Russland wird immer urbaner und älter. Das zeigt der Zensus aus dem Jahr 2021, der allerdings von Expert:innen als »unzuverlässig« eingestuft wird.
In den elf Jahren seit der letzten Volkszählung im Jahr 2010 ist die Bevölkerung Russlands nach Angaben der russischen Statistikbehörde Rosstat um 1,4 Prozent gewachsen. Dieses Wachstum ist jedoch ausschließlich auf den Zuzug von Migrant:innen vor dem Hintergrund eines natürlichen Bevölkerungsrückgangs zurückzuführen. Gleichzeitig wird die Kluft zwischen den Regionen immer größer: Die wohlhabenden und attraktivsten Regionen wie die Oblast Tjumen oder die Region Krasnodar weisen Wachstum auf, während die weniger wohlhabenden, wie die Republik Komi oder die Oblast Murmansk, deutlich rückläufige Tendenzen aufweisen.
Dabei ist Russland stark durch Binnenmigration geprägt: Die Bevölkerung zieht von ländlichen Gebieten und Kleinstädten in die Millionenstädte um, deren Zahl von 12 im Jahr 2010 auf 16 im Jahr 2021 angewachsen ist. Insgesamt lebt bereits ein Drittel der Bevölkerung in den russischen Metropolregionen. Im 21. Jahrhundert wird Russland zudem jede Dekade um etwa anderthalb Jahre altern; das Durchschnittsalter der Bevölkerung lag 2021 bei 41 Jahren. Die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter wird dabei um 1,5 Millionen abnehmen.
Die Zuverlässigkeit der Volkszählung 2021 inmitten der Pandemie ist äußerst fragwürdig. Nach den Umfragedaten des Lewada-Zentrums nahmen nur 57 Prozent der Russ:innen an der Volkszählung teil. Diese geringe Beteiligung der Bevölkerung am Zensus stellt einen historischen Tiefststand dar. Expert:innen gehen davon aus, dass die Statistikbehörde auf Verwaltungsdaten Rückgriff genommen hat, um die Zielvorgaben zur Beteiligung der Bevölkerung zu erreichen oder gar zu übertreffen. Die Ergebnisse des Zensus sollten daher mit äußerster Vorsicht interpretiert werden. Dennoch scheinen die Daten über die Bevölkerungszahl und die Zusammensetzung nach Geschlecht und Alter relativ zuverlässig zu sein, da sie anhand von Verwaltungsstatistiken, die in den Kommunen systematisch erhoben werden, überprüft werden können. Die Daten über die Größe, die Zusammensetzung und die Binnenmigration der Bevölkerung haben einen erheblichen Einfluss auf die Berechnung von Indikatoren für die Bereitstellung sozialer Infrastruktur und die Höhe von Subventionen aus dem föderalen Haushalt Russlands für die Regionen.
Der Föderale Staatliche Statistikdienst Rosstat hat im Sommer 2022 mit der Veröffentlichung der Ergebnisse der landesweiten Volkszählung begonnen, die von Oktober bis November 2021 durchgeführt wurde. Den Angaben zufolge ist die Gesamtbevölkerung Russlands seit der letzten Volkszählung im Jahr 2010 um 2,04 Millionen von 145,14 Millionen auf 147,2 Millionen gestiegen, was einer Wachstumsrate von 1,4 Prozent entspricht. Ein Teil dieses Anstiegs, der auf Migrationsströme in den Vorjahren zurückzuführen war, ging jedoch im ersten Halbjahr 2022 aufgrund von Abwanderung wieder verloren.
Wie auch bereits in den vergangenen Jahren verlassen die Russ:innen immer mehr die ländlichen Gebiete und ziehen in die Städte: Während 2010 der Anteil der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung 73 Prozent betrug, wuchs dieser bis 2021 auf 75 Prozent an. Auch existiert eine starke Migrationsbewegung zwischen den russischen Regionen von weniger entwickelten oder weniger wohlhabenden Regionen in Regionen mit höherer Lebensqualität wie beispielsweise die Krim (die völkerrechtlich nicht als Teil Russlands anerkannt ist, Anm. d. Redaktion).
Moskau und St. Petersburg sind nach wie vor führend in Bezug auf die Einwohnerzahl: In Moskau ist die Bevölkerung von 11,514 Millionen auf 13,01 Millionen und in St. Petersburg von 4,848 Millionen auf 5,602 Millionen gestiegen. Auch die Ballungsräume der beiden Hauptstädte wachsen rasant: So entstand die Stadt Murino in der Leningrader Oblast praktisch »aus dem Nichts«: sich wuchs von 7000 Einwohner:innen im Jahr 2010 auf 89.000 im Jahr 2021, was einem Anstieg von 1168,4 Prozent entspricht. Gleichzeitig stieg die Einwohnerzahl der Stadt Balaschicha in der Oblast Moskau von 215.500 auf 521.000, ein Anstieg von 141,8 Prozent.
Die Liste der Millionenstädte wurde um vier Städte erweitert: Woronesch (von 890.000 auf 1,058 Mio., +18,9 Prozent), Krasnodar (von 745.000 auf 1,099 Mio., +47,6 Prozent), Krasnojarsk (von 974.000 auf 1,188 Mio, +22,0 Prozent) und Perm (von 991.000 auf 1,034 Mio., +4,3 Prozent). Damit gibt es nun sechzehn Millionenstädte in Russland. Auch sind zwei Städte auf knapp unter eine Million Einwohner angewachsen: Tjumen, dessen Bevölkerung um fast die Hälfte gestiegen ist (von 582 auf 847.000, +45,6 Prozent), und Saratow (von 838 auf 901.000, +7,6 Prozent).
Insgesamt leben 35,5 Millionen Menschen, d. h. 24 Prozent oder fast jede:r Vierte der russischen Gesamtbevölkerung in Millionenstädten. Zum Vergleich: 2010 waren es 28,2 Millionen Menschen, also 20 Prozent der russischen Bevölkerung, und 2002 waren es 27,4 Millionen, also 19 Prozent. Der Anstieg lässt sich durch mehrere Faktoren erklären: die Entwicklung des Dienstleistungssektors, wie in Krasnodar, dessen Wachstum durch die Olympischen Spiele in Sotschi 2014 angekurbelt wurde; die Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen in Industriebetrieben, wie beispielsweise in Perm, sowie Programme zur Umsiedlung von Landsleuten, die Anwerbung von Migrant:innen und die Bereitstellung von Wohnraum.
Unter Berücksichtigung der Städte mit mehr als 500.000 Einwohner:innen beläuft sich die Bevölkerung der russischen Metropolen auf 47,7 Millionen (32,4 Prozent der Gesamtbevölkerung), 2010 waren es noch 41,2 Millionen. 28,7 Millionen Russ:innen leben in Großstädten mit 100–500 Tsd. Einwohner:innen, 2010 war die Zahl mit 27,1 Mio. etwas geringer; die restlichen 33,2 Millionen Stadtbewohner:innen leben in zahlreichen Kleinstädten, während dort 2010 noch 37,6 Millionen Menschen wohnten. Der größte Teil des Bevölkerungswachstums in den Metropolen entfiel auf die vier neuen Millionenstädte, aber auch darüber hinaus wuchs die Stadtbevölkerung um 2 Millionen. Die Bevölkerung der mittelgroßen Städte nahm um 6 Millionen zu, während die Bevölkerung der Kleinstädte zurückging. Neben der Abwanderung vom Land in die Stadt ist also auch die wachsende Tendenz einer Abwanderung in die Großstädte und Metropolregionen festzustellen, welche die anhaltenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse widerspiegelt.
Der größte Bevölkerungsrückgang ist in einigen Regionen Sibiriens und des Fernen Ostens zu beobachten: Jüdisches Autonomes Gebiet, Oblast Magadan, Oblast Kurgan und Altai-Gebiet. Die Entvölkerung ist auch charakteristisch für nord- und mitteleuropäische Regionen: die Republiken Komi und Karelien sowie die Oblaste Murmansk, Archangelsk, Kostroma und Iwanowo. Die Abwanderung in die Großstädte und die steigende Bevölkerungsdichte im mittel- und nordwesteuropäischen Russland ist ein seit langem zu beobachtendes Phänomen, welches sich weiter verstärkt hat.
Russlands Durchschnittsalter steigt etwa jedes Jahrzehnt um anderthalb Jahre, und die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter geht im gleichen Zeitraum um 1,5 Millionen zurück. Das Durchschnittsalter der russischen Bevölkerung lag im Jahr 2021 bei 41,1 Jahren. 2010 waren es noch 39 und 2002 37,7 Jahre. Der aktivste Teil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schrumpft: Bei der Volkszählung 2002 befanden sich noch 89 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter, 2010 waren es 88 Millionen. Im Jahr 2021 sank die Zahl schließlich bis auf 85,9 Millionen. Gleichzeitig nahm die Zahl der Rentner:innen deutlich zu: Von 29,8 Millionen im Jahr 2002 auf 31,7 Millionen im Jahr 2010 bis hin zu schließlich 36,6 Millionen im Jahr 2021.
Quelle: Re:Russia, Rossija stanowitsja bolee gorodskoj i bolee staroj, swidetelstwujut dannye »nenadeshnoj« perepisi 2021 goda [Russland wird immer urbaner und älter. Das ergibt sich aus dem »unzuverlässigen« Zensus des Jahres 2021], 11. Oktober 2022, https://re-russia.net/review/90/.