Sterblichkeit russischer Soldaten in der Ukraine: Sterben Angehörige ethnischer Minderheiten wirklich häufiger?

Von Alexej Bessudnow (Universität Exeter)

Zusammenfassung
Das Risiko, im Krieg in der Ukraine zu fallen, ist für Soldaten einiger ethnischer Minderheiten höher als für Russen. Manchmal um mehrere Dutzend Mal. Die Mehrheit der getöteten russischen Soldaten sind jedoch Russen, und das höhere Risiko für ethnische Minderheiten ist eher durch Ungleichheiten zwischen den Regionen zu erklären als durch eine bewusste Diskriminierungspolitik.

Hält die Medienberichterstattung einer Datenanalyse stand?

»In Tuwa starb eine Mutter an einem Herzinfarkt, als sie erfuhr, dass ihr Sohn im Krieg gegen die Ukraine gefallen ist! Vier Kinder verloren ihren Vater und ihre Großmutter. Schabalin Wladimir Wjatscheslawowitsch, Polizeimajor bei der Nationalgarde (Rosgwardija) in der Republik Tuwa, ist in der Ukraine gestorben«, schrieb der Telegramkanal »Nowaja Tuwa« im Juli. In der 20.000 Einwohner:innen zählenden Stadt Kjachta in Burjatien sind nach Angaben einiger Lokalmedien bereits 45 Menschen in der Ukraine gestorben. Menschenrechtsaktivist:innen sagen oft: »Russland tötet die Burjaten, während Kasachstan und Kirgisistan sie retten« (Kasachstan und Kirgisistan waren unter den häufigsten Zielen für diejenigen, die vor der Mobilmachung aus Russland flüchteten, Anm. d. Redaktion der Russland-Analysen). In Dagestan kam es kürzlich zu Massenprotesten gegen die Mobilisierung.

Wenn man die Medien liest, hat man den Eindruck, dass Russland vor allem ethnische Minderheiten an die Front schickt. Einigen Berichten zufolge ist die Einberufung in die Armee (sowohl Berufssoldaten als auch jene, die nach der Mobilmachung ab September eingezogen wurden) in einigen ethnischen Republiken (Burjatien, Tuwa, Dagestan, Tschetschenien (als »ethnische Republik« werden jene föderalen Subjekte (Regionen) Russlands bezeichnet, die einen höheren Autonomiestatus besitzen und in denen ethnische Minderheiten in der Regel die Mehrheit der regionalen Bevölkerung darstellen, Anm. der Redaktion der Russland-Analysen)) höher als in ethnisch mehrheitlich russischen Regionen. Aber sind Angehörige ethnischer Minderheiten in russischen Militäreinheiten, die in der Ukraine kämpfen, wirklich statistisch gesehen häufiger vertreten?

Um dieser Frage nachzugehen, habe ich eine Liste* bestätigter Todesfälle von russischen Militärangehörigen, die in der Ukraine gefallen sind, analysiert, die von der BBC, Mediazona (einer in Russland als »ausländischer Medienagent« anerkannten Publikation) und einem Team von Freiwilligen zusammengestellt wurde.

Verteilung der Todesfälle nach Regionen Russlands

Den Daten vom 21. Oktober zufolge sind die fünf Regionen mit den meisten Todesfällen die Region Krasnodar (332), Dagestan (321), Burjatien (305), Baschkortostan (258) und die Oblast Wolgograd (230). Am niedrigsten war die Zahl in Karatschai-Tscherkessien (19), im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen (10), im Oblast Magadan (7), im Autonomen Kreis der Nenzen (4) und im Autonomen Kreis Tschukotka (2). Die Daten für diese und andere Regionen sind in den Karten 1a/1b, der Grafik 1 und der Tabelle 1 auf S. 22–26 dargestellt, die auch den regionalen Anteil der Todesfälle pro 10.000 Männer im Alter von 22 bis 37 Jahren angeben.

Die Regionen mit der höchsten Zahl an Todesfällen sind tatsächlich die ethnischen Republiken (Dagestan, Burjatien, Baschkortostan). Die Bevölkerungszahl variiert jedoch von Region zu Region erheblich, so dass es sinnvoller ist, nicht die absolute Zahl der Todesfälle, sondern die Zahl der Todesfälle pro Kopf zu vergleichen.

Anteil der Todesfälle pro Kopf in den russischen Regionen

Für die Berechnung der Zahl der Todesfälle pro Kopf wurden Daten der Volkszählung von 2010 verwendet. Bei den in der Ukraine ums Leben gekommenen Militärangehörigen handelt es sich überwiegend um junge Männer. Daher verwende ich die Zahl der Männer im Alter von 10 bis 25 Jahren gemäß den Zensus-Daten von 2010. Im Jahr 2022 war diese Kohorte zwischen 22 und 37 Jahre alt.

Die beiden Regionen mit dem höchsten Anteil an Todesfällen sind Burjatien (Sterblichkeitsrate: 28,4 Todesfälle pro 10.000 junge Männer) und Tuwa (27,7). Es folgen die Oblast Pskow (17,1), Nordossetien (16,8) und die Republik Altai (16,3). In Dagestan liegt die Sterblichkeitsrate bei 7,6, in Tschetschenien bei 7,1 und in Inguschetien bei 6,4. Es sollte jedoch berücksichtigt werden, dass die Schätzung für Tschetschenien und möglicherweise auch für die anderen Republiken des Nordkaukasus aufgrund unvollständiger Daten zu niedrig angesetzt sein könnte.

Die niedrigste Sterblichkeitsrate gab es in der Oblast Moskau (1,7), im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen (1,7), im Autonomen Kreis der Chanty-Mansi (1,7), in St. Petersburg (1,4) und in Moskau (0,3). So übersteigt das Risiko, im Ukrainekrieg zu sterben, für einen jungen Mann aus Burjatien und Tuwa das gleiche Risiko für einen jungen Moskauer etwa um den Faktor 100.

Anteil der Todesfälle und relatives Sterberisiko nach ethnischer Gruppe

Die Berechnung des Anteils der Todesfälle nach Region ermöglicht keinen direkten Vergleich der Todesfälle nach ethnischer Gruppe. Der Anteil der ethnischen Titulargruppen variiert in den einzelnen nationalen Republiken. So sind beispielsweise in Burjatien etwa 60 Prozent der jungen Männer ethnisch russisch, in Tuwa liegt der Anteil der Russen bei etwa 10 Prozent und in Tschetschenien und Inguschetien bei weniger als einem Prozent.

Die der Untersuchung zugrunde liegenden Daten enthalten keine Angaben über die ethnische Zugehörigkeit der Todesfälle. Bei einigen ethnischen Gruppen kann jedoch der Vor- und Nachname als Indikator für die ethnische Zugehörigkeit verwendet werden. Dafür nutze ich einen, für maschinelles Lernen entwickelten Algorithmus (https://osf.io/preprints/socarxiv/wf6p4/), um die ethnische Zugehörigkeit anhand von Vor- und Nachnamen zu kodieren. Dieser Algorithmus hat eine Reihe von Einschränkungen. Bei einigen ethnischen Gruppen mit russifizierten Namen (wie z. B. Tschuwaschien oder Komi) funktioniert er nicht. Außerdem lässt sich die ethnische Identität nicht auf einen Namen mit bestimmten ethnischen Merkmalen reduzieren, so dass der Algorithmus lediglich für ungefähre statistische Schätzungen verwendet werden kann.

In Grafik 2 und Tabelle 2 auf S. 27 sind die Schätzungen von Todesraten für aggregierte ethnische Gruppen aufgeführt. Allein anhand der Angaben zu Vor- und Nachnamen ist es nicht möglich, zwischen Russen, Ukrainern und Belarusen zu unterscheiden (viele Ukrainer haben Nachnamen russischen Ursprungs, während Russen Nachnamen ukrainischen Ursprungs haben). Wir haben auch die Baschkiren und Tataren sowie (in einer eigenen Gruppe) die nordkaukasischen Ethnien zusammengefasst.

Die Tabelle 1 enthält vier Spalten: die absolute Zahl der Todesfälle nach aggregierten ethnischen Gruppen, den prozentualen Anteil der ethnischen Gruppen an den in der Ukraine Gefallenen, den Anteil der ethnischen Gruppen an der russischen Bevölkerung (Männer im Alter von 10 bis 25 Jahren gemäß der Volkszählung des Jahres 2010) und den Quotienten aus der Division dieser beiden Indikatoren (relatives Risiko).

Das relative Risiko gibt an, um wie oft der Anteil der ethnischen Gruppe unter den Toten ihren Anteil an der männlichen Bevölkerung übersteigt. Wenn das relative Risiko größer als eins ist, sind Angehörige dieser ethnischen Gruppe unter den Verstorbenen stärker vertreten als in der männlichen Bevölkerung.

Wie die Tabelle 2 auf S. 27 zeigt, sind die meisten der in der Ukraine gefallenen Soldaten ethnische Russen, aber ihr Anteil an den Toten ist etwas geringer als der Anteil der Russen an der männlichen Bevölkerung Russlands. Dagegen ist der Anteil der Burjaten und Tuwiner unter den Toten fünfmal so hoch wie ihr Anteil an der Bevölkerung des Landes. Bei den Baschkiren, Tataren und Ethnien des Nordkaukasus ist der Anteil der Toten um etwa 20 Prozent höher als der Anteil an der Bevölkerung des Landes.

Ethnische Unterschiede beim Sterberisiko

Eine andere Möglichkeit, die ethnische Ungleichheit bei der Sterbewahrscheinlichkeit von Russlands Soldaten in der Ukraine zu schätzen, ist der Vergleich des Anteils der Todesfälle von Russen und Vertretern von Titularnationalitäten innerhalb ethnischer Republiken. Grafik 3 und Tabelle 3 auf S. 28 präsentiert diese Daten.

In dieser Tabelle vergleichen wir den Anteil der nicht-slawischen Namen unter den Gefallenen mit dem Anteil der nicht-slawischen Bevölkerung an der Bevölkerung der nationalen Republiken. Ein relatives Risiko größer als eins bedeutet, dass ethnische Minderheiten in der Ukraine ein höheres Risiko haben zu sterben als russische Männer aus denselben nationalen Republiken.

Die Daten zeigen, dass die ethnische Ungleichheit bei der Sterblichkeit innerhalb der einzelnen Republiken deutlich geringer ist als in Russland insgesamt. In Russland übersteigt beispielsweise das Sterberisiko für Burjaten in der Ukraine das Sterberisiko für Russen um etwa das Fünffache (500 Prozent). In Burjatien übersteigt das Risiko für Burjaten das Risiko für Russen um nur 23 Prozent.

In fast allen ethnischen Republiken liegt das relative Risiko nahe bei 1, was bedeutet, dass es kaum einen Unterschied zwischen der Sterbewahrscheinlichkeit von Russen und ethnischen Gruppen innerhalb der jeweiligen Republiken gibt. Allerdings sollte bedacht werden, dass dieser Zusammenhang auch an der mangelhaften Methode zur Identifizierung der ethnischen Zugehörigkeit anhand des Namens liegen könnte.

Ethnische Ungleichheit als Folge der regionalen Ungleichheit

So sind einige ethnische Minderheiten (insbesondere Burjaten und Tuwiner) unter den militärischen Todesfällen in der Ukraine tatsächlich deutlich häufiger vorzufinden, als ihr Anteil an der Bevölkerung vermuten lässt. In geringerem Maße gilt dies auch für andere ethnische Gruppen wie Tataren und Baschkiren, sowie für die Völker des Nordkaukasus (wobei die Daten für letztere möglicherweise unvollständig sind).

Die Mehrheit der in der Ukraine gefallenen Angehörigen von Russlands Militär sind jedoch ethnische Russen, und ihr Anteil an den Gefallenen entspricht ungefähr ihrem Gesamtanteil an der russischen Bevölkerung.

Im Falle der Burjaten und Tuwiner ist die höhere Sterblichkeitsrate wahrscheinlich auf eine höhere Zahl von Rekrutierungen von Zeitsoldaten in den sozial schwachen und wirtschaftlich weniger wohlhabenden Regionen Ostsibiriens und des Fernen Ostens zurückzuführen.

Zu den Regionen mit einer höheren Pro-Kopf-Sterblichkeit gehören nicht nur Burjatien und Tuwa, sondern auch die Republik Altai, das Transbaikalgebiet, das Jüdische Autonome Gebiet und die Region Sachalin. In den wirtschaftlich erfolgreicheren ethnischen Republiken (Jakutien, Tatarstan) ist der Militärdienst ein weniger attraktiver Karriereweg für junge Männer, und dementsprechend ist die Zahl der militärischen Todesfälle pro Kopf der Bevölkerung viel niedriger. In Burjatien, wo die Mehrheit der Bevölkerung ethnische Russen sind, ist die Sterblichkeitsrate der burjatischen Soldaten nur etwa 20–25 Prozent höher als die der Russen.

Es ist wahrscheinlicher, dass die ethnische Ungleichheit in diesem Fall eher eine Folge der regionalen Ungleichheit als das Ergebnis einer bewussten Diskriminierungspolitik ist. Dieser Zusammenhang ist nicht nur bei der russischen Armee zu beobachten, die derzeit in der Ukraine kämpft. In der US-Armee starben während der Kriege in Korea, Vietnam und Irak eher Soldaten aus armen Bundesstaaten und Bezirken (sie schlossen sich eher dem Militärdienst auf Zeit an), und hispanische Amerikaner starben eher im Irak als Weiße oder Afroamerikaner.

Datenquelle, die der Untersuchung zugrunde liegt:

*Am 21. Oktober enthielt die namentliche Liste der russischen Militärangehörigen in der Ukraine Informationen über 7.871 Tote, die aus offenen Quellen (hauptsächlich aus sozialen Medien: Todesmeldungen von Familienangehörigen der Toten, NGOs, regionale Behörden) zusammengetragen wurden. Die Aufzeichnungen enthalten die Vor- und Nachnamen der Verstorbenen sowie weitere Daten wie Geburtsdatum, Sterbedatum, Truppengattung, Dienstgrad usw. sowie die Region. Angegeben wird die Region, deren Behörden den Tod zuerst gemeldet haben (im Falle einer amtlichen Meldung) oder die Region, in der die Familie des Gefallenen lebte.

Diese Daten sind unvollständig und umfassen nicht alle in der Ukraine gefallenen russischen Militärangehörigen. Es fehlen Personen, deren Tod nicht gemeldet wurde, sowie Vermisste. Bei der überwiegenden Mehrheit der in der Datenbank erfassten Personen handelt es sich um Zeitsoldaten, die in den ersten acht Monaten des Krieges (Februar bis Oktober) getötet wurden. Offensichtlich unterscheidet sich der Grad der Vollständigkeit der verfügbaren Informationen je nach Region. In den nordkaukasischen Republiken beispielsweise nutzen die Menschen die sozialen Medien seltener, und die Freiwilligen waren möglicherweise nicht in der Lage, Meldungen über Todesfälle in den lokalen Sprachen ausfindig zu machen. In Ermangelung offizieller Informationen ist diese Datenbank jedoch die einzige Quelle zur Quantifizierung der Eigenschaften der in der Ukraine gefallenen russischen Militärangehörigen.

Anmerkung: Der Text wurde am 28. Oktober 2022 auf der Webseite des russischsprachigen Dienstes der BBC veröffentlicht: https://www.bbc.com/russian/features-63416259. Die Redaktion der Russland-Analysen bedankt sich bei Alexej Bessudnow und Andrej Gorjanow (BBC Russian) für die Erlaubnis, die deutsche Übersetzung abdrucken zu dürfen.

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Analyse

Die Pandemie in Russlands Föderationssubjekten: Gründe für die unterschiedliche Mortalität

Von Roland Götz
Die durch die Corona-Pandemie verursachte Mortalität lag in Russlands Föderationssubjekten im Jahr 2020 zwischen 75 und 333 Todesfälle pro 100.000 Einwohner. Dafür können Faktoren wie eine unterschiedliche Strenge der behördlichen Maßnahmen gegen die Pandemie, das Verhalten der Bevölkerung, demographische Merkmale oder der Umfang der medizinischen Versorgung verantwortlich gewesen sein. Daten der Regionalstatistik lassen den Schluss zu, dass die mit Corona in Verbindung stehende Mortalität in jenen Föderationssubjekten besonders hoch war, die eine hohe Bevölkerungsdichte und einen hohen Anteil von Menschen im Rentenalter aufwiesen.
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