitig war es möglich, an den Universitäten ohne Zensur zu arbeiten, Kurse auf der Grundlage englischsprachiger Literatur zu besuchen und echte akademische Forschung zu betreiben. Außerdem waren Veröffentlichungen in von Fachkolleg:innen begutachteten englischsprachigen Zeitschriften das Hauptkriterium für die Effizienz einer Universitätsprofessorin. Ich habe sogar eine Prämie dafür bekommen, dass ich das Putin-Regime kritisiert habe. Diese Diskrepanz zwischen der offiziellen Rhetorik und der (relativen) akademischen Freiheit war in der vergleichenden Politikwissenschaft und den internationalen Beziehungen besonders groß.

Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass diese Kluft an den Universitäten in Moskau und St. Petersburg sehr groß war, während sie an den regionalen Universitäten, an denen nur wenige Lehrkräfte zur internationalen Forschung beitrugen, weit weniger sichtbar wurde.

Gleichzeitig war intuitiv klar, dass diese Lage wacklig war und kaum lange aufrechterhalten werden konnte. Das Gleichgewicht verschob sich langsam, aber stetig zugunsten des »Offiziellen«, der Staat »infiltrierte« zusehends die Universitäten.

Nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine vom 24.02.2022

Der Krieg war ein Schock für die Universitäten, deshalb war es umso überraschender, dass die Reaktion der Universitätsverwaltungen sehr schnell erfolgte. Bereits am 4. März verabschiedete die russische Rektorenvereinigung einen Appell, in dem es hieß, dass a) es jetzt das Wichtigste sei, das Land und die Armee sowie den Präsidenten zu unterstützen; b) die Universitäten schon immer eine tragende Säule des russischen Staates gewesen seien; und c) die Hauptaufgabe der Lehrkräfte darin bestehe, den Bildungsprozess aufrechtzuerhalten und den Patriotismus der jungen Russ:innen zu fördern. Dieser Appell sendete eine Reihe von sehr klaren Signalen.

Nach (und vor) dem Appell der Rektor:innen unterzeichneten Hochschullehrkräfte Erklärungen, die sowohl die Unterstützung als auch die Gegnerschaft in Bezug auf den Krieg offen zum Ausdruck brachten. Aber es war der Appell der Rektor:innen, der maßgeblich war. Diese Signale bildeten die Grundlage für weitere administrative Maßnahmen, die sowohl den Platz der russischen Universitäten in der Welt als auch die Stellung der Lehrkräfte innerhalb der Universitäten grundlegend verändern werden.

Am 21. März stimmte die föderale Regierung dem Vorschlag des Ministeriums für Hochschulbildung und Wissenschaft zu, die Indexierung von Veröffentlichungen russischer Wissenschaftler:innen in internationalen Datenbanken und die Teilnahme an ausländischen wissenschaftlichen Konferenzen auszusetzen. Die Zitierfähigkeit in ausländischen wissenschaftlichen Publikationen war bis vor kurzem eines der wichtigsten Kriterien für das Ministerium für Hochschulbildung und Wissenschaft, um die Effektivität einer wissenschaftlichen Einrichtung (und einzelner Forscher:innen) zu messen. Das Ministerium ist derzeit mit der Schaffung eines nationalen Systems zur Bewertung der Ergebnisse der akademischen Forschung befasst.

Die »gefährlichen« Lehrveranstaltungen (die das russische politische Regime oder die russische Außenpolitik erklären) werden entweder gestrichen oder an »harmlose«, loyale Dozierende vergeben. Außerdem werden Listen von Studierenden erstellt, die an Anti-Kriegs-Protesten teilgenommen haben, und die Verwaltung führt Gespräche mit diesen Studierenden, wobei ein:e Student:in am Ende des Gesprächs versprechen muss, dies in Zukunft »ein für alle Mal« zu unterlassen.

Die russische Universität ist eine komplexe Bürokratie, in der Programm- und Lehrplanänderungen langsam umgesetzt werden. Bisher sind nur »punktuelle« Änderungen zu beobachten. Ich gehe davon aus, dass die Verwaltung bis zum Ende des akademischen Jahres wartet, um im Sommer große Reformen durchzuführen.

In der derzeitigen Situation haben die Hochschullehrkräfte keine Optionen, die nicht mit erheblichen Verlusten und Risiken verbunden sind. Der radikalste Ausweg besteht darin, die Universität und Russland zu verlassen, aber nur wenige machen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Verständlicherweise ist dies eine äußerst schwierige Entscheidung. Andere verbleiben schockiert und verängstigt an der Universität, einige von ihnen erkennen die Realität einfach nicht an oder akzeptieren sie nicht, versuchen sich von ihr zu distanzieren und bezeichnen den Krieg als eine Art »Naturkatastrophe«. Einige beschließen, sich anzupassen (wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie das Ausmaß dieser »Anpassung« verstehen) und »wie gewohnt« zu arbeiten.

Schlussfolgerung

Die Erklärung der Russischen Rektorenvereinigung zeigt deutlich, dass es keine »Vereinigung« als kollektiven Akteur gibt, der die Autonomie und die Interessen der Universitäten schützt, die sich von den aktuellen Interessen der Regierung unterscheiden. Die Rektor:innen haben nicht den geringsten Versuch unternommen, sich auf eine Position zu einigen, die sich von der Vorgabe der Präsidialverwaltung unterscheidet. Ihre oberste Priorität (nicht die der Vereinigung, sondern die ihrer Mitglieder) war ihr eigenes berufliches Überleben.

Diese Erklärung war das eindeutige Signal für die Abschottung des russischen Bildungs- und Hochschulsektors von der globalisierten Welt. Es liegt auf der Hand, dass die Universitäten, die am stärksten in die internationale Zusammenarbeit eingebunden waren, am meisten unter dieser Abschottung leiden werden. Dies betrifft hauptsächlich die Higher School of Economics (HSE).

Da das Hochschulsystem in die politische Struktur von Russland eingebettet ist, wird es schnell zu einem neuen Gleichgewicht kommen: Es wird keine Parallelwelten mehr geben. Es wird keine Ausnahmen wie die HSE mehr geben.

Was hier geschieht, ist schrecklich, aber leider nicht überraschend. Der Krieg hat einfach eine Entwicklung beschleunigt, die ohnehin unvermeidlich war.

Anmerkung der Redaktion der Russland-Analysen:

Anfang Mai 2022 wandte sich Irina Busygina mit einem Brief an den Wissenschaftsrat der Higher School of Economics, in dem sie die Hochschulleitung der HSE aufforderte, eine Erklärung auf der Webseite der russischen Rektorenvereinigung zu veröffentlichen, dass die Unterschrift des Rektors der HSE Nikita Anissimow, der am 3. Juli 2021 den Gründungsrektor Jaroslaw Kusminow abgelöst hatte, seine persönliche Meinung in Bezug auf die Unterstützung der »Spezialoperation« in der Ukraine sei, und nicht die der Universität als Ganzes. Irina Busygina bekam vom Wissenschaftsrat der HSE keine Antwort, sie veröffentlichte deswegen ihren Brief am 16. Mai auf ihrer Facebook-Seite: https://www.facebook.com/ira.busygina/posts/10224621013306619.

Quelle: Busygina, Irina: The war in Ukraine: Positions and the future of Russian universities. Policy Brief presented at BEAR-PONARS Eurasia Conference: “Between the EU and Russia: Domains of Diversity and Contestation”, 29.–30. April 2022, Washington DC, abrufbar unter http://www.bearnetwork.ca/wp-content/uploads/2022/05/P2_Busygina.pdf.

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