Ein Moment der Selbstreflexion für Russlandstudien

Von Marlene Laruelle (George-Washington-Universität, Washington D.C.)

Russlands Krieg gegen die Ukraine kam für den Bereich der Russlandstudien einem tektonischen Beben gleich. Das Beben entspringt zu großen Teilen der Notwendigkeit, kollektiv über die systemischen Charakteristika der Disziplin, deren Verortung in der globalen Wissenschaft, die internen Schieflagen und die blinden Flecken zu reflektieren.

Das soll nicht heißen, dass die Disziplin »versagt« hätte und sich ganz einer umfassenden Selbstbezichtigung hingeben sollte. Die Russlandstudien sahen sich zum einen dem Vorwurf gegenüber, dass sie bei der »Prognostizierung des Krieges versagt« hätten. Hier ließe sich allerdings einwenden, dass Vorhersagen nicht das vorrangige Metier von Sozialwissenschaft ist – und der Umstand, dass im Feld der militärischen Studien zu Russland eine Invasion in Wirklichkeit präzise vorhergesagt wurde (https://www.foreignaffairs.com/articles/ukraine/2021-11-22/russia-wont-let-ukraine-go-without-fight).

Zweitens hat die Disziplin, wie Timothy Frye gezeigt hat (https://nationalinterest.org/feature/russian-studies-thriving-not-dying-22547), wichtige wissenschaftliche Beiträge geliefert, insbesondere wenn es um die Integration einiger Aspekte postkommunistischer oder postsowjetischer »Regionalstudien« und statistischen, experimentellen Methoden sowie jenes Segments der vergleichenden Politikwissenschaft geht, die von der Politikökonomie beeinflusst ist. Gleichwohl benötigen einige strukturelle Merkmale der Disziplin einer dringenden internen Überprüfung, insbesondere angesichts exogener Schocks (https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/1060586X.2022.2148814). Die Sonderausgabe von »Post-Soviet Affairs« vom Herbst 2022 hat die Fruchtbarkeit einer solchen Maßnahme auf herausragende Weise anschaulich gemacht (https://www.tandfonline.com/toc/rpsa20/39/1-2?nav=tocList).

Das erste Merkmal von zentraler Bedeutung ist die geografische Isoliertheit der Disziplin und die in ihr bestehende Machthierarchie. Englischsprachige Forschungen sind zumindest im sozialwissenschaftlichen Bereich weitgehend autark und verfügen nur über wenig Wissen um (oder nehmen wenigstens Bezug auf) das, was jenseits der englischsprachigen Welt produziert wird. Die spärlichen Bezüge zu russischsprachiger Literatur täuschen über den Reichtum an russischsprachigen Publikationen (https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/1060586X.2022.2164450) hinweg, der bereits durch einen Besuch eines intellektuellen Hotspots, etwa des Moskauer Buchgeschäfts Falanster offensichtlich würde – zumindest bis zum Beginn des großangelegten Krieges. Und dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, was in den regionalen Hauptstädten Russlands veröffentlicht wird, deren Publikationsmärkte von denen in Moskau und St. Petersburg entkoppelt sind. Selbst in der sogenannten westlichen Wissenschaftswelt überschreiten Publikationen auf Französisch, Deutsch und anderen Sprachen selten ihre nationalen Grenzen, um von der englischsprachigen Literatur aufgegriffen werden zu können. Im Gegensatz hierzu haben es die Geschichts- und Literaturwissenschaft besser vermocht, die Forschung vor Ort zu integrieren.

Ein zweiter Aspekt besteht darin, dass im Gegensatz zu den »Sowjetstudien« früherer Tage Sozialwissenschaftler:innen, die heute zu Russland arbeiten, nur selten angeregt werden, in einen Dialog mit den Geisteswissenschaften zu treten oder sie gar zu studieren. Wie viele der US-amerikanischen Politologen, die sich mit Russland befassen, haben wirklich Wiktor Pelewin gelesen? Globaler und struktureller gesehen (https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/1060586X.2022.2161232) haben die Sozialwissenschaften damit zu kämpfen, ihren selbsterklärten Anspruch auf Multidisziplinarität oder zumindest Interdisziplinarität in der Praxis umzusetzen. Einige Segmente der englischsprachigen politikwissenschaftlichen Forschung zu Russland haben durch eine Betonung eines Bedarfs an Forschung für eine Bestimmung der Kausalitäten (https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/1060586X.2022.2148446) dazu beigetragen, dass man sich zu sehr auf Daten aus Studien von experimentellem Zuschnitt verließ, zu Lasten einer möglichen Interaktion mit Historiker:innen, Kulturanthropolog:innen, Soziolog:innen oder Geograf:innen. Auch erfolgte hier eine weitgehende »Abschottung« innerhalb des »westlichen« und insbesondere des englischsprachigen Bereichs. Schließlich weisen russische Publikationen sehr viel tiefergreifende Ansätze auf. Und bis auf (https://blogs.gwu.edu/arcticpire/) marginale, untergeordnete Bereiche wie die russische Arktispolitik, den Klimawandel und die Politik zu den Nachhaltigkeitszielen gibt es in der englischsprachigen Forschung zwischen Gesellschaftswissenschaften, der Geografie und den Naturwissenschaften sogar noch weniger Dialog.

Ein dritter Aspekt steht im Zusammenhang mit der Abfolge der Prismen oder Objektive, die an Russland angelegt werden und die zu Verzerrungen der Analyse geführt haben. Es lassen sich wenigstens vier solcher Prismen identifizieren. Zum einen wäre da ein auf Putin konzentriertes Prisma, wodurch Russland durch die Figur des Präsidenten, über dessen beruflichen Werdegang und seine engere Umgebung betrachtet wird. Dabei wird versucht, Putins ideologische Gurus auszumachen, seine angeblich »irrationale Geisteshaltung« zu beleuchten oder eine rein instrumentalistische Analyse des Regimes vorzulegen.

Das zweite Prisma ist eine moskauzentrierte Sicht auf Russland, bei der die Hauptstadt und ihre relativ liberal eingestellten Bewohner:innen andere, regionale Sichtweisen verdecken, die oft ideologisch vielfältiger und im Allgemeinen nuancenreicher sind. Ebenso werden international gut vernetzte russische Wissenschaftler:innen aus den beiden Hauptstädten häufig als die einzigen legitimen »Stimmen Russlands« betrachtet – weil sie die einzigen sind, die man im Westen kennt. Und weil sie in der Lage sind, dessen Sprache zu sprechen, und zwar buchstäblich wie im übertragenen Sinne.

Drittens gibt es eine ethnisch russisch ausgerichtet Betrachtung Russlands, bei der die ethnischen Minderheiten, zu denen in den 1990er Jahren noch so intensiv geforscht wurde, nun zu einem der blinden Flecken der Forschung geworden sind. Das trägt zu den Schwierigkeiten bei, potenziell »versteckte Skripte« von Ressentiment zu erfassen. Dies wird durch die im Westen allgemein mangelnden Kenntnisse der nichtrussischen Sprachen des Landes verschlimmert. Zudem wird die Identitätspolitik der Minderheiten marginalisiert und als »untergeordneter Bereich« betrachtet, der die allgemeinen Merkmale Russlands nicht erklären kann.

Und schließlich wird Russland, dessen Regime und seiner Gesellschaft ein auf den Westen zentriertes Prisma auferlegt, durch das diese stets mit dem Westen verglichen werden, die dadurch als offensichtlicher normativer Maßstab dienen. Durch diesen Ansatz, der den Westen als einzigen Spiegel für Russland annimmt, werden Sichtweisen auf Russland aus nichtwestlicher Perspektive unverhohlen ausgeschlossen. Wissenschaftler:innen aus Nachbarländern Russlands verlangen zunehmend, als Akteur:innen anerkannt zu werden, die Russland aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen interpretieren können. Auch Wissenschaftler:innen aus dem globalen Süden betrachten Russland und den Westen durch ihre eigenen Prismen und aufgrund eigener Erfahrungen, unter anderem mit einem eindringlich postkolonialen Ansatz.

Wie und wohin soll es weitergehen? Ein erster Schritt wäre, die wissenschaftlichen Ungleichheiten bei der Wissensproduktion (von denen es viele gibt) einzugestehen. Der offensichtlichste Ausgangspunkt ist wohl, dass einheimische Wissenschaftler:innen und vor Ort produzierte Arbeiten als sehr wichtige Ergänzungen für die Disziplin anerkannt werden, die nicht ignoriert werden können. Es bestehen aber auch andere Wissenshierarchien: die von englischsprachigen Arbeiten über nichtenglischsprachige, von westzentrierten Sichtweisen über jene aus der postsowjetischen Welt und dem globalen Süden; von der Politikwissenschaft – der Königsdisziplin, von der das (westliche) Verständnis von Russlands Regimes und Gesellschaft entwickelt wird – über die Soziologie, die Kulturanthropologie, die Geschichts- und Geisteswissenschaften.

Ein zweiter Schritt wäre es, feinmaschigere und »Graswurzel«-Ansätze vorzuziehen, die ein dichteres konzeptionelles Wissen ermöglichen. Die Sonderausgabe von »Post-Soviet Affairs« weist uns hier den Weg. Es würde unter anderem folgendes bedeuten: die Fragen zu ändern, die wir stellen; sich der Fragen bewusst zu sein, die mit aggregativen Ansätzen zusammenhängen und auch mit der Notwendigkeit, Umfragedaten mit qualitativer Analyse zu kombinieren (https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/1060586X.2022.2151767); zu lange vernachlässigten ethnografischen Methoden zurückzukehren (https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/1060586X.2022.2151275); gesellschaftliche Transformationen über Generationen hinweg zu betrachten (https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/1060586X.2022.2147382); vulnerable Teile (soziale (https://postsocialism.org/author/jeryoma/) und ethnische (https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/1060586X.2022.2156222) Gruppen der Bevölkerung stärker in den Blick zu nehmen; Anleihen bei der Sozialpsychologie (https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/1060586X.2022.2152261) zu machen, um auf Ressentiments gegründete Politik und kollektive Emotionen zu untersuchen; und sich für neue komparative Rahmen öffnen.

Für den Bereich der Russlandstudien ist es eine Zeit der Transformation. Russlandforscher:innen haben die Gelegenheit – und die Pflicht –, sowohl die systemischen Eigenschaften ihrer Disziplin zu überdenken, als auch dazu beizutragen, dass die Objektive, durch die Russland betrachtet wird, sich ändern. Und zwar in der Hoffnung, einen bescheidenen Beitrag für neue Wege hin zu einer friedlichen Koexistenz der Nationen zu leisten, die sich den europäisch-asiatischen Kontinent teilen.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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