Telefonische Umfragen im autoritären Russland: der Ansatz von Nawalnyjs Stiftung für Korruptionsbekämpfung

Von Anna Biriukova (Stiftung für Korruptionsbekämpfung)

Die Sparte Meinungsforschung der Stiftung für Korruptionsbekämpfung (russ. Abk.: FBK) unternimmt landesweite Umfragen auf der Grundlage von Telefoninterviews. Wir sind seit 2013 tätig und verfügen über Daten aus zehn Jahren Monitoring. Die bittere Wahrheit ist, dass viele Kolleg:innen schon vor zehn Jahren nachvollziehbare Befürchtungen äußerten, Zufallsstichproben könnten durch die Besonderheiten der politischen Realität in Russland verzerrt sein. Wir müssen uns bewusst sein, dass in Russland die auf übliche Weise gewonnenen Stichproben systematische Fehler enthalten. Das Regime setzt Umfragen als Instrument zur Manipulierung und zu Propagandazwecken ein, was dazu führt, dass ein gewisser Teil der potenziellen Respondent:innen sich sträubt, daran teilzunehmen. Weitere Besonderheiten sind die Anomalien bei der Anzahl der durch gesellschaftliche Erwartungen diktierten oder schlichtweg gelogenen Antworten. Die Altersgruppe der Rentner:innen weist hier ein ganz besonderes Merkmal auf: Wir beobachten bei dieser Gruppe zwar die höchste Rücklaufrate, gleichzeitig ist ein:e Rentner:in, der/die mit einem/einer Meinungsforscher:in redet, davon überzeugt, dass er oder sie dadurch mit niemand anderem als der Regierung selbst spricht.

Seit Ende März 2022 haben wir monatlich landesweite Umfragen durchgeführt. Wir sind uns der Verzerrungen und Fehlerquellen bei den Stichproben vollauf bewusst, die sich aus der Angst vor Bestrafung wegen abweichender Meinungen oder aus dem Zögern ergeben, bei einer unbekannten Telefonnummer das Gespräch anzunehmen (letzteres ist insbesondere bei jungen Männern eine heikle Angelegenheit, da sie, um einer Einberufung zu entgehen, von unserer Organisation aufgefordert wurden, nicht ans Telefon zu gehen). Im April 2022 haben wir einen starken Rückgang bei der Unterstützung für liberale und demokratische Werte festgestellt (etwa für gleichgeschlechtliche Ehen, für Meinungsfreiheit oder als Zustimmung für liberale Politiker:innen). Diese Gruppe von Respondent:innen, die wir stets gesondert herausgearbeitet haben, ist allerdings nicht zu den konservativen Traditionalist:innen übergelaufen – sie meidet jetzt einfach Umfragen. Eine ehrliche Beteiligung an einer Umfrage bedeutete nämlich schlichtweg ein zu großes Risiko, da niemand sicher sein kann, dass die Anonymität der Befragten gewahrt bleibt. Wir haben keinerlei Hoffnung, dass wir diese Menschen wieder in den Pool jener zurückholen können, die wir mit unseren Umfragen erreichen.

Das zweite Phänomen, das wir umgehend feststellten, war die Weigerung, jegliche Fragen zu beantworten, die mit der Ukraine zu tun haben. Sobald in den Fragebögen Themenblöcke zum Krieg auftauchten, stellten wir eine abnormal hohe Zahl von Abbrüchen fest.

Daher versuchten wir aus der Not eine Tugend zu machen, indem wir zu Beginn des Krieges (in den ersten vier Monaten) offen die Möglichkeit anboten, den Teil des Fragebogens zur Ukraine zu überspringen. Diese Möglichkeit wurde von bis zur Hälfte der Respondent:innen genutzt. Auf diesem Wege erzielten wir die maximal mögliche Anzahl von Respondent:innen, die auch das Ende des Fragebogens erreichten. Dadurch konnten wir nicht nur von jenen Antworten erhalten, die zuvor bereit waren, über die Ukraine zu reden. Schließlich wollen wir nicht nur wissen, wie groß die Zustimmungswerte für den Präsidenten unter jenen sind, die bereit sind, über den Krieg zu sprechen, und die diesen somit wohl eher unterstützen als ablehnen.

Nachdem in der Russischen Föderation eine Mobilmachung verkündet wurde, haben wir die Fragebögen ein wenig umformuliert und erklärt, dass zwar einige Fragen über die »militärische Spezialoperation« übersprungen werden können, einige Fragen hierzu aber beantwortet werden müssen. Der neue Wortlaut hatte keine größeren Auswirkungen auf die Rücklaufquote. Verpflichtend waren Fragen zur Mobilmachung, zu deren Notwendigkeit und dazu, ob die »militärische Spezialoperation« die Erwartungen der Respondent:innen erfüllt habe oder nicht.

Bemerkenswert ist, dass zu Beginn des Krieges die Hälfte der Befragten bereit war, die Fragen zur Ukraine zu beantworten, während in unserer letzten Umfrage nur 30 Prozent der Respondent:innen diesen Teil überspringen wollten und 70 Prozent zu Antworten bereit waren.

Als letztes möchte ich auf die Bedeutung verweisen, dass Tendenzen über die Zeit hinweg betrachtet werden, worauf wir uns als politische Organisation konzentrieren. Wir räumen ein, dass wir nicht in der Lage sind – wie auch sonst niemand –, die Frage »Wie viele Russ:innen unterstützen den Krieg?« mit hinreichender Genauigkeit zu beantworten. Wir haben aber über zehn Monate hinweg bei fast allen Themen, die mit dem Krieg zu tun haben, eine klare Tendenz zu einer wachsenden Unzufriedenheit mit der aktuellen Entwicklung festgestellt. Immer weniger Befragte unterstützen den Krieg, und die Zahl derjenigen, die Friedensverhandlungen wünschen, nimmt zu.

Wir fassen unsere Daten nicht als Forschungsmaterial in Bezug auf die Gesellschaft als Ganzes auf, sondern als Daten, mit dem jene untersucht werden können, die vor allem die Politik der Regierung unterstützen. Der Umstand, dass wir selbst bei diesen Menschen eine stetige Entwicklung hin zu Kritik und Enttäuschung beobachten, trägt dazu bei, dass wir einen objektiven Blick beibehalten. Und ehrlich gesagt, sorgt es für einen gewissen Optimismus.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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