Nicht eingetroffene Prognosen
Russlands Volkswirtschaft wurde für 2022 als Folge des Kriegs gegen die Ukraine und der verschärften westlichen Sanktionen ein erheblicher Produktionsrückgang vorhergesagt. Die Bandbreite der Prognosen reichte von einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 8 Prozent (die von der Zentralbank Russlands publizierte Konsens-Prognose von 18 russischen Wirtschaftsexperten), über 10 Prozent (Bank of Finland Institute for Emerging Economies, BOFIT) und 11 Prozent (Weltbank) bis zu 15 – 20 Prozent (Polish Economic Institute). Man hatte eine »klassische« Rezession folgender Art erwartet: Ein starker Rückgang des Exports verursacht eine Abwertung der Währung, einen Ansturm der Bevölkerung auf die Banken (»bank run«) und eine daraus resultierende Krise des Bankensystems. Die Kreditvergabe an Unternehmen wird blockiert, diese kürzen die Produktion oder stellen den Betrieb ein mit der Folge steigender Arbeitslosigkeit, eines defizitären Staatshaushalts und zunehmender Inflation. Anzeichen einer aufziehenden schweren Wirtschaftskrise waren im Frühjahr und Sommer 2022 tatsächlich zu verzeichnen gewesen und schienen diese Prognosen zu bestätigten. Doch im Herbst 2022 mussten sie korrigiert werden.
Russlands Wirtschaft 2022
Die Lage der russischen Wirtschaft wird im Folgenden auf Grundlage der Publikationen des Statistischen Amts Russlands (Rosstat), der Zentralbank (Bank Rossii, Bank of Russia) und des Finanzministeriums der Russischen Föderation (Minfin) sowie darauf aufbauenden Veröffentlichungen dargestellt, die trotz mancher Einschränkungen umfassendere Aussagen erlauben als anekdotische Berichte. Gebietsstand Russlands ist die Russische Föderation einschließlich der 2014 annektierten Krim-Halbinsel.
2022 ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Russlands gegenüber 2021 real (inflationsbereinigt) um 2,1 Prozent zurückgegangen und damit weit weniger, als vorhergesagt worden war. Obwohl das föderale Budget ein Defizit von 2,2 Prozent des BIP aufwies, kam es nicht zu einem Absturz des Rubelkurses: Die russische Währung hat – nachdem sie im März 2022 einen kurzzeitigen Höchststand verzeichnete – gegenüber 2021 im Jahresdurchschnitt sogar etwas aufgewertet. Die Arbeitslosigkeit war 2022 geringer als 2021. Nur die Inflation trübte dieses Bild: Die Konsumgüterpreise stiegen im Jahresvergleich um 14 Prozent an – doppelt so hoch wie 2021 (Tabelle 2 in der Rubrik Statistik: Russlands Wirtschaft). Nach den bis Mitte März 2023 vorliegenden statistischen Angaben, die stets noch revidiert werden, kann kein Zweifel daran bestehen, dass Russlands Volkswirtschaft sich 2022 gegenüber den Sanktionen als ziemlich robust erwiesen hat.
Daraus, dass sich die Prognosen eines starken Wirtschaftseinbruchs für 2022 nicht eintrafen, kann aber nicht geschlossen werden, dass die Wirtschaftssanktionen nicht gewirkt haben. Denn für 2022 war von Russlands Behörden ein Zuwachs des BIP um rund drei Prozent erwartet worden. Der tatsächliche Rückgang um rund zwei Prozent bedeutet somit einen BIP-Verlust im Umfang von rund fünf Prozent, der auf die Sanktionen zurückgeführt werden kann. Denn sonst ist schwer erklärbar, warum Russlands Wirtschaft in einem Jahr kein Wachstum aufwies, in dem das weltwirtschaftliche BIP um 3,4 Prozent und der Preisindex für Energierohstoffe – die hauptsächlichen Exportgüter Russlands – um 59 Prozent angestiegen waren (Grafik 1 und Tabelle 1 in der Rubrik Statistik: Russlands Wirtschaft).
Für die Widerstandsfähigkeit Russlands gegenüber den Sanktionen gibt es mehrere Erklärungen: Fehlende Importe konnten vorübergehend aus Lagerbeständen ersetzt werden; bei Konsumgütern orientierte sich die Bevölkerung notgedrungen auf Erzeugnisse aus heimischer Produktion um, worauf die Unternehmen der Konsumgüterindustrie ihre Produktionskapazitäten erweiterten, was wiederum die Produktion der Investitionsgüterindustrien anregte. Die Produktion der Rüstungsindustrie wurde durch Staatsaufträge angekurbelt. Bei der Stabilisierung der Finanzlage half die Zentralbank: Nach Kriegsbeginn stoppte sie für einige Wochen (mit Ausnahmen für Geschäftsreisen) den Umtausch von Rubel in ausländische Währungen und verhinderte damit einen Bankenansturm der Bevölkerung. Für Kredite an Banken hob sie den Leitzinssatz (key rate) vom 26. Februar 2022 bis zum 12. April auf 20 Prozent an, was die Nachfrage nach Devisen einschränkte. Unternehmen mussten zunächst 80 Prozent und ab Ende Mai 50 Prozent ihrer Devisenerlöse in Rubel umtauschen. Durch diese Maßnahmen wurde eine Abwertung des Rubels zumindest für 2022 verhindert. Auch konnte Russland sich dem Druck der von der EU, den USA und weiteren Ländern 2022 verschärften Sanktionen teilweise entziehen, indem es die Wirtschaftsbeziehungen nicht nur mit seinen kaukasischen und zentralasiatischen Nachbarstaaten, sondern auch mit China, Indien, der Türkei, Singapur und den Vereinigten Arabischen Republiken ausweitete und damit sowohl neue Absatzmöglichkeiten für seine Exportgüter als auch Ersatz für ausfallende Importe fand. Auch haben sich längst nicht alle Unternehmen aus den Sanktionen verhängenden Ländern aus Russland zurückgezogen.
Nur schwache Sanktionierung der Energieexporte
Russlands Sanktionsresilienz lag vor allem daran, dass Russland 2022 Erdöl, Erdölerzeugnisse und Kohle in gleicher Menge wie 2021 exportieren konnte und dabei noch vom weltweiten Preisanstieg dieser und anderer Rohstoffe profitierte. Denn während manche Länder Russlands Energieexporte rascher sanktionierten, vollzogen die EU-Mitglieder diesen Schritt nur partiell und verzögert, weil man Versorgungsengpässe und Preisanstiege befürchtete. Die USA dagegen verboten bereits im März 2022 die Einfuhr von Kohle, Erdöl, Erdölprodukten und Flüssiggas aus Russland. Australien, Kanada und das Vereinigte Königreich beendeten Mitte 2022 ihre Importe von Erdöl und Erdölprodukten aus Russland. Seit 10.08.2022 gilt immerhin ein Kohleembargo der EU.
Ein Ölembargo der EU, das EU-Ländern den Import aus Russland untersagt, wurde im Juni 2022 innerhalb des 6. Sanktionspakets beschlossen. Es gilt ab 05.12.2022 für per Schiff transportiertes Rohöl und ab 05.02.2023 für Ölerzeugnisse. Bulgarien hat für die Versorgung seiner Raffinerie in Burgas eine bis 2024 befristete Ausnahmegenehmigung durchgesetzt. Deutschland und Polen stoppten zwar Ende 2022 den Rohölimport über den nördlichen Arm der aus Russland kommenden Druschba-Pipeline, doch werden Tschechien, die Slowakei und Ungarn weiter über deren südlichen Arm mit einer Mischung von russischem und kasachischem Öl beliefert. Außerdem wird in Indien, das Europa als Hauptabsatzmarkt von russischem Erdöl abgelöst hat, Rohöl weiterverarbeitet und in der Form von Erdölerzeugnissen wieder in die EU verschifft.
Alle G7-Staaten und Australien haben eine Ölpreis-Obergrenze verfügt, die seit 5.12.2022 für Erdöl und seit 5.2.2023 für Erdölerzeugnisse aus Russland gilt. Reedereien, Versicherungsunternehmen und andere Dienstleister für den Öltransport müssen die Einhaltung dieses »Preisdeckels« in ihren Verträgen nachweisen, was jedoch keiner Prüfung unterliegt. Als Preisgrenzen wurden zunächst 60 US-Dollar je Barrel für Rohöl, 45 US-Dollar je Barrel für weniger hochwertige Erdölprodukte und 100 US-Dollar je Barrel für hochwertige Erdölprodukte festgelegt. Allerdings wollen sich Länder wie China und Indien weder an das Ölembargo noch an die Preisgrenzen für Rohöl und Ölprodukte halten und nutzen dafür auch eine »Schattenflotte« von Tankern unbekannter Reedereien und mit ungeklärtem Versicherungsschutz.
Anscheinend war im Dezember 2022 eine regionale Fragmentierung des Preises für Russlands Rohöl zu beobachten: Schiffslieferungen von Ostsee- und Schwarzmeerhäfen nach Indien erfolgten zu 58 US-Dollar je Barrel und damit unterhalb der Ölpreisgrenze (was allerdings von Sergey Vakulenko bestritten wird). Dagegen orientierte sich der Preis für per Pipeline aus Ostsibirien nach China sowie von Russlands Pazifikhäfen per Tanker nach China und Indien transportierten Öls mit 81 – 84 US-Dollar je Barrel am höheren Weltmarktpreis der Referenzsorte »Brent«.
Die EU hat weder ein Gasembargo noch eine Preisobergrenze für aus Russland geliefertes Gas verordnet. Aus Russland werden teilweise über die Ukraine via Pipeline Österreich, Ungarn und Italien sowie mit LNG-Tankern Belgien, Niederlande, Frankreich und Spanien beliefert. Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien und Deutschland wurden von Russland unter Vorwänden nicht mehr beliefert und/oder haben von sich aus auf Gasimporte aus Russland verzichtet. Während Anfang 2022 rund ein Drittel des EU-Gasimports aus Russland kam, waren es Ende 2022 nur noch rund 10 Prozent.
Erzeugung des Bruttoinlandsprodukts
Ausgangspunkt für die Berechnung der volkswirtschaftlichen Produktion ist die Bruttowertschöpfung (BWS) (Tabelle 3 in der Rubrik Statistik: Russlands Wirtschaft). Sie war 2022 gegenüber 2021 um 1,3 Prozent zurückgegangen. Unter den 12 größten Wirtschaftsbereichen, die 90 Prozent der BWS repräsentieren, wiesen sieben positive Wachstumsraten auf. Darunter war der Bereich »Öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Sozialversicherung« mit 4,1 Prozent Zuwachs, der von erhöhten Ausgaben für Militär und Sicherheitsdienste profitierte sowie der Bergbau mit 0,4 Prozent, weil dessen Unternehmen durch die hohen Rohstoffpreise zur vollen Nutzung ihrer Förderkapazitäten angeregt wurden. Unter den Bereichen mit sinkender BWS stach der Handel mit einem Rückgang um 12,7 Prozent hervor, was vor allem daran lag, dass der Kfz-Handel um 45 Prozent zurückgegangen ist, weil sich die meisten ausländischen Automobilfirmen aus Russland zurückgezogen hatten. Im größten Wirtschaftsbereich, der verarbeitenden Industrie, ging die Produktion 2022 gegenüber 2021 um 2,4 Prozent zurück.
Innerhalb dieser Wirtschaftsbereiche hatten die einzelnen Wirtschaftszweige unterschiedliche Veränderungsraten: Zu den Wirtschaftszweigen der verarbeitenden Industrie mit zunehmender Produktion gehörte die »Herstellung von Metallerzeugnissen außer Maschinen und Ausrüstungen« (um 6,0 Prozent) und die »Herstellung von sonstigen Maschinen und Ausrüstungen« (um 1,3 Prozent), wozu in beiden Fällen auch die Produktion von Munition und Waffensystemen zählt. Militärisch wichtige Güter werden aber auch in einer Vielzahl von weiteren Wirtschaftszweigen der verarbeitenden Industrie hergestellt, wie z. B. in der Textilindustrie, wo die Produktion von Uniformen (genannt »Spezialkleidung«), um 63 Prozent anstieg.
Verwendung des Bruttoinlandsprodukts
Die BIP-Verwendungsrechnung für 2022 zeigt, dass sich Kriegsfolgen und Sanktionen zumindest in gewissem Umfang auf die Wirtschaft Russlands ausgewirkt haben (Tabelle 4 in der Rubrik Statistik: Wirtschaft): Nur der Staatssektor (mit 2,8 Prozent) und die Anlageinvestitionen (mit 5,2 Prozent) wiesen ein reales (inflationsbereinigtes) Wachstum auf. In beiden Fällen dürften Rüstungsaufträge dafür verantwortlich sein, denn im Staatskonsum sind neben dem Unterhalt des Staatsapparats auch Personalaufwendungen und laufende Sachausgaben für militärische Zwecke enthalten und in den Anlageinvestitionen sind außer Investitionskosten der Unternehmen für die Produktion von zivilen Gütern – nach internationaler Konvention – auch die Anschaffungskosten für Waffensysteme (mit einer geplanten Nutzungsdauer von mehr als einem Jahr, also Panzer, Militärfahrzeuge, Geschütze, Flugzeuge, Schiffe usw.) verbucht.
In der im Februar 2023 von Rosstat publizierten Verwendungsrechnung des BIP fehlen für 2022 die Angaben für Importe und Exporte sowie deren Veränderungsraten. Ergänzende Informationen zur Außenwirtschaft lassen sich jedoch aus der Zentralbankstatistik entnehmen, von der bis März 2023 allerdings nur eine Kurzfassung veröffentlicht wurde (Tabelle 5 in der Rubrik Statistik: Wirtschaft): Während die Exporterlöse Russlands 2022 diejenigen von 2021 um 14 Prozent (78 Mrd. US-Dollar) überstiegen, lag der Wert der Importe um 9 Prozent (34 Mrd. US-Dollar) niedriger. Daraus resultierte ein im Vergleich zum Vorjahr um 66 Prozent (112 Mrd. US-Dollar) höherer Saldo der Handels- und Dienstleistungsbilanz (des Außenbeitrags zum BIP). Diese Kombination von geringeren Importen bei gleichzeitig angestiegenen Exporten und der damit verbundene Zufluss von Devisen verhinderten in erster Linie, dass Russlands Volkswirtschaft 2022 eine ausgeprägte Wirtschaftskrise durchmachte.
Staatshaushalt und Rüstungsausgaben
Das föderale Budget wird vom Finanzministerium veröffentlicht (Tabelle 6 in der Rubrik Statistik: Wirtschaft). Da 2022 die Ausgaben um rund 12 Prozent höher als die Einnahmen waren, betrug das Budgetdefizit 2,2 des BIP aus, während 2021 noch ein Überschuss erzielt worden war. Während 2021 sowohl die Verschuldung der Föderation im Inland wie im Ausland zurückgeführt werden konnte, stand 2022 einer Verringerung der Auslandsverschuldung eine deutlich gestiegene innere Verschuldung gegenüber.
Die Ausgaben des föderalen Budgets überstiegen 2022 den in der Verwendungsrechnung des BIP ausgewiesenen Staatskonsum um 15 Prozent, während diese Relation 2021 noch 6 Prozent betragen hatte. Das dürfte daran liegen, dass die Staatsausgaben im Unterschied zum Staatskonsum Investitionen einschließen, wozu die im Vergleich zum Vorjahr angestiegene Indienststellung von Waffensystemen und militärischen Bauten gehört.
Seit Anfang 2022 enthält die vom Finanzministerium publizierte Statistik der Budgeterfüllung keine Aufschlüsselung nach einzelnen Ausgabenposten mehr. Eine solche enthält jedoch die vom Finanzministerium im Oktober 2022 publizierten Budgetplanung (dort S. 71). Für das Jahr 2022 waren im konsolidierten (gesamtstaatlichen) Budget für Verteidigung 4.680 Mrd. Rubel (ein Anteil von 3,2 Prozent des BIP) und für Sicherheit und Justiz 2.971 Mrd. Rubel (2,0 Prozent des BIP) veranschlagt. Für 2023 waren für Verteidigung eine Steigerung auf 4.983 Mrd. Rubel (3,3 Prozent des BIP) und für Sicherheit und Justiz auf sogar 4.609 Mrd. Rubel (3,1 Prozent des BIP) geplant. Da militärisch relevante Ausgaben auch in weiteren Positionen des Budgets enthalten sind, lässt sich aus diesen beiden Positionen der Budgetstatistik nicht auf den vollen Umfang der Rüstungsausgaben schließen. Auch können Russlands Rüstungsausgaben nicht einfach durch Umrechnung zu Wechselkursen mit denjenigen westlicher Länder verglichen werden, weil die Kaufkraft des Rubels je nach Ausgabenkategorie in verschiedenem Umfang höher ist als es Wechselkurse angeben. Stattdessen sollten nach Peter Robertson »militärische Kaufkraftparitäten« angewandt werden. Werden diese benutzt, ergibt sich daraus, dass die Rüstungsausgaben Russlands mit über 200 Mrd. US-Dollar rund dreimal so hoch sind, wie wenn sie mit Wechselkursen berechnet würden.
Soziale Lage
Russlands Statistikbehörde ermittelt »real verfügbare Einkommen« als die Gesamtsumme der Löhne und Gehälter, Unternehmergewinne und monetären sozialen Leistungen nach Abzug von Steuern und Abgaben unter Berücksichtigung der Inflation. Diese Summe war 2022 trotz des BIP-Rückgangs um zwei Prozent nur ein Prozent geringer als 2021 gewesen, wofür kriegsbedingte Sonderzahlungen an Beschäftigte im Staatsapparat und Militär verantwortlich gewesen sein dürften. Für 2022 verzeichnet die amtliche Statistik einen Rückgang der Konsumausgaben der Bevölkerung um rund zwei Prozent (Tabelle 4 in der Rubrik Statistik: Russlands Wirtschaft), was an mangelndem Konsumgüterangebot wegen fehlender Importwaren und dem Rückzug von westlichen Handelsketten aus Russland gelegen haben dürfte. Dazu passt, dass die Bruttowertschöpfung des Einzelhandels um 6,8 Prozent zurückging.
Die von der Statistik gemeldete Arbeitslosigkeit ist trotz des Produktionsrückgangs im Jahresdurchschnitt von 4,4 Prozent auf 3,7 Prozent gesunken, was vermutlich mit der Teilmobilisierung sowie der Flucht von Hunderttausenden Arbeitskräften ins Ausland zusammenhing. Das niedrige Niveau der Arbeitslosigkeit liegt auch an einer nicht registrierten »versteckten« Arbeitslosigkeit, wenn Fabriken stillstehen, die Belegschaften aber als beschäftigt gelten, obwohl sie nur geringfügig oder gar nicht entlohnt werden.
Sanktionen gegen Russlands Militär
Die Sanktionen gegen Importe Russlands zielten vor allem auf militärisch relevante Güter einschließlich solche mit sowohl ziviler als auch militärischer Nutzung (dual-use-Güter). Sie waren durchaus wirksam: Importe aus Ländern wie Iran und China, die sich an Sanktionen gegen Russland nicht beteiligten, konnten zumindest vorübergehend die ausfallenden Lieferungen nicht voll ersetzen.
Unter anderem musste die Produktion bestimmter Militärfahrzeuge im Kamaz-Werk (Kamski awtomobilny sawod) eingestellt werden, weil die aus Deutschland bezogenen Bosch-Einspritzdüsen nicht mehr verfügbar waren. Für die T-72-Kampfpanzer fehlten in Frankreich hergestellte Wärmebildkameras und aus Japan stammende optische Erzeugnisse, für die Produktion von Luftabwehrwaffen die in Deutschland hergestellte Elektronik. Die Produktion von Marschflugkörpern wurde dadurch behindert, dass taiwanesische, niederländische, US-amerikanische und Schweizer Komponenten nicht mehr verfügbar waren. Für Russlands modernste satellitengesteuerte Tornado-Raketen fehlten Kreiselinstrumente (Gyroskope) aus US-amerikanischer Produktion. Freilich muss damit gerechnet werden, dass diese Komponenten durch Eigenproduktion, wenn auch mit möglicherweise geringerer Qualität, ersetzt und/oder durch Umgehung der Sanktionen über Drittstaaten importiert werden können. Sogar die Lieferung von eigentlich verbotenen militärischen oder dual-use-Gütern findet nach wie vor statt.
Obwohl das Ausmaß (economic impact) der 2022 gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen historisch ohne Beispiel war, blieb ihr politischer Erfolg (political success) bisher aus. Dass sie Russland zur Beendigung seines Angriffskriegs auf die Ukraine bewegen könnten, war ohnehin nicht zu erwarten gewesen, wie eine statistische Auswertung von seit 1950 verhängten Sanktionen und deren Wirkungen zeigt.
Ausblick
Ähnlich wie im Frühjahr 2022 gehen die im Frühjahr 2023 veröffentlichten Prognosen weit auseinander. Die European Bank for Reconstruction and Development (EBRD) sieht in ihrem Ausblick vom Februar für 2023 einen weiteren Rückgang des BIP Russlands um drei Prozent voraus und erwartet erst für 2024 ein schwaches Wirtschaftswachstum um ein Prozent. Die von der Zentralbank Russlands im Februar 2023 publizierten »Expertenschätzungen« bewegten sich im Bereich von –6,5 bis +0,4 Prozent mit einem Medianwert von –2,5 Prozent.
Das Russlandteam des BOFIT-Instituts der Bank of Finland erwartet für 2023 einen weiteren Rückgang des BIP Russlands um zwei Prozent, der vor allem durch eine Verminderung des Nettoexports hervorgerufen werden wird.
Der Internationale Währungsfond (IWF) rechnete Ende Januar 2023 mit einem Wirtschaftswachstum von 0,3 Prozent und für 2024 mit 2,1 Prozent.
Die Redakteure der Wirtschaftszeitschrift »Expert« Tatjana Gurowa und Petr Skorobogaty halten es dagegen für möglich, dass Russlands Wirtschaftsleistung ab 2023 für mehrere Jahre jährlich um 7 – 10 Prozent zunehmen wird. Größter Wachstumstreiber wird ihrer Meinung nach mit 3,5 Prozent der Ersatz von Importen durch heimische Produktion, dann folgen mit 1,5 – 2 Prozent die Steigerung der Produktion der Militärindustrie, mit 1 – 1,5 Prozent eine Verbesserung der Lebensverhältnisse u. a. durch ein Wohnungsbauprogramm, und mit jeweils 0,5 – 1 Prozent Infrastrukturinvestitionen für einen »Weg nach Osten« Richtung China sowie die Produktionszunahme in den vier von Russland zusätzlich zur Krim teilweise okkupierten und beanspruchten ukrainischen Regionen (Oblaste) Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. Die Autoren setzen dabei frei voraus, dass der Staat diese Umorientierung der Wirtschaft großzügig subventionieren kann und ignorieren die Möglichkeit eines Falls der Rohstoffpreise mit den dann eintretenden negativen Auswirkungen auf die Einnahmen der Rohstoffe exportierender Unternehmen und des Staats.
Wahrscheinlich wird jedoch der voraussichtlich fortdauernde Krieg gegen die Ukraine eine Erhöhung des staatlichen Verbrauchs und der staatlichen Investitionen (einschließlich der Waffenproduktion) mit sich bringen, während der private Konsum abnehmen wird. Auch der Spielraum der Investitionen für zivile Zwecke wird geringer werden. Russlands Volkswirtschaft wird sich so zunehmend in eine Kriegswirtschaft verwandeln, die zwar nicht kollabieren, aber langfristig von Stagnation geprägt sein wird.
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Die Zeitschrift Osteuropa veröffentliche zeitgleich eine leicht abgewandelte Version des Beitrags: Götz, Roland (2023): Kriegswirtschaft. Russlands ökonomische Entwicklung im Jahr 2022, in: Osteuropa 12/2022, Waffen, Wappen, Wirtschaft. Russlands glokaler Krieg gegen die Ukraine, S. 47–57.