Ilja Jaschin: »Ich muss in Russland bleiben«

Von Morvan Lallouet (University of Kent)

Einleitung von dekoder
»Leute, macht euch keine Sorgen, alles ist gut.« Er ist ein junger Mann, Ende 30, mit Brille und leichtem Bart, ein Lächeln im Gesicht, und er wird die nächsten achteinhalb Jahre im Gefängnis verbringen. Wenn er dann entlassen wird, darf er für weitere vier Jahre kein Internet mehr nutzen. Dieses Urteil hat ein Moskauer Gericht am 9. Dezember 2022 gegen den russischen Oppositionspolitiker Ilja Jaschin verhängt. Nachdem er für mehr als 20 Jahre gegen Putin und Autokratie in Russland gekämpft hat, ist für Ilja Jaschin damit der Moment gekommen, in dem er dem anderen bedeutenden oppositionellen Politiker nachfolgt: Alexej Nawalny, der ihn als seinen »ersten Freund, den ich in der Politik getroffen habe« bezeichnet. Weil er »Fake-Nachrichten« über die russische Armee verbreitet habe, wurde Ilja Jaschin zu dieser Haftstrafe verurteilt. Um welche »Fakes« es dabei geht? Um die Verbrechen, die die russische Armee in Butscha begangen hat. Jaschin hat darüber auf seinem sehr populären Youtube-Kanal gesprochen. Der Grad der Zermürbung der Opposition ist beachtlich in Russland. Und gleiches gilt für die Anzahl der Inhaftierungen. Es ist nicht so, als sei Jaschin nicht gewarnt gewesen. Als ob das politische Klima – und das Schicksal seiner Mitstreiter – nicht schon genug wäre, war Jaschin auch bereits mehrfach zu Strafen verurteilt worden, ein eindeutiger Wink der Behörden, dass er in Russland nicht länger erwünscht ist.

Ilja Jaschin

Ilja Jaschin selbst bezeichnet sich als »linksliberal«: »Die höchste Priorität in der Politik hat für mich das menschliche Leben. Ich bin gegen Sozialdarwinismus … Aber ich bin kein Linker (lewak) im traditionellen Sinn … Ich bin ein normaler, europäischer Linksliberaler.«

Seine politische Karriere führte ihn von der Oppositionspartei Jabloko, die eher links einzuordnen ist, zur eher rechtskonservativen PARNAS. Aber solche Zuschreibungen wie »links« und »rechts« sind im russischen Kontext eher irreführend: Ilja Jaschin ist in erster Linie ein Liberaler und ein Demokrat. Er möchte erklärtermaßen, dass Russland eine Demokratie und ein Rechtsstaat wird.

Ilja Jaschin wurde 1983 in Moskau geboren, in eine Familie, die der »technisch-wissenschaftlichen Intelligenzija« angehörte. Seine Eltern arbeiteten in einem Forschungslabor für Strahlenphysik und in den 1990ern hatten sie einen kleinen Familienbetrieb. In jedem Fall führte ihn nicht die Rebellion gegen sein Elternhaus in die Politik. Seine Familie war vielmehr eine »Jabloko-Familie«, die in der Küche viel über Politik diskutierte. Jaschin studierte Politikwissenschaften in Moskau und schrieb seine Abschlussarbeit über ein sehr praxisnahes Thema: Organisationsmethoden des Aktivismus. Seine Promotion fing er an, beendete sie aber nicht, sondern ging stattdessen zur Praxis über.

Zwischen Parteibüro und Strassenprotest

So begann Jaschins politische Karriere noch in einer ganz anderen Ära, als man noch von einer Opposition in Russland sprechen konnte, die, in seinen Worten, »als Ergebnis eines legalen Vorgangs an die Macht kommen kann«. Dies sei im Russland von heute so unmöglich geworden, dass »Opposition« vor allem bedeutet: »die Wahrheit zu sagen und zu versuchen, die Öffentlichkeit entsprechend zu informieren … es geht eher um Dissidententum als um Opposition«. Jaschin ist ein hartnäckiger Politiker, ein Mann mit Prinzipien, und das seit mehr als 20 Jahren, während derer es viele Gelegenheiten für Kompromisse – oder Kompromittierung – gegeben hätte. Er hielt sich fern vom Big Business, pflegte einen bescheidenen Lebensstil und ging nie auf politische Projekte ein, die offensichtlich vom Kreml lanciert worden waren.

Jaschin war im Jahr 2000 in die Politik gegangen, als Putins militärische Rhetorik (»Wir werden die Terroristen überall verfolgen […], wenn wir einen auf dem Klo erwischen, legen wir ihn um«) und Taten – der zweite Tschetschenienkrieg – noch ganz am Anfang standen. Im Gespräch mit Juri Dud sagte Ilja Jaschin später über diese Zeit, dass er den Tausch von Freiheit gegen Sicherheit als eine »Zeitbombe« empfunden habe, die die Zukunft Russlands gefährde. Und Jabloko, so fügte er hinzu, sei damals die einzige größere Partei gewesen, die gegen den Krieg in Tschetschenien eingetreten sei.

Jaschin stieg in den Reihen von Jabloko, vor allem ihres Jugendverbandes, auf. Wahlniederlagen hatten die Moral der alten Garde stark angeschlagen, was wiederum ein Segen für aufstrebende junge und energetische Kräfte wie ihn war. Sie sehnten Taten herbei und wollten unbedingt das Partei-Image als zahmes Mitglied der Intelligenzija loswerden. Als Jabloko nicht mehr im Parlament vertreten war, wurde der Bedarf nach neuen Protestformen nur noch größer. Und Jaschin war nicht der einzige, der nach Erneuerung strebte, sondern mit ihm tat dies zur gleichen Zeit und in der gleichen Partei noch Alexej Nawalny.

Jaschin und Nawalny

Vergleiche zwischen Jaschin und dem bekannten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny sind kaum vermeidbar. Beide sind ethnische Russen, gut befreundet und fast aus der gleichen Generation, Nawalny ist nur sieben Jahre älter. Vor mehr als 20 Jahren waren sie beide bei Jabloko in Moskau aktiv, teilten sich Büros und unternahmen, jeder auf seine Art, von dort aus den Versuch, die russische Opposition zu erneuern. Zunächst ging es ihnen vor allem um einen Generationswechsel, darum, die alte Garde abzulösen, von der sie das Gefühl hatten, dass ihr Weg nirgendwo hinführt. So beschreibt Jaschin rückblickend die Haltung, die sie beide verbunden habe.

Beide Politiker unterscheiden sich aber auch voneinander. Während Nawalny für sein hitziges Temperament bekannt ist, gilt Jaschin als eher besonnen. Aber, wie auch Nawalny, beschreiben ihn Beobachter als »entschlossen, ehrgeizig, selbstbewusst und mit dem kulturellen Kapital und Charisma ausgestattet, das eine politische Führungspersönlichkeit ausmacht«. Zugleich haben sie auch politische Differenzen: Jaschin war stets immun gegenüber nationalistischen Tönen, wie sie zu Nawalnys frühem politischen Programm gehörten.

Von 2001 bis 2005 stand Jaschin Jablokos Moskauer Jugend vor. Die Orangene Revolution in der Ukraine beeindruckte ihn sehr, er fuhr auch zum Maidan nach Kyjiw. Schließlich wurde Jaschin zum »informellen Anführer« von Oborona, einer nichtregistrierten Jugendorganisation, die junge Liberale versammelte. Inspiriert war sie von ähnlichen Jugendbewegungen, die eine bedeutende Rolle bei den sogenannten Farbrevolutionen spielten, wie etwa in der Ukraine, aber auch während der Massendemonstrationen in Serbien. Abseits von institutionalisierter Politik und Wahlen versuchte Oborona den Kampf gegen den Autoritarismus zu erneuern und auf die Straße zu bringen. Hinzu kam die Idee, statt auf die üblichen Protestformen auf provokante Performances und Flashmobs zu setzen. So gelang es Jaschin und anderen Aktivisten, mit Bergsteigerequipment ein Banner an einer Brücke nahe des Kreml zu installieren, auf dem stand: »Gebt den Bürgern die Wahlen zurück, ihr Dreckskerle!«

Überzeugter Wahlkämpfer – auf verlorenem Posten

Oborona war jedoch nicht darauf ausgerichtet, in Wahlkämpfe einzusteigen, das war ein anderes Feld, während Jaschin schon zu dem geworden war, was sein Freund Alexis Prokopijew, der ihn damals kennenlernte, als »europäischen Politiker« bezeichnete: »In Frankreich oder Deutschland wäre er ein Abgeordneter oder Minister gewesen, mit Leichtigkeit! Er hat es einfach drauf.« Jaschin war bereit, stundenlange Überzeugungsarbeit zu leisten, Wahlkampf zu führen – wie etwa Jahre später in der ländlichen Region Kostroma, wo er vor einer Handvoll älterer Menschen in irgendwelchen Höfen auftrat.

2008 war er Mitbegründer von Solidarnost, einer Bewegung, die sich den heiligen Gral des russischen Liberalismus zum Ziel gesetzt hatte: die Einheit seiner sich bekriegenden Lager und Gruppierungen. Und Solidarnost gelang es tatsächlich, Politiker der unterschiedlichen Strömungen zu vereinen, darunter Boris Nemzow, einen der bekanntesten russischen Liberalen. Doch Jabloko missfiel Jaschins Engagement außerhalb der Partei, die bei Solidarnost Menschen wähnte, deren »politischer und persönlicher Ruf inakzeptabel« sei. Jaschin wurde aus der Partei geschmissen. Er selbst war davon überzeugt, der eigentliche Grund für den Rauswurf sei seine Kritik an Parteiführer Grigori Jawlinski gewesen, dem dominierenden Gründungsmitglied von Jabloko.

Jaschin wurde nun zum engen Verbündeten und Freund von Boris Nemzow, folgte seinem politischen Mentor in die liberale Partei PARNAS. Nach der Ermordung Nemzows im Februar 2015 führte Jaschin zusammen mit seiner Parteikollegin Olga Schorina dessen letztes politische Projekt zu Ende: einen Bericht über den Krieg im Osten der Ukraine. Beide waren der Überzeugung, dass »der Versuch, den Krieg zu stoppen, der eigentliche Patriotismus« sei.

Gegen Wahlfälschung

Gleichzeitig mobilisierte Jaschin auch die Leute, auf die Straßen zu gehen: Am 5. Dezember 2011 organisierte Solidarnost eine Protestaktion gegen Wahlfälschung in Moskau. Die Demo war ein unerwarteter Erfolg. Jaschin war unter denen, die nach der offiziellen Kundgebung noch zur Lubjanka marschierten. Diese nicht genehmigte Aktion brachte ihm 15 Tage Haft ein. Diese Demonstration wurde zum Ausgangspunkt der Bewegung für freie Wahlen, der bis heute wichtigste Protestzyklus unter Putin. Die Bewegung für freie Wahlen gab Jaschin, der schon ein talentierter und erfahrener Redner war, eine noch größere Bühne. Er war schließlich auch unter denen, die sich im März 2012 weigerten, den Puschkinplatz im Zentrum Moskaus zu verlassen – einen Tag, nachdem die offiziellen Wahlergebnisse Putins Rückkehr ins Präsidentenamt vermeldeten. Dies brachte Jaschin eine weitere Arreststrafe ein.

Was Jaschin wie auch vielen anderen russischen Oppositionellen versagt blieb, war eine Chance auf echte politische Macht, um etwas für die Menschen zu bewegen. All seine bisherigen Anläufe bei Wahlen waren zum Scheitern verurteilt.

Vor dem Hintergrund verschärfter Repressionen sah Jaschin (wie auch andere Demokraten) jedoch eine Möglichkeit, sich das bescheidenste mögliche Ziel zu setzen – die unterste politische Ebene. In Moskau bedeutete das, Stadtverordneter zu werden. »Er wollte Erfahrungen in einer echten Regierung sammeln«, erinnert sich der Oppositionspolitiker Maxim Reznik. »Er wollte zeigen, dass er sich um Hausmeister, Versorgungsdienste und Bürgersteige kümmern kann.« 2017 kandidierte Jaschin im Moskauer Bezirk Krasnoselski, und sein Team fegte durch die Versammlung. In jenem Jahr starteten liberale Oppositionelle als Demokratische Koalition eine Kampagne, die genau auf diese Bezirksebene abzielte, und sie funktionierte. Jaschin konnte den Vorsitz der Bezirksversammlung übernehmen und die wenigen Befugnisse, die er hatte, nutzen. Natürlich waren das keine großen Sprünge: Hilfe bei der Wohnungssuche, die Einrichtung eines »Sozialtaxis«, das Gehbehinderten den Weg zum Arzt erleichtern sollte – wofür er den ihm zugeteilten Dienstwagen umnutzte. Jaschin hatte die nächsten Wahlen im Jahr 2019 im Visier, die höhere Ebene: die Moskauer Duma. Doch schließlich durften die meisten Oppositionskandidaten gar nicht erst antreten. Jaschin trat von seinem Vorsitz zurück und blieb einfacher Abgeordneter. Als Nawalnys Organisationen 2021 als »extremistisch« eingestuft wurden, wurde bald auch Jaschin zum »Extremisten« erklärt, weil er mit ihnen zusammenarbeitete.

»Ich muss in Russland bleiben, lautstark die Wahrheit sagen«

Den russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 verurteilte Jaschin vorbehaltlos – was ihm schließlich zum größten Verhängnis wurde. Als im März ein neues Gesetz »gegen Fake News« verabschiedet wurde, wusste Jaschin, dass man ihn belangen würde. Er entschied sich dafür, in Russland zu bleiben, und war sich im Klaren über das Risiko, das er damit einging: »Die Botschaft des Staates war ziemlich unmissverständlich: Entweder du hältst den Mund oder du verlässt das Land oder du wanderst in den Knast.« Er machte eine Liste, um für alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, ging beispielsweise zum Zahnarzt, und hakte sie Punkt für Punkt ab. Schließlich wurde er festgenommen und kam in Untersuchungshaft.

In seinem Schlusswort vor Gericht am 5. Dezember 2022 lässt er keinen Zweifel daran, dass er diesen Weg ganz bewusst gegangen ist: »Tu, was du tun musst, egal, was kommt. Als der Krieg begann, wusste ich sofort, was ich tun muss. Ich muss in Russland bleiben, lautstark die Wahrheit sagen und mit all meiner Kraft das Blutvergießen beenden.«

Noch ist es zu früh, um abzusehen, was es für Ilja Jaschin bedeuten wird, Jahre seines Lebens im Gefängnis zu verbringen – das Schicksal so vieler Regimekritiker in Russland.

Übersetzung von der dekoder-Redaktion

Der Beitrag ist Teil des Dossiers GegenDruck und ist zuerst bei dekoder unter https://www.dekoder.org/de/gnose/ilja-jaschin erschienen.

Die Redaktion der Russland-Analysen freut sich, dekoder.org als langfristigen Partner gewonnen zu haben. Auf diesem Wege möchten wir helfen, die Zukunft eines wichtigen Projektes zu sichern und dem russischen Qualitätsjournalismus eine breitere Leserschaft zu ermöglichen. Wir danken unserem Partner dekoder und Morvan Lallouet für die Erlaubnis zum Nachdruck.

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